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»Historischer Moment« der Entrechtung und Abschottung
Bis spät in die Nacht tagten Kanzler Scholz und die Ministerpräsident*innen. Dabei herausgekommen ist ein Programm der verschärften sozialrechtlichen Ausgrenzung. Zudem soll die Bundesregierung prüfen, ob Asylverfahren außerhalb Europas durchgeführt werden können – und sich so den rechten Hardlinern in der EU anschließen.
Je später die Nacht, desto schlimmer die Beschlüsse – so kann man größtenteils die Einigung beschreiben, die in der Nacht vom 6. auf den 7. November 2023 zwischen Bundeskanzler Scholz und den Ministerpräsident*innen der Bundesländer zustande gekommen ist. Anstatt eine zukunftsfähige Asyl‑, Aufnahme- und Integrationspolitik zu gestalten – wie vor dem Gipfel von einem zivilgesellschaftlichen Bündnis mit einem Fünf-Punkte-Plan gefordert – wird die aktuelle Politik der Ausgrenzung, Abschiebung und Abschottung weiter gestärkt. Bundeskanzler Scholz nennt die Einigung gar einen »historischen Moment«.
Senkung der Zahlen – um welchen Preis?
»Der Bundeskanzler und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder sind sich einig, dass die Zahl der im Wege der Fluchtmigration nach Deutschland Kommenden deutlich und nachhaltig gesenkt werden muss« (Seite 3 der Beschlüsse).
Die Senkung der Zahlen in Deutschland schutzsuchender Menschen ist eindeutig das Hauptcredo der Beschlüsse der Ministerpräsident*innen und des Kanzlers. Völlig aus dem Blick gerät dabei, dass weiterhin 70 Prozent der in Deutschland schutzsuchenden Menschen bei inhaltlicher Prüfung ihres Asylantrags einen Schutzstatus erhalten. Die Maßnahmen richten sich also auch klar gegen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und schweren Menschenrechtsverletzungen fliehen – etwa aus Syrien, Afghanistan und der Türkei als Hauptherkunftsländern.
Damit sind auch Formulierungen, die suggerieren, es gehe nur darum, dass weniger Menschen ohne Bleibeperspektive nach Europa kommen sollen, Augenwischerei. Denn auch die Asylgrenzverfahren und Kooperationen mit angeblich sicheren Drittstaaten, die im Rahmen der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) angestrebt werden, würden schutzberechtigte Menschen massiv treffen, wie PRO ASYL schon mehrfach dargelegt hat. Genau diese Reform soll die Bundesregierung laut den Beschlüssen vorantreiben.
Gefährlicher Fokus auf Auslagerung von Asylverfahren
Außerdem wurde folgender Prüfauftrag erteilt: »Die Bundesregierung wird prüfen, ob die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Transit- oder Drittstaaten erfolgen kann« (Seite 4 der Beschlüsse). PRO ASYL hält diese Aufforderung für brandgefährlich für den Flüchtlingsschutz. Rechtspopulistische europäische Regierungen springen vermehrt auf solche Ansätze, um sich dem Flüchtlingsschutz zu entziehen. Diese Aufforderung hatte insbesondere der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Hendrik Wüst, mit Unterstützung selbst des Grünen-Landeschefs Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg, durchgedrückt – und Kanzler Olaf Scholz brach dann laut Medienberichten den Widerstand aus den SPD-geführten Ländern.
Wie die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und dem britischen Supreme Court zum UK-Ruanda-Deal zeigen, stehen solchen Kooperationen auch massive menschenrechtliche Bedenken entgegen. UNHCR äußerte sich zum UK-Ruanda-Deal wie folgt: »UNHCR ist strikt gegen Vereinbarungen, die darauf abzielen, Flüchtlinge und Asylsuchende in Drittländer zu überstellen, wenn keine ausreichenden Garantien und Schutzstandards vorhanden sind. Solche Vereinbarungen verlagern lediglich die Zuständigkeiten im Asylbereich, entziehen sich internationalen Verpflichtungen und stehen im Widerspruch zu den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention«. Andere Modelle haben bereits zu immensem Leid und Menschenrechtsverletzungen geführt, wie die »pazifische Lösung« Australiens in Nauru oder der EU-Türkei-Deal auf den griechischen Inseln.
Der EU-Türkei Deal soll nach dem Willen der MPK sogar wieder gestärkt werden (Seite 5 der Beschlüsse). Es ist eine gefährliche Illusion, dass solche Kooperationen menschenrechtskonform ausgestaltet werden können. So werden aber auch für andere Aufgaben notwendige Ressourcen in entsprechende Pläne und Verhandlungen gesteckt. Zudem laufen diese Verhandlungen nicht selten mit autokratischen Regierungen und Unterdrückerstaaten, die durch die Deals mit Deutschland oder der EU auch noch legitimiert werden.
Weiterhin kein voller Familiennachzug für Bürgerkriegsflüchtlinge
Besonders bitter ist, dass eines der Hauptversprechen des Koalitionsvertrags im Bereich Flucht und Asyl gebrochen werden soll, nämlich Bürgerkriegsflüchtlingen – sogenannte subsidiär Schutzberechtigten – endlich wieder einen vollen Familiennachzug zu gewähren (Seite 6 der Beschlüsse). Dabei ist der Familiennachzug nicht nur Teil des Menschenrechts auf Familienleben, sondern auch zentral für das Ankommen und die Integration der Menschen in Deutschland. Denn wie soll man sich auf Sprachkurse und Arbeit konzentrieren, wenn man daran verzweifelt, seine Familie nicht nach Deutschland holen zu können?
Wenig überraschend gehört die Verlängerung der EU-Binnengrenzkontrollen zu Österreich, zur Schweiz, zur Tschechischen Republik und zu Polen zu den beschlossenen Maßnahmen – obwohl bei laut EU-Recht bei asylsuchenden Personen gerade keine Zurückweisungen stattfinden dürfen, auch wenn sie schon in anderen EU-Mitgliedstaaten registriert wurden. Denn hier muss die sogenannte Dublin-III-Verordnung befolgt werden und eine entsprechende Prüfung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlings erfolgen (siehe hier für eine Einordnung).
Einsparungen auf Kosten von Menschenwürde und Gesundheit
Einigungen gab es auch bei den schon jetzt geringen Sozialleistungen für Geflüchtete. Die Anwendung der diskriminierenden und verfassungsrechtlich fragwürdigen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz soll von bisher maximal anderthalb Jahren (18 Monate) auf drei Jahre (36 Monate) angehoben werden (Seite 11 der Beschlüsse). Das bedeutet auch, dass die betroffenen Menschen drei Jahre lang von der regulären Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind.
Die Menschenwürde gilt für alle – auch für Geflüchtete!
Gegen genau solche Verschärfungen und das diskriminierende Gesetz an sich hatte sich zuletzt eine Woche vor dem Treffen ein breites Bündnis aus über 150 Organisationen ausgesprochen. Auch hier hält sich die Koalition wieder nicht an ihren Koalitionsvertrag: Dort hatte die Ampel 2021 zumindest angekündigt, das Asylbewerberleistungsgesetz »im Lichte des Bundesverfassungsgerichts« zu überarbeiten. Dies ist bislang nicht geschehen.
Die einfachste und menschenwürdigste Lösung wäre: Die Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes und die Eingliederung der Betroffenen ins reguläre Sozialhilfesystem. Stattdessen soll aber der ohnehin mangelhafte Status Quo noch verschlechtert werden. Menschen werden so zwar in Deutschland gedemütigt, lassen sich damit aber dennoch nicht von der Flucht vor Krieg und Vertreibung oder vor Obdachlosigkeit in anderen Teilen Europas abhalten. Wissenschaftliche Untersuchungen wie zum Beispiel die des Bundesamtes zeigen, dass Flüchtende den Zielstaat, in den sie fliehen, nicht nach dessen Sozialleistungssystem wählen, sondern nach den Kriterien Rechtsstaatlichkeit, Vorhandensein von Freunden, Familie und Arbeitsmarktbedingungen.
Ineffektiver Ansatz für beschleunigte Asylverfahren
Ein Problem in der Asylpolitik sind sicherlich die langen Asylverfahren, welche für geflüchtete Menschen eine Zeit der Unsicherheit und psychischer Belastung darstellen. Zudem hat der Status Auswirkungen auf die Arbeitserlaubnis und verhindert die freie Wohnsitzwahl. Nach dem langen Asylverfahren folgt nicht selten ein langes Gerichtsverfahren, wenn Geflüchtete nach der Ablehnung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gegen die Entscheidung klagen – eine nachvollziehbare Entscheidung, da im vergangenen Jahr circa 30 Prozent vor Gericht einen Schutzstatus zugesprochen bekommen, welcher ihnen vorher vom BAMF verweigert worden war.
Ziel von Bund und Ländern ist nun, das Asyl- und das anschließende Gerichtsverfahren jeweils in drei Monaten abzuschließen (Seite 6 der Beschlüsse) und hierfür organisatorisch und personell aufzustocken. Gerade für die Beschleunigung an den Gerichten wäre es hilfreich, wenn die BAMF-Entscheidungen weniger fehlerhaft wären und die Geflüchteten nicht so häufig klagen müssten. Mit einer verbesserten Schulung für Entscheider*innen und einer besseren Vorbereitung der Geflüchteten auf das Verfahren gäbe es viel weniger Gerichtsverfahren im Anschluss an das eigentliche Asylverfahren.
Zusätzlich wird jetzt die Einstufung von Georgien und Moldau als »sichere Herkunftsstaaten« als Lösung für schnellere Asylverfahren präsentiert. Dies ist jedoch nach Ansicht von PRO ASYL nicht nur realitätsfern, denn schon heute dauern die Verfahren von Menschen der zwei Herkunftsländer nur sehr kurz, sondern zudem rechtlich höchst fragwürdig.
Beschleunigung und Digitalisierung auch der übrigen Verfahren
Auch die Beschleunigung der Verfahren in den Ausländerbehörden, unter anderem durch vermehrte Digitalisierung, ist Teil der Beschlüsse (Seite 7). Grundsätzlich begrüßt PRO ASYL eine schnellere Bearbeitung der Anliegen von Geflüchteten in den Behörden und hat selbst Anfang des Jahres entsprechende Vorschläge gemacht. Jedoch darf die Digitalisierung nicht nur in die eine Richtung erfolgen (besserer Datenaustausch zwischen den Behörden), sondern muss auch den Menschen selbst zu Gute kommen, zum Beispiel in Form von digitalen Anträgen für neue Aufenthaltstitel oder Arbeitserlaubnisse.
Auch Bund und Länder haben erkannt, dass eine schnelle Arbeitsaufnahme von geflüchteten Menschen langfristig für ein viel besseres Ankommen und eine stärkere Teilhabe in der Gesellschaft sorgt. Deshalb soll diese zukünftig schneller ermöglicht werden (Seite 12 der Beschlüsse). Jedoch nur für Menschen mit einer »rechtlich gesicherten Bleibeperspektive«. Was dies jedoch genau in der Realität bedeutet, bleibt unklar. Nach Einschätzung von PRO ASYL würde sich eine tatsächliche Verbesserung ergeben, wenn auf Arbeitsverbote beziehungsweise Einschränkungen der Beschäftigungserlaubnis gänzlich verzichtet werden würde, sowohl während als auch nach abgeschlossenem Asylverfahren. Denn viele der Menschen, denen der Bund eine Bleibeperspektive abspricht, bleiben am Ende aus guten Gründen trotzdem in Deutschland und haben wertvolle Zeit vertan, in der sie hätten arbeiten können.
Unterstützung der Kommunen bei der Unterbringung
Die von PRO ASYL bereits mehrfach geforderte Pro-Kopf-Pauschale vom Bund an die Kommunen findet nun Einzug in die aktuellen Beschlüsse (Seite 14). Eine Unterstützung der Kommunen bei der Unterbringung durch den Bund ist grundsätzlich zu begrüßen. Jedoch wäre es, nach Einschätzung von PRO ASYL, zusätzlich wichtig, endlich die restriktiven bundesrechtlichen Regelungen zur Verteilung der Geflüchteten, Wohnverpflichtung in Sammelunterkünften und zur Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge zu überarbeiten. Durch das starre System werden Kommunen und Unterbringungsstrukturen unnötig belastet und Menschen, die privat wohnen könnten, gezwungen, in überfüllten Wohnheimen zu leben. Mit einem flexiblen System könnte hier der angespannten Unterbringungssituation sofort Abhilfe geschaffen werden.
Immer neue Verschärfung rund um Abschiebungen
Immer neue Vorschläge zu mehr Abschiebungsmöglichkeiten sind seit einigen Monaten der Dauerbrenner in der Bundespolitik. Ihnen wurde zuletzt ein ganzes Gesetz gewidmet.
PRO ASYL hat bereits etliche male auf die komplett realitätsferne Debatte hingewiesen, welche Abschiebungen als vermeintliche Lösung für überlastete Kommunen und Behörden präsentiert. So kann sie auch bei den aktuellen Beschlüssen nicht fehlen (Seite 9). Es wird auf den neuen Gesetzentwurf zu Abschiebungen verwiesen und zudem vorgeschlagen, neue Einrichtungen für Abschiebungen direkt an den großen deutschen Flughäfen einzurichten. Außerdem wird die im Dezember tagende Innenministerkonferenz darum gebeten zu prüfen, ob es nicht noch weitere Verschärfungsmöglichkeiten gibt. Der Überbietungswettbewerb an rechtlich fragwürdiger und schlechten Ideen wird absehbar also weiter gehen.
(wj,nb)