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Oktober 2021: Vasilis Papadopoulos (GCR-Präsident), Eleni Spathana (RSA) und Vassilis Papastergiou (Anwalt) reichen die Klage zur Annulierung der Ministerialentscheidung beim griechischen Council of State ein. Foto: RSA

Das oberste griechische Gericht hat verkündet: Die Türkei ist für Flüchtlinge kein sicherer Drittstaat. Refugee Support Aegean (RSA), die Schwesterorganisation von PRO ASYL, hatte gemeinsam mit dem griechischen Flüchtlingsrat geklagt. Für sie bedeutet das Urteil einen Erfolg auf ganzer Linie. Ein Interview mit der Anwältin Eleni Spathana von RSA.

Das obers­te grie­chi­sche Gericht, der Coun­cil of Sta­te, hat am 21. März ein weg­wei­sen­des Urteil gefällt: Die Tür­kei ist kein siche­rer Dritt­staat für Flücht­lin­ge. War­um ist die­ses Urteil so wichtig?

Das aktu­el­le Urteil aus Athen ist des­halb so wich­tig, weil es die sys­te­ma­ti­sche Ver­let­zung der Men­schen­rech­te von Geflüch­te­ten, die in Grie­chen­land Schutz suchen, been­det. Es ver­rin­gert das Risi­ko der sozia­len Aus­gren­zung, der wirt­schaft­li­chen Not, der Obdach­lo­sig­keit und sogar der lan­gen Inhaf­tie­rung, die durch die Anwen­dung des Kon­zepts des »siche­ren Dritt­lan­des« ver­ur­sacht wur­den. Wir arbei­ten seit fast einem Jahr­zehnt dar­an, auf­zu­zei­gen, dass die Tür­kei für Geflüch­te­te nicht sicher ist.

Das hat nun auch das höchs­te Gericht Grie­chen­lands klar­ge­stellt.

Ja, und in Euro­pa ist es nicht das ers­te Höchst­ge­richt, das mit Blick auf das Asyl­recht dar­an erin­nert: Alle poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen und Abkom­men müs­sen die Rechts­staat­lich­keit wah­ren. Poli­tik kann nicht nach Lust und Lau­ne, nicht nach gesell­schaft­li­cher Stim­mungs­la­ge Geset­ze erlas­sen, mit denen Men­schen­rech­te mas­siv ein­ge­schränkt wer­den. Im Novem­ber 2023 hat­te bereits der obers­te Gerichts­hof des Ver­ei­nig­ten König­reichs das geplan­te Abschie­be­ab­kom­men Groß­bri­tan­ni­ens mit Ruan­da für ille­gal erklärt.

Das obers­te Gericht hat­te sich dar­auf­hin in einem Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­ren an den Euro­päi­schen Gerichts­hof (EuGH) gewandt

…und der EuGH hat die vor­ge­leg­ten Fra­gen im Okto­ber 2024 beant­wor­tet. Nun war wie­der das grie­chi­sche Gericht am Zug und hat klar­ge­stellt: Grie­chen­land darf Schutz­su­chen­de aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Paki­stan, Soma­lia und Ban­gla­desch nicht wie bis­lang üblich ohne Prü­fung ihrer Asyl­grün­de dort­hin zurückschicken.

Für Sie und das gesam­te Team von RSA ist das ein Erfolg auf gan­zer Linie. Hat Sie das Urteil über­rascht oder war der Sekt schon kaltgestellt?

Wir waren der Über­zeu­gung, dass das Recht sie­gen muss, aber erwar­tet hat­ten wir es so trotz­dem nicht. Die ent­schei­den­de Bot­schaft lau­tet: Gerech­tig­keit hat das letz­te Wort. Auch die Poli­tik und Politiker*innen müs­sen das gel­ten­de Recht respek­tie­ren und kön­nen nicht ein­fach Geset­ze außer­halb des recht­staat­li­chen Rah­mens ver­ab­schie­den und umset­zen. Das gilt für Grie­chen­land eben­so wie für die gesam­te EU.

Was bedeu­tet das Urteil kon­kret für Schutz­su­chen­de – etwa für Afghan*innen, die der­zeit die größ­te Grup­pe der Asyl­su­chen­den in Grie­chen­land darstellen?

Bis­lang waren die geflüch­te­ten Men­schen völ­lig im Unge­wis­sen: Die Tür­kei, die ohne­hin nicht sicher für sie ist, woll­te sie nicht, und in Grie­chen­land hat­ten sie kei­ne Chan­ce, weil ihr Asyl­an­trag ja sofort abge­lehnt wur­de, ohne ihn auch nur anzu­se­hen. Die schutz­su­chen­den Men­schen saßen also in der Falle.

»Geflüch­te­te wur­den gezwun­gen, jah­re­lang unter wid­rigs­ten Bedin­gun­gen in grie­chi­schen Lagern aus­zu­har­ren – ohne Lebens­per­spek­ti­ve und ohne Zugang zu Schutz und Rech­ten. Das hat jetzt mit sofor­ti­ger Wir­kung ein Ende. Alle Asyl­an­trä­ge müs­sen von nun an berück­sich­tigt und inhalt­lich geprüft werden.«

Ele­ni Spathana

Manch­mal wur­den sie inhaf­tiert, manch­mal lan­de­ten sie auf der Straße…

Ja, und zum größ­ten Teil wur­den sie gezwun­gen, jah­re­lang unter wid­rigs­ten Bedin­gun­gen in grie­chi­schen Lagern aus­zu­har­ren – ohne  Lebens­per­spek­ti­ve und ohne Zugang zu Schutz und Rech­ten. Sie wur­den ihrer ele­men­ta­ren Men­schen­rech­te beraubt. Das hat jetzt mit sofor­ti­ger Wir­kung ein Ende. Alle Asyl­an­trä­ge müs­sen von nun an berück­sich­tigt und inhalt­lich geprüft wer­den. Noch ist unklar, ob das auch rück­wir­kend gilt, ob also alle Ver­fah­ren, in denen Men­schen aus den genann­ten fünf Län­dern ohne Prü­fung ihres Asyl­an­trags abge­lehnt wur­den, neu auf­ge­rollt werden.

Das Urteil ist über Grie­chen­land hin­aus von gro­ßer Bedeu­tung. Ver­heißt es das sang- und klang­lo­se Ende des EU-Tür­kei-Deals?

Der Deal wur­de ja von der Tür­kei bereits de fac­to auf­ge­kün­digt, da sie seit 2020 offi­zi­ell kei­ne Flücht­lin­ge mehr zurück­nimmt. Alles wei­te­re müs­sen wir abwar­ten. Bis­lang gibt es von der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on mei­nes Wis­sens nach kei­ne Reak­ti­on auf das Urteil. Aber sogar die Kom­mis­si­on hat im ver­gan­ge­nen Jahr ihre Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung auf­ge­ge­ben und im Jah­res­be­richt über die Tür­kei vom 30. Okto­ber 2024 aner­kannt, dass die Tür­kei kei­ne Geflüch­te­ten zurücknimmt.

Gibt es im Urteil irgend­wel­che Schlupf­lö­cher, die es der grie­chi­schen Regie­rung erlau­ben, die kla­re gericht­li­che Ansa­ge zu umgehen?

Es ist nicht ver­wun­der­lich, dass der neue Migra­ti­ons­mi­nis­ter und die gesam­te Regie­rung nun öffent­lich behaup­ten, man wer­de ein­fach die Grün­de, war­um die Tür­kei angeb­lich sicher ist, genau­er aus­ar­bei­ten, und dann kön­ne man auch wie­der dort­hin abschie­ben. Aber so ein­fach ist das nicht. Ich sehe die­sen Schritt unse­rer Regie­rung als eine pani­sche Reak­ti­on, um Ein­druck zu schin­den. Tat­säch­lich sind die Behör­den ver­pflich­tet, dem Gerichts­be­schluss nachzukommen.

Im Gerichts­ur­teil heißt es, solan­ge die Tür­kei die Rück­kehr von Asylbewerber*innen in ihr Hoheits­ge­biet nicht akzep­tie­re, dürf­ten die Anträ­ge von Schutz­su­chen­den aus den ent­spre­chen­den Län­dern von den grie­chi­schen Behör­den »nicht als unzu­läs­sig abge­lehnt wer­den, son­dern müs­sen in der Sache selbst geprüft wer­den«. Kön­nen Sie sich vor­stel­len, dass die EU solch einen Druck auf die Tür­kei aus­übt – ver­bun­den mit finan­zi­el­len Anrei­zen – dass sie die Rück­kehr von Geflüch­te­ten akzeptiert?

Der­ar­ti­gen Druck auf die Tür­kei aus­zu­üben, hat die EU bereits in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ver­sucht – ohne Erfolg. Wir ver­trau­en auf die Tat­sa­che, dass das obers­te Gericht klar­ge­stellt hat, dass jeder (neue) Erlass sich inner­halb des Rechts­rah­mens bewe­gen muss. Soll­te das nicht gesche­hen, wer­den wir erneut kla­gen. De fac­to wird in der Begrün­dung des Urteils her­vor­ge­ho­ben, dass es nicht um die Bereit­stel­lung umfas­sen­de­rer Unter­la­gen oder die Behe­bung von Ver­wal­tungs­män­geln bei der Ein­stu­fung der Tür­kei als siche­res Dritt­land geht. Viel­mehr geht es um einen unzu­rei­chen­den Schutz der Men­schen­rech­te in der Tür­kei, wie aus den zitier­ten offi­zi­el­len Quel­len her­vor­geht und durch die jüngs­ten Ent­wick­lun­gen in der Tür­kei wei­ter bestä­tigt wird.

Nach den bei­den groß­ar­ti­gen Gerichts­ur­tei­len der ver­gan­ge­nen Woche: Kön­nen Sie sich nun zurück­leh­nen und den Erfolg genießen?

Kei­nes­falls. Wir machen wei­ter und ver­fol­gen die Ent­wick­lun­gen sehr genau. Und wir arbei­ten mit Unter­stüt­zung von PRO ASYL wei­ter an der Auf­ar­bei­tung des schreck­li­chen Schiffs­un­glücks vor Pylos. Es ist alles ande­re als eine siche­re Zeit für Flüchtlinge.

(er)