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Gott sei Dank überlebt: Flüchtlinge nach der Ankunft auf Lesbos. Doch die Verhältnisse, in denen die Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln stranden, sind menschenunwürdig - die Fluchtroute über die Balkanstaaten nach Zentraleuropa strapaziös und gefährlich. Foto: Björn Kietzmann

Weiterhin erreichen täglich tausende Flüchtlinge die griechischen Inseln. Die humanitäre Lage vor Ort ist katastrophal, die Verzweiflung der festsitzenden Flüchtlinge groß. Anstatt die Aufnahmestrukturen im krisengeschüttelten Griechenland zu unterstützen, fließen europäische Gelder größtenteils in Abwehrmaßnahmen. Inzwischen steigt die Todesrate in der Ägäis dramatisch.

Fast täg­lich kommt es aktu­ell zu schwe­ren Boots­un­glü­cken in der Ägä­is. Ins­ge­samt sind UNHCR zufol­ge sind in 2015 bis­her rund 2.900 bei der Über­fahrt über das Mit­tel­meer ums Leben gekom­men. Der tür­ki­sche Vize-Minis­ter­prä­si­den­ten Numan Kurt­ul­mus geht von mehr als 270 Flücht­lin­gen aus, die seit Jah­res­be­ginn vor der Küs­te sei­nes Lan­des ertrun­ken sind. Medi­en­be­rich­ten zu Fol­ge sind allein seit Anfang August 2015 mehr als 100 Men­schen auf der Flucht über die Ägä­is gestor­ben, wei­te­re gel­ten als vermisst.

Allein am Sonn­tag den 20. Sep­tem­ber, kam es zu zwei Schiffs­brü­chen: vor dem west­tür­ki­schen Can­ak­ka­le ist ein Flücht­lings­boot mit einem Han­dels­schiff zusam­men­ge­sto­ßen und gesun­ken. Min­des­tens 13 Men­schen ertran­ken unter ihnen vier Kin­der. 13 wei­te­re Per­so­nen gel­ten als ver­misst, 20 Flücht­lin­ge konn­ten geret­tet wer­den. Das Boot befand sich auf dem Weg nach Les­bos. Auch dort sank in der Nähe der Küs­te, eben­falls am Sonn­tag, ein Boot. 26 Per­so­nen wer­den ver­misst, 20 Men­schen konn­ten geret­tet wer­den. Das Team von RSPA steht den Über­le­ben­den zur Sei­te, über­setzt für sie im Kran­ken­haus und unter­stützt die Suche nach Vermissten.

Nahe der tür­ki­schen Küs­te bei Datça/Muğla kam es am Mon­tag, den 14. Sep­tem­ber zu einer töd­li­chen Boots­ka­ta­stro­phe, bei der min­des­tens 22 Flücht­lin­ge ums Leben kamen – dar­un­ter vier Kin­der und elf Frauen.

Am Sonn­tag, den 13. Sep­tem­ber ereig­ne­te sich eine der bis­her dra­ma­tischs­ten Boots­ka­ta­stro­phe in die­sem Jahr: Min­des­tens 34 Flücht­lin­ge ertran­ken, dar­un­ter vier Babys und zehn Klein­kin­der. Der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che zufol­ge konn­ten 68 Men­schen geret­tet wer­den, wei­te­re 30 konn­ten sich schwim­mend an die Küs­te der grie­chi­schen Insel Farm­a­ko­ni­si ret­ten. Die meis­ten Flücht­lin­ge kamen aus Syrien.

Auch das scho­ckie­ren­de Bild des klei­nen leb­lo­sen Jun­gen am Strand von Bodrum ging durch die Medi­en und lös­te welt­weit Erschüt­te­rung und Wut aus. In der Nacht zum 2. Sep­tem­ber 2015 kam es zu einer töd­li­chen Kata­stro­phe nahe der tür­ki­schen Küs­te. Tür­ki­sche Beam­te berich­te­ten, dass das Flücht­lings­boot mit 23 Men­schen an Bord kurz nach Abfahrt von Akyarlar nahe von Bodrum ken­ter­te. Min­des­tens zwölf Men­schen kamen ums Leben, dar­un­ter fünf Kin­der und eine Frau. Sie­ben Flücht­lin­ge wur­den geret­tet und zwei konn­ten sich mit Schwimm­wes­ten an die Küs­te ret­ten. Zwei wei­te­re Men­schen wer­den ver­misst. Die Flücht­lin­ge aus Syri­en hat­ten ver­sucht, die grie­chi­sche Insel Kos zu erreichen.

Bis im August war die Zahl der Ankom­men­den so hoch wie die Gesamt­zahl der­je­ni­gen, die im Vor­jahr ver­sucht hat­ten, über das Mit­tel­meer die euro­päi­schen Küs­ten zu errei­chen (219.000). Nach Anga­ben der EU-Grenz­agen­tur Fron­tex sind allein in der letz­ten August­wo­che über 23.000 Flücht­lin­ge auf den grie­chi­schen Inseln ange­kom­men. An ein­zel­nen Tagen kamen mehr als 4.000 Schutz­su­chen­de an. Der UNHCR rech­net mit einem wei­te­ren Anstieg der Ankunfts­zah­len im Herbst.

Die meis­ten zie­hen bis­lang nach weni­gen Tagen wei­ter über den Bal­kan Rich­tung Nord­eu­ro­pa. Die unga­ri­sche Regie­rung hat ange­kün­digt, ab dem 15. Sep­tem­ber Mili­tär an die Süd­gren­ze des Lan­des zu schi­cken, um die Ankunft wei­te­rer Flücht­lin­gen zu ver­hin­dern. Tau­sen­de Asyl­su­chen­de wür­den ver­mut­lich in Grie­chen­land hän­gen blei­ben und ihre Rei­se nach Mit­tel­eu­ro­pa nicht fort­set­zen können.

Situa­ti­on auf den Inseln wei­ter­hin dramatisch

Der grie­chi­schen Regie­rung man­gelt es an Gel­dern für die Auf­nah­me der Flücht­lin­ge. Weder funk­tio­niert die Erst­auf­nah­me und Regis­trie­rung, es gibt bei Wei­tem nicht aus­rei­chend offe­ne Unter­künf­te für Asyl­su­chen­de und beson­ders ver­letz­li­che Gruppen.

Wäh­rend über die von der EU bereit­ge­stell­ten finan­zi­el­len Mit­tel für die Auf­nah­me der Flücht­lin­ge wei­ter­hin Unklar­heit herrscht, hat die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on ent­schie­den, die Gel­der für die FRONTEX Ope­ra­ti­on in Grie­chen­land auf einen Betrag von 18 Mil­lio­nen zu ver­drei­fa­chen. Doch dies rei­che bei wei­tem nicht aus, so die Agen­tur. Trotz Auf­ru­fe an die Mit­glied­staa­ten habe Fron­tex noch nicht alle not­wen­di­gen „ope­ra­ti­ven Mit­tel“ erhal­ten. Für die grie­chi­schen Inseln benö­ti­ge Fron­tex Flug­zeu­ge und Schif­fe, vor allem aber Grenz­schüt­zer, um die Per­so­na­li­en der Flücht­lin­ge aufzunehmen.

Im Rah­men der Ver­län­ge­rung der Fron­tex-Ope­ra­ti­on Posei­don befin­den sich inzwi­schen Fron­tex-Beam­te auf den Ägä­is-Inseln Kos und Les­bos. An Land und auf See patrouil­lie­ren die Grenz­be­am­ten der Mit­glied­staa­ten zusam­men mit der grie­chi­schen Poli­zei und Küs­ten­wa­che. Ihr Auf­trag lau­tet die Flücht­lin­ge vor Betre­ten grie­chi­schen Ter­ri­to­ri­ums zu loka­li­sie­ren, um sofort die tür­ki­sche Küs­ten­wa­che zu infor­mie­ren, um den Grenz­über­tritt zu verhindern.

Fast täg­lich kommt es aktu­ell zu schwe­ren Boots­un­glü­cken in der Ägä­is. Ins­ge­samt sind UNHCR zufol­ge sind in 2015 bis­her rund 2.900 bei der Über­fahrt über das Mit­tel­meer ums Leben gekom­men. Der tür­ki­sche Vize-Minis­ter­prä­si­den­ten Numan Kurt­ul­mus geht von mehr als 270 Flücht­lin­gen aus, die seit Jah­res­be­ginn vor der Küs­te sei­nes Lan­des ertrun­ken sind. Medi­en­be­rich­ten zu Fol­ge sind allein seit Anfang August 2015 mehr als 100 Men­schen auf der Flucht über die Ägä­is gestor­ben, wei­te­re gel­ten als vermisst.

Ankünf­te neh­men wei­ter zu

Gleich­zei­tig sind die Ankunfts­zah­len Schutz­su­chen­der so hoch wie lan­ge nicht mehr. Laut Anga­ben von UNHCR sind in Grie­chen­land von Anfang des Jah­res bis zum 14. Sep­tem­ber 2015 288.020 Schutz­su­chen­de ange­kom­men. Haupt­an­kunfts­or­te im Zeit­raum 1. Janu­ar 2015 bis 23. August 2015 sind die Inseln Les­bos (94.134), Chi­os (28.928), Kos (27.991), Samos (25.596) und Leros / Farm­a­ko­ni­si (9.988). Die meis­ten Flücht­lin­ge kom­men aus dem von Krieg erschüt­ter­ten Syri­en, vie­le ande­re aus Bür­ger­kriegs- und Kri­sen­re­gio­nen wie Afgha­ni­stan, Irak und Somalia.

Auf der Insel Les­bos kom­men täg­lich etwa 2000 Schutz­su­chen­de an. Am 29. August waren es 100 Boo­te mit mehr als 4.000 Flücht­lin­gen. Am 1. Sep­tem­ber spra­chen die grie­chi­schen Behör­den von etwa 15.000 Flücht­lin­gen auf der Insel mit einer Bevöl­ke­rung von 85.000, eine Woche spä­ter von 20.000 und bis Mon­tag den 7. Sep­tem­ber stieg die Zahl auf 30.000, so die Lokal­me­di­en. Auf der Insel herrscht der Aus­nah­me­zu­stand. Unse­re Kol­le­gIn­nen vom RSPA-Pro­jekt (Refu­gee Sup­port Pro­gram Aege­an) berich­ten: Es gibt wei­ter­hin kei­ne aus­rei­chen­den Auf­nah­me­struk­tu­ren und kei­ne ange­mes­se­ne Grundversorgung.

Ledig­lich die Pro­ze­dur der Regis­trie­rung wur­de nach Tagen eska­lie­ren­der Gewalt, in denen sich Tau­sen­de obdach­lo­se Schutz­su­chen­de auf der Insel gestaut hat­ten, ver­ein­facht und ist seit­dem schnel­ler. Die Lage ent­spann­te sich kurz­fris­tig etwas. Bis­lang sind jedoch noch kei­ne lang­fris­ti­gen Lösun­gen gefun­den wor­den, um die vie­len Neu­an­kom­men­den vor­läu­fig unter­zu­brin­gen. Eine erneu­te Anstau­ung hun­der­ter bis tau­sen­der unre­gis­trier­ter Schutz­su­chen­der steht bevor, wer­den nicht zügig ander­wei­tig Lösun­gen gefunden.

Am 11. August kam es auf der Insel Kos zu Zusam­men­stö­ßen mit der Poli­zei, als 2.000 Flücht­lin­ge und Migran­ten zur Regis­trie­rung in ein Fuß­ball­sta­di­on gebracht wur­den. Auf­grund der lang­sam ver­lau­fen­den Regis­trie­rung befan­den sich inzwi­schen rund 7.000 Flücht­lin­ge auf der Insel. Erst nach­dem die Situa­ti­on eska­lier­te wur­den Fäh­ren orga­ni­siert, um die Men­schen nach Athen fah­ren zu las­sen. Hun­der­te Men­schen hat­ten wochen­lang am Strand oder auf der Stra­ße über­nach­tet. Das ver­las­se­ne Hotel „Cap­tain Ili­as“, in dem bis­her zahl­rei­che ankom­men­de Flücht­lin­ge unter kata­stro­pha­len Bedin­gun­gen unter­ge­bracht wor­den waren, wur­de am 10. Sep­tem­ber geräumt. Seit der Schlie­ßung des Hotels gibt es auf der Insel kei­ne Unter­brin­gungs­mög­lich­keit mehr für Neu­an­kom­men­de. Die Schutz­su­chen­den schla­fen in Parks und auf der Straße.

Anfang Sep­tem­ber kam es zu Angrif­fen von Rechts­extre­men auf Flücht­lin­ge vor der Poli­zei­sta­ti­on und ent­lang des Hafens. Die Poli­zei setz­te Trä­nen­gas ein. Nach dem Schiff­un­glück vor Kos Anfang Sep­tem­ber, als das Foto der ange­schwemm­ten Lei­che eines drei­jäh­ri­gen Flücht­lings­jun­gen Aylan die Welt­öf­fent­lich­keit erschüt­tert hat­te, zeich­ne­te sich eine Redu­zie­rung der Ankünf­te von Flücht­lin­gen auf Kos ab. Es ist zu ver­mu­ten, dass die Kon­trol­len auf der tür­ki­schen Sei­te nach den tra­gi­schen Todes­fäl­len zuge­nom­men haben.

Grenz­ab­schot­tung statt Aufnahmeinfrastruktur

Die letz­ten Mona­te zei­gen: Flücht­lin­ge wer­den durch Grenz­kon­trol­len nicht davon abge­hal­ten, Schutz zu suchen. Es müs­sen end­lich lega­le Wege für Flücht­lin­ge geöff­net wer­den – die Zahl der Toten an Euro­pas Gren­zen in den ers­ten acht Mona­ten mit 2.900 Todes­fäl­len so hoch ist wie noch nie. Inzwi­schen debat­tiert man in Euro­pa ohne spür­ba­re Ergeb­nis­se über wei­te­re Umver­tei­lungs­plä­ne und dar­über, Flücht­lin­ge an soge­nann­ten „Hot­spots“ an den Außen­gren­zen fest­zu­set­zen. Mit der tem­po­rä­ren Wie­der­ein­füh­rung von Kon­trol­len an den Bin­nen­gren­zen haben sich die euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs – allen vor­an die Bun­des­re­gie­rung –  weit­ge­hend von Schen­gen ver­ab­schie­det. Um die Rei­se­frei­heit inner­halb Euro­pas wie­der her­zu­stel­len setzt die EU nun dar­auf, die Außen­gren­zen abzu­rie­geln. Dies lässt befürch­ten, dass die Zahl der Toten an den Außen­gren­zen wei­ter steigt.

End­sta­ti­on Ido­me­ni  (25.11.15)

„Da wei­ter­ma­chen, wo alle ande­ren auf­hö­ren“ – RSPA-Mit­ar­bei­te­rIn­nen berich­ten (01.10.15)

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