10.04.2024
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Im EU-Parlament wird die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) final beschlossen. Foto: CC-BY 2.0 / Tim Reckmann

Kinder in Haft, Asylschnellverfahren an den Außengrenzen, Abschiebungen in Länder ohne Schutz für Flüchtlinge, immer mehr Deals mit autokratischen Regierungen. Das wird bei Zustimmung des EU-Parlaments zur GEAS-Reform die Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa. PRO ASYL zeigt, was das für fliehende Menschen konkret bedeutet.

UPDATE: Das EU-Par­la­ment hat der GEAS-Reform am 10.04. zuge­stimmt.

Nach acht Jah­ren und unter­schied­li­chen Vor­schlä­gen sowie lan­ger Ver­hand­lun­gen wird die Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems (GEAS) am 10. April 2024 vor­aus­sicht­lich final durch das Euro­päi­sche Par­la­ment beschlos­sen. Durch ver­pflich­ten­de Grenz­ver­fah­ren unter Haft­be­din­gun­gen – auch für Kin­der – sowie gesenk­te Stan­dards für soge­nann­te »siche­re Dritt­staa­ten« und zusätz­li­che Ver­schär­fun­gen im Fall von »Kri­sen« stellt die Reform eine mas­si­ve Ver­schlech­te­rung des bis­he­ri­gen EU-Asyl­rechts dar. Der zustän­di­ge Aus­schuss des Euro­pa­par­la­ments hat bereits im Febru­ar 2024 dem Kom­pro­miss zuge­stimmt, den die Mit­glied­staa­ten und das Par­la­ment im Dezem­ber 2023 ver­kün­det hat­ten. Obwohl sich die Mit­glied­staa­ten mit ihren restrik­ti­ven Vor­schlä­gen in den aller­meis­ten Punk­ten durch­set­zen konn­ten, ist mit einer Mehr­heit im Par­la­ment für die Reform zu rech­nen. Gemein­sam mit 160 ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen appel­lier­te PRO ASYL am Vor­tag der Abstim­mung trotz­dem ein letz­tes Mal an das Par­la­ment, die­se Ver­schär­fung nicht mitzutragen.

Denn die Zustim­mung des Euro­pa­par­la­ments zur GEAS-Reform ist ein his­to­ri­scher Tief­punkt für den Flücht­lings­schutz in Euro­pa. Euro­pa schot­tet sich immer wei­ter ab: Zu den schon bestehen­den Zäu­nen, Mau­ern, Über­wa­chungs­tech­ni­ken und Push­backs kom­men nun noch mehr Inhaf­tie­rung und Iso­lie­rung schutz­su­chen­der Men­schen an den Außen­gren­zen und neue men­schen­rechts­wid­ri­ge Deals mit auto­kra­ti­schen Regierungen.

Was pas­siert kon­kret künf­tig mit nach Euro­pa flie­hen­den Men­schen, wenn die Ver­ord­nun­gen ab 2026 – zwei Jah­re nach Inkraft­tre­ten – ange­wen­det wer­den? Ganz genau lässt sich das nicht vor­her­sa­gen, denn schon in den letz­ten Jah­ren sind EU-Staa­ten vor allem dadurch auf­ge­fal­len, das gel­ten­de Recht falsch oder gar nicht anzu­wen­den. Auch unter­lau­fen eini­ge Regie­run­gen schon jetzt das EU-Recht, indem sie es mit neu­en Deals umge­hen wol­len – wie die ita­lie­ni­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Melo­ni mit ihrem Albanien-Deal.

Um zu ver­deut­li­chen, um wen und um was es geht, hat PRO ASYL basie­rend auf den zur Abstim­mung ste­hen­den Ver­ord­nun­gen und einer rea­lis­ti­schen Umset­zungs­pro­gno­se fol­gen­de Ein­zel­fäl­le fin­giert, die in der Aus­gangs­la­ge auf typi­schen Flucht­ge­schich­ten beru­hen. Die Anga­ben der Arti­kel und Erwä­gungs­grün­de bezie­hen sich auf die jeweils auch ver­link­ten Text­fas­sun­gen vom 9. Febru­ar 2024.

Beispiel 1: Schnellverfahren an den Außengrenzen – auch für politisch Verfolgte aus der Türkei

Bahar* enga­giert sich für die Rech­te von Kurd*innen in der Tür­kei und wird zuneh­mend von der Poli­zei unter Druck gesetzt. Als sie davon hört, dass es einen Haft­be­fehl wegen Unter­stüt­zung einer »ter­ro­ris­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on« – ein häu­fig gegen die poli­ti­sche Oppo­si­ti­on ein­ge­setz­ter Vor­wurf der poli­ti­schen Ver­fol­gung in der Tür­kei – gegen sie gibt, beschließt sie spon­tan, das Land zu verlassen.

Sie schafft es mit ihrem fünf­jäh­ri­gen Sohn trotz der wei­ter­hin ver­brei­te­ten ille­ga­len Push­backs über die Land­gren­ze nach Bul­ga­ri­en. Sie will Asyl bean­tra­gen, kommt aber zunächst in das neue Scree­ning-Ver­fah­ren. Die­ses ist nun für alle Per­so­nen vor­ge­se­hen, die an den Gren­zen auf­ge­grif­fen wer­den, ohne die Ein­rei­se­vor­aus­set­zun­gen zu erfül­len oder nach See­not­ret­tung an Land gebracht wer­den (Art. 3 Scree­ning-Ver­ord­nung). Wäh­rend des Scree­nings gel­ten Bahar und ihr Sohn als »nicht ein­ge­reist«. Sie darf des­we­gen das Scree­ning-Zen­trum an der Außen­gren­ze nicht ver­las­sen und sich nicht frei bewe­gen (Art. 4 Scree­ning-VO). In dem Zen­trum wird sie von bul­ga­ri­schen Grenzschutzbeamt*innen zu ihren per­sön­li­chen Daten befragt. Auch gibt es einen medi­zi­ni­schen Check (Art. 9 Scree­ning-VO). Nach sie­ben Tagen ist das Scree­ning vor­bei (Art. 6 Abs. 3 Screening-VO).

Da Bahar wäh­rend des Scree­nings als Tür­kin regis­triert wur­de, wird sie mit ihrem Asyl­an­trag auto­ma­tisch nach dem Scree­ning in das neue Asyl­grenz­ver­fah­ren wei­ter­ge­lei­tet. Das neue Asyl­grenz­ver­fah­ren ist ver­pflich­tend, wenn jeman­dem vor­ge­wor­fen wird, eine Gefahr für die öffent­li­che Sicher­heit zu sein oder den Behör­den zum Bei­spiel fal­sche Iden­ti­täts­do­ku­men­te vor­ge­legt zu haben – oder wenn die Aner­ken­nungs­quo­te des Her­kunfts­lan­des weni­ger als 20 Pro­zent euro­pa­weit umfasst (Art. 46 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 43 Abs. 1 lit. c, f und j Asyl­ver­fah­rens­ver­fah­rens­ver­ord­nung). Seit dem Janu­ar 2024 liegt die euro­pa­wei­te Schutz­quo­te für das Her­kunfts­land Tür­kei bei nur noch 18 Pro­zent und damit knapp unter der Schwelle.

Kei­ne Aus­nah­men vom Grenz­ver­fah­ren für Kin­der mit ihren Familien

Bahar und ihr Sohn dür­fen des­we­gen auch wei­ter­hin nicht ein­rei­sen und sind für die gesam­ten drei Mona­te des Asyl­grenz­ver­fah­rens in dem Lager an der Außen­gren­ze fest­ge­setzt (Art. 44 Abs. Abs. 2, Art. 52 Abs. 2 Asyl­ver­fah­rens­VO) – denn eine Aus­nah­me für Kin­der mit ihren Fami­li­en von der haft­ähn­li­chen Unter­brin­gung gibt es nicht. Ihr Asyl­ver­fah­ren soll ledig­lich prio­ri­siert wer­den (Art. 45 Abs. 3 Asyl­ver­fah­rens­VO). Selbst die ange­ord­ne­te Inhaft­nah­me von Kin­dern wäh­rend des Grenz­ver­fah­rens ist nicht aus­ge­schlos­sen (Art. 13 Abs. 2 der neu­en Auf­nah­me­richt­li­nie).

Statt ein regu­lä­res Asyl­ver­fah­ren zu bekom­men, müs­sen sie also ein beschleu­nig­tes Ver­fah­ren an den Außen­gren­zen durch­lau­fen – abge­schot­tet von der Außen­welt. In Bul­ga­ri­en wird die­se Art von Schnell­ver­fah­ren schon seit 2023 in einem Pilot­pro­jekt erprobt. Anwält*innen in Bul­ga­ri­en befürch­ten, dass sie durch die Reform künf­tig die Schutz­su­chen­den gar nicht mehr errei­chen und unter­stüt­zen können.

Soll­ten die bei­den im Asyl­ver­fah­ren abge­lehnt wer­den – was bei einem abseh­bar vor­ein­ge­nom­me­nen und unfai­ren Ver­fah­ren ohne aus­rei­chen­de Unter­stüt­zung trotz dro­hen­der Ver­fol­gung kei­ne Über­ra­schung wäre – kön­nen sie wei­te­re drei Mona­te an der Außen­gren­ze als »nicht-ein­ge­reist« iso­liert werden.

Für die­ses neue Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren muss­te ganz zum Schluss der Ver­hand­lun­gen noch eine eige­ne Ver­ord­nung geschaf­fen wer­den, um es rechts­si­cher zu gestal­ten. Soll­te eine Abschie­bung in der Zeit nicht erfol­gen, kann immer noch die Abschie­bungs­haft ange­schlos­sen wer­den. Die Grenz­ver­fah­ren erhö­hen damit die Gefahr, dass der Schutz­be­darf geflüch­te­ter Men­schen nicht erkannt wird und sie trotz dro­hen­der Ver­fol­gung abge­scho­ben werden.

Beispiel 2: Märchen der »sicheren Drittstaaten« – Ablehnung von Geflüchteten aus Syrien oder Afghanistan

Fadi* flieht aus Syri­en, denn er ist wegen der Unter­stüt­zung von Anti-Assad-Demos in den Fokus des Geheim­diens­tes gera­ten. Über die Tür­kei flieht er nach Grie­chen­land und schafft es, mit dem Boot auf einer grie­chi­schen Insel anzu­kom­men. Wäh­rend des Scree­nings wird Fadi auch nach sei­nem Flucht­weg gefragt, im Scree­ning-Form­blatt wird ein­ge­tra­gen, dass er sich nach sei­ner Flucht aus Syri­en kurz in der Tür­kei auf­ge­hal­ten hat (Art. 13 Scree­ning-VO). Des­we­gen wird Fadi in das Lager neben­an ver­legt, für ein Asyl­ver­fah­ren ein­rei­sen darf er nicht. Denn in Grie­chen­land gilt die Tür­kei wei­ter­hin als »siche­rer Dritt­staat«, laut der Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung kön­nen Mit­glied­staa­ten die Grenz­ver­fah­ren auch zum Bei­spiel auf Per­so­nen anwen­den, die über »siche­re Dritt­staa­ten« geflo­hen sind (Erwä­gungs­grund 60, Art. 44 AsylverfahrensVO).

Die Tür­kei gilt seit 2016 für Syrer*innen in Grie­chen­land als »siche­rer Dritt­staat« und seit 2021 unter ande­rem auch für Afghan*innen, obwohl die Tür­kei die bis­he­ri­gen Kri­te­ri­en für »siche­re Dritt­staa­ten« hier­für nicht erfüllt (sie­he auch hier für eine aktu­el­le Stu­die). Mit der GEAS-Reform wer­den die Anfor­de­run­gen an die Sicher­heit in dem Dritt­staat stark her­un­ter­ge­schraubt, was zumin­dest in Tei­len sehr auf die Tür­kei zuge­schnit­ten scheint. So muss Fadi in der Tür­kei kei­nen Flücht­lings­sta­tus nach Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) bekom­men kön­nen, son­dern es reicht, dass er dort einen soge­nann­ten »effek­ti­ven Schutz« erhal­ten kann (Art. 58 Abs. 2 Asyl­ver­fah­rens­VO) – der jedoch nicht alle Rech­te nach der GFK umfasst.

Die Tür­kei hat die GFK nur mit einem geo­gra­fi­schen Vor­be­halt rati­fi­ziert, wes­halb Flücht­lin­ge aus Syri­en und Afgha­ni­stan ihn nicht bekom­men kön­nen. Des­we­gen war bis­her umstrit­ten, ob die Tür­kei über­haupt für sie euro­pa­recht­lich als »sicher« gel­ten kann. Das soll nun umgan­gen wer­den. Zudem schiebt die Tür­kei sogar regel­mä­ßig in bei­de Län­der ab, was völ­ker­rechts­wid­ri­ges refou­le­ment ist. Das müss­te – wenn die Regeln ernst genom­men wer­den wür­den – auch künf­tig dazu füh­ren, dass die Tür­kei nicht als sicher gel­ten kann (Art. 60 Abs. 1 lit. c Asyl­ver­fah­rens­VO). Mit der GEAS-Reform muss zudem nicht mehr das gan­ze Land sicher sein, Teil­ge­bie­te kön­nen aus­rei­chen (Art. 60 Abs. 2 AsylverfahrensVO).

Durch die Reform liegt es jetzt vor allem bei Fadi zu bewei­sen, dass die Tür­kei für ihn nicht sicher ist (Art. 60 Abs. 5 lit. a Asyl­ver­fah­rens­VO). Er war aller­dings nur kurz in dem Land, weil er viel Schlech­tes über den Umgang mit syri­schen Flücht­lin­gen dort gehört hat. Auch nach der Reform muss es eine Ver­bin­dung zu dem Dritt­staat geben, auf­grund derer es sinn­voll für Fadi erscheint, in das Land zu gehen (Art. 60 Abs. 5 lit. b Asyl­ver­fah­rens­VO). Laut den Erwä­gungs­grün­den der Ver­ord­nung ist dies zum Bei­spiel anzu­neh­men, wenn sich Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von Fadi in die­sem Land auf­hal­ten oder wenn sich Fadi in die­sem Land nie­der­ge­las­sen oder auf­ge­hal­ten hat (Erwä­gungs­grund 48). Soll­te all dies von den grie­chi­schen Behör­den als gege­ben ange­nom­men wer­den, dann wird der Asyl­an­trag von Fadi als »unzu­läs­sig« abge­lehnt. Was ihm in Syri­en pas­siert ist, ist den Beamt*innen dann egal – für sie zählt nur, dass sie ihn in einen außer­eu­ro­päi­schen Staat abschie­ben wollen.

Und was heißt das alles für Asylverfahren in Deutschland?

Aber nicht nur an den euro­päi­schen Außen­gren­zen, son­dern auch in Deutsch­land wird sich durch die Reform sehr vie­les ändern. Die Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung wird – sobald sie ab 2026 in Anwen­dung kommt – wohl die meis­ten Rege­lun­gen im aktu­el­len Asyl­ge­setz ver­drän­gen und ist direkt anwend­bar. Wie genau die Umset­zung in Deutsch­land aus­se­hen wird, das muss die Bun­des­re­gie­rung bis Ende 2024 in einem Umset­zungs­plan fest­hal­ten. Vie­le Ände­run­gen sind ent­spre­chend der Geset­zes­tex­te, die nun final ver­ab­schie­det wer­den, aber schon abseh­bar: Auch in Deutsch­land wer­den die neu­en Scree­nings ange­wen­det wer­den. Zum einen an den deut­schen EU-Außen­gren­zen, was pri­mär die Flug­hä­fen sind. Zum ande­ren gibt es eine spe­zi­el­le Norm für das Scree­ning im Inland.

Wenn also eine Per­son in Deutsch­land von der Poli­zei kon­trol­liert wird und kein Visum hat und auch nie an den Außen­gren­zen regis­triert (gescre­ent) wur­de, dann ist Deutsch­land ver­pflich­tet, ein Inlands-Scree­ning durch­zu­füh­ren (Art. 5 Scree­ning-VO). Wäh­rend des Scree­nings muss die Per­son den Behör­den »zur Ver­fü­gung ste­hen«, Deutsch­land muss Regeln erlas­sen, um sicher­zu­stel­len, dass die Per­son nicht unter­taucht. Das könn­te zu Haft oder haft­ähn­li­cher Unter­brin­gung führen.

Die Per­son gilt aber – im Gegen­satz zum Scree­ning an den Außen­gren­zen – als ein­ge­reist. Das ist wich­tig, denn wenn sie einen Asyl­an­trag stellt, kann sie im Anschluss nicht einem Asyl­grenz­ver­fah­ren zuge­lei­tet wer­den – denn hier­für müss­te sie noch als »nicht-ein­ge­reist« gel­ten (Art. 44 Abs. 1 Asyl­ver­fah­rens­VO). Die Scree­ning-Ver­ord­nung stellt auch extra klar, dass die Bin­nen­gren­zen auch bei der Anwen­dung von Grenz­kon­trol­len Bin­nen­gren­zen blei­ben und dort auf­ge­grif­fe­ne Per­so­nen nach dem Scree­ning im Inland behan­delt wer­den müs­sen (Erwä­gungs­grund 18c).

Es gibt jedoch eine Son­der­re­ge­lung, dass das Inlands-Scree­ning nicht ange­wen­det wer­den muss, wenn die Per­son basie­rend auf einer bila­te­ra­len Ver­ein­ba­rung direkt an der Bin­nen­gren­ze zurück­ge­wie­sen wird – das Scree­ning fin­det dann in dem ande­ren Mit­glied­staat statt (Art. 5 Abs. 2 Scree­ning-VO). Asyl­su­chen­de müss­ten hier­von jedoch aus­ge­schlos­sen sein, da auch nach dem neu­en Schen­ge­ner Grenz­ko­dex ihre direk­te Zurück­wei­sung euro­pa­rechts­wid­rig bleibt (sie­he hier zur aktu­el­len Pra­xis der Zurück­wei­sun­gen an deut­schen Bin­nen­gren­zen).

Massive Änderung des deutschen Grenzverfahrens

Die neu­en Asyl­grenz­ver­fah­ren sowie die Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren wer­den also pri­mär an den deut­schen Flug­hä­fen ange­wen­det wer­den und wer­den das bis­he­ri­ge Flug­ha­fen­ver­fah­ren nach § 18a Asyl­ge­setz erset­zen. Wäh­rend das bis­he­ri­ge deut­sche Grenz­ver­fah­ren nach 19 Tagen vor­bei ist, kön­nen ab 2026 die Ver­fah­ren zum Bei­spiel am Frank­fur­ter Flug­ha­fen bis zu drei Mona­te dau­ern. Ins­ge­samt kön­nen dann Per­so­nen ein hal­bes Jahr im Tran­sit­be­reich fest­ge­hal­ten wer­den, wenn sie nach Ableh­nung noch in das Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren genom­men wer­den. Frag­lich ist aber, ob die bis­he­ri­ge Art der Unter­brin­gung an den deut­schen Flug­hä­fen für eine solch lan­ge Zeit geeig­net ist. Auch wird man genau schau­en müs­sen, ob die Stan­dards, die das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt für das Flug­ha­fen­ver­fah­ren auf­ge­stellt hat, im neu­en Grenz­ver­fah­ren beach­tet wer­den (sie­he hier für eine Stu­die zum Ver­gleich des Flug­ha­fen­ver­fah­rens und der GEAS-Reform).

Doch es gibt eine wei­te­re Kon­stel­la­ti­on, wann Asyl­su­chen­de in Deutsch­land ins Grenz­ver­fah­ren kom­men kön­nen. Hier­für neh­men wir noch­mal das Bei­spiel von Bahar und ihrem Sohn, der kur­disch-tür­ki­schen Asyl­su­chen­den, die in Bul­ga­ri­en ins Grenz­ver­fah­ren gekom­men ist: Schon bevor die bei­den ins Grenz­ver­fah­ren gekom­men sind, hat­te die bul­ga­ri­sche Regie­rung bei der EU-Kom­mis­si­on eine Noti­fi­ka­ti­on ein­ge­reicht, um als Mit­glied­staat aner­kannt zu wer­den, in dem ein soge­nann­ter »Migra­ti­ons­druck« herrscht (Art. 44d Ver­ord­nung über das Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment, AMM-VO). Seit­dem dies aner­kannt wur­de, ste­hen Bul­ga­ri­en Soli­da­ri­täts­maß­nah­men von ande­ren Mit­glied­staa­ten zu.

 Hier­zu gehört auch die Auf­nah­me von Asyl­su­chen­den, wobei die meis­ten Mit­glied­staa­ten ver­su­chen, statt­des­sen Geld zu zah­len. Deutsch­land hat­te im Zuge des neu­en jähr­li­chen High Level Soli­da­ri­täts­fo­rums ver­bind­lich zuge­sagt, 3.000 Asyl­su­chen­de aus Bul­ga­ri­en auf­zu­neh­men. Ins­ge­samt liegt der fair share Deutsch­lands – also der fai­re Anteil an den Soli­da­ri­täts­maß­nah­men – anhand der Quo­te von Bevöl­ke­rungs­zahl und Brut­to­in­lands­pro­dukt bei cir­ca 22 Pro­zent der benö­tig­ten Umver­tei­lungs­plät­ze sowie der finan­zi­el­len Leis­tun­gen (vgl. Art. 44k AMM-VO). Dies Soli­da­ri­täts­maß­nah­men sol­len pro Jahr min­des­tens 30.000 Umver­tei­lungs­plät­ze und 600 Mil­lio­nen Euro Finanz­hil­fen umfas­sen, die an Mit­glied­staa­ten gehen, die unter Migra­ti­ons­druck ste­hen (Art. 7c Abs. 2 AMM-VO)

Bahar und ihr Sohn wer­den für Deutsch­land für die Umver­tei­lung aus­ge­sucht, sie selbst haben kein Mit­spra­che­recht (Art. 57 AMM-VO). In Deutsch­land kann das Asyl­ver­fah­ren von Bahar und ihrem Sohn dann wei­ter­hin als Grenz­ver­fah­ren geführt wer­den, wofür Deutsch­land einen wei­te­ren Monat Zeit zur Bear­bei­tung bekommt (Art. 52 Abs. 2, Art. 53 Abs. 2 Asyl­ver­fah­rens­VO). Auch über den Umver­tei­lungs­me­cha­nis­mus kön­nen also Asyl­su­chen­de künf­tig in Deutsch­land ins Grenz­ver­fah­ren kommen.

Das neue alte Dublin-System

Beson­ders rele­vant sind in Deutsch­land in den letz­ten Jah­ren stets die soge­nann­ten Dub­lin-Ver­fah­ren gewe­sen, in denen fest­ge­stellt wird, ob ein ande­rer EU-Mit­glied­staat für den Asyl­an­trag zustän­dig ist und die asyl­su­chen­de Per­son in den Mit­glied­staat über­stellt wird. Auch wenn es ab 2026 kei­ne Dub­lin-III-Ver­ord­nung mehr geben wird, son­dern eine Ver­ord­nung über das Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment, so blei­ben die Grund­prin­zi­pi­en des Dub­lin-Sys­tems bestehen. Der Mit­glied­staat, in dem die asyl­su­chen­de Per­son als ers­tes ein­ge­reist ist, wird in den meis­ten Fäl­len für den Asyl­an­trag zustän­dig sein (Art. 21 AMM-VO). Ein klei­ner Zusatz bei den Kri­te­ri­en ist nur, dass im neu­en Sys­tem auch in einem Mit­glied­staat erwor­be­ne schu­li­sche Qua­li­fi­ka­tio­nen in den letz­ten sechs Jah­ren als Zustän­dig­keits­kri­te­ri­um gel­ten (Art. 20 AMM-VO).

Auch wenn sich unter ande­rem die deut­sche Bun­des­in­nen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser von der GEAS-Reform zu ver­spre­chen scheint, dass künf­tig mög­lichst vie­le Asyl­su­chen­den an den Außen­gren­zen »hän­gen blei­ben« und es gar nicht erst nach Deutsch­land schaf­fen, so scheint das nach den Erfah­run­gen der letz­ten Jah­re eine wenig rea­lis­ti­sche Pro­gno­se. Schon jetzt müss­ten Mit­glied­staa­ten wie Grie­chen­land oder Ita­li­en men­schen­wür­di­ge Bedin­gun­gen für Asyl­su­chen­de garan­tie­ren und bei fest­ge­stell­ter Zustän­dig­keit die Per­son zurück­neh­men – in der Pra­xis pas­siert das jedoch kaum. Der Erfah­rung der letz­ten Jah­re nach wird es wei­ter­hin gute Grün­de für vie­le geflüch­te­te Men­schen geben, wei­ter nach Deutsch­land zu flüch­ten. So auch im fik­ti­ven Fall von Fadi:

Dublin 4.0.: Kürzere Fristen und weniger Rechtsschutz

Nach­dem der Asyl­an­trag von Fadi als »unzu­läs­sig« abge­lehnt wur­de, muss­te er noch wei­te­re drei Mona­te im Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren aus­har­ren – obwohl die Tür­kei gar kei­ne Rück­füh­run­gen akzep­tiert (so auch der aktu­el­le Stand der EU-Tür­kei Erklä­rung). Jetzt steht er in Grie­chen­land vor dem Nichts, denn als offi­zi­ell abge­lehn­ter Asyl­su­chen­der steht ihm kei­ne Unter­stüt­zung zu. Fadi hat schon einen Onkel in Deutsch­land, des­we­gen ent­schei­det er sich, es noch­mal in Deutsch­land mit dem Asyl­ver­fah­ren zu ver­su­chen. Doch hier ange­kom­men gerät er in die Müh­len des neu­en Dub­lin-Sys­tems: Die Fris­ten zur Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Deutsch­land und Grie­chen­land sind deut­lich beschleu­nigt. So muss Deutsch­land der grie­chi­schen Behör­den inner­halb von nur zwei Wochen noti­fi­zie­ren, dass eine Wie­der­auf­nah­me von Fadi statt­fin­den soll (Art. 31 AMM-VO). Wenn Grie­chen­land inner­halb von zwei Wochen kei­ne Grün­de vor­legt, war­um es doch nicht zustän­dig ist, wird die Zustim­mung zur Rück­über­nah­me angenommen.

Ab dann läuft die soge­nann­te Über­stel­lungs­frist, die bei sechs Mona­ten bleibt. Soll­te Fadi als flüch­tig gel­ten oder angeb­lich bestimm­ten medi­zi­ni­schen Vor­ga­ben nicht fol­gen, die für sei­ne Über­stel­lung not­wen­dig sind, dann wird die Frist direkt auf drei Jah­re ver­län­gert – eine Ver­dopp­lung gegen­über der aktu­el­len Rege­lung bei »Flüch­tig­sein« (Art. 35 AMM-VO). Zudem wur­den für Fadi und ande­re betrof­fe­ne Asyl­su­chen­de die Rechts­schutz­mög­lich­kei­ten im Ver­gleich zur Dub­lin-III-Ver­ord­nung ver­schlech­tert, ins­be­son­de­re soll offen­sicht­lich aus­ge­schlos­sen wer­den, dass Fadi nach Frist­ab­lauf auf ein Asyl­ver­fah­ren in Deutsch­land kla­gen kann (vgl. Art. 33 AMM-VO).

Wäh­rend die Frist läuft, kann Fadi in Deutsch­land für die nicht gewünsch­te Wei­ter­wan­de­rung bestraft wer­den, indem sei­ne Sozi­al­leis­tun­gen gekürzt wer­den (Art. 10 AMM-VO). Dies ist so ähn­lich schon in § 1a Abs. 7 Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz in Deutsch­land vor­ge­se­hen, wobei schon die­se Leis­tungs­ein­schrän­kung ver­fas­sungs­recht­lich höchst frag­wür­dig ist.

Für Fadi wür­de noch eine neue Rege­lung gel­ten: Für Per­so­nen, die im Asyl­grenz­ver­fah­ren abge­lehnt wur­den, hört die Zustän­dig­keit des Mit­glied­staa­tes 15 Mona­te nach ergan­ge­ner Ableh­nung auf zu gel­ten. Fadi kann also 15 Mona­te nach der Ableh­nung im grie­chi­schen Grenz­ver­fah­ren doch einen neu­en Asyl­an­trag in Deutsch­land stel­len, der dann hier als neu­er Asyl­an­trag bear­bei­tet wer­den muss (Art. 27 Abs. 1a AMM-VO).

Durch die Reform wird es zudem zum ers­ten Mal eine Kri­sen-Ver­ord­nung geben, die den Mit­glied­staa­ten ver­schie­de­ne Aus­nah­men von den dann eigent­lich gül­ti­gen Regeln erlaubt – und abseh­bar uner­träg­li­chen Zustän­den an den Außen­gren­zen wei­ter Vor­schub leis­ten wird.

Verschärfungen im Fall von Krisen, höherer Gewalt und »Instrumentalisierung«

Durch die Reform wird es zudem zum ers­ten Mal eine Kri­sen-Ver­ord­nung geben, die den Mit­glied­staa­ten ver­schie­de­ne Aus­nah­men von den dann eigent­lich gül­ti­gen Regeln erlaubt – und abseh­bar uner­träg­li­chen Zustän­den an den Außen­gren­zen wei­ter Vor­schub leis­ten wird. Ob es eine Kri­se in einem Mit­glied­staat gibt, der sol­che Aus­nah­men erlaubt, wird von der Kom­mis­si­on auf Antrag des Mit­lied­staa­tes fest­ge­stellt und in Ent­schei­dun­gen der Kom­mis­si­on sowie einem Umset­zungs­rechts­akt des Rates fest­ge­hal­ten. Dar­in muss ste­hen, war­um die Anwen­dung der Kri­sen-Ver­ord­nung not­wen­dig und ver­hält­nis­mä­ßig ist, ab und bis wann die Aus­nah­men gel­ten sol­len – aber nicht zwin­gend, wel­che Aus­nah­men ange­wen­det wer­den (Art. 3 Kri­sen-VO). Gene­rell sol­len die Aus­nah­men zunächst nur für drei Mona­te ange­wen­det wer­den, was aber ver­län­gert wer­den kann. Ins­ge­samt soll ein sol­cher »Kri­sen-Zustand« nicht län­ger als zwölf Mona­te gel­ten (Art. 5 Krisen-VO).

Soll­te zum Bei­spiel Bul­ga­ri­en in dem Zeit­raum, in dem Bahar mit ihrem Sohn ihren Asyl­an­trag stellt, im »Kri­sen­mo­dus« sein, so kann sich eini­ges für sie ändern. Ers­tens hät­te Bul­ga­ri­en dann vier Wochen Zeit, um ihr Asyl­ge­such zu regis­trie­ren (Art. 10 Kri­sen-VO). Was harm­los klingt, kann in der Pra­xis zu einer stär­ke­ren Push­back-Pra­xis füh­ren, wenn die schutz­su­chen­den Men­schen län­ger nicht staat­lich erfasst wer­den. Zwei­tens kann Bul­ga­ri­en das Grenz­ver­fah­ren vari­ie­ren: Wenn es sich um eine Kri­se wegen sehr hoher Ankunfts­zah­len oder »höhe­rer Gewalt« han­delt, dann kann Bul­ga­ri­en den Schwel­len­wert für die Quo­te, bei der das Grenz­ver­fah­ren ver­pflich­tend ist, ent­we­der auf 5 Pro­zent sen­ken – dann wären Bahar und ihr Sohn nicht im Grenz­ver­fah­ren – oder auf 50 Pro­zent erhö­hen, also deut­lich mehr Men­schen ins Grenz­ver­fah­ren neh­men. Wenn es kei­ne aus­rei­chen­den Kapa­zi­tä­ten gibt, dann müss­te Bul­ga­ri­en auch das Kri­te­ri­um der Quo­te gene­rell nicht mehr anwen­den (Art. 11 Abs. 2–4 AMM-VO). Wenn es jedoch um den Kri­sen­fall einer Instru­men­ta­li­sie­rung geht, dann kann Bul­ga­ri­en das Grenz­ver­fah­ren auf alle Asyl­su­chen­den aus­wei­ten, die von einer ande­ren Regie­rung oder nicht-staat­li­chen Akteu­ren »instru­men­ta­li­siert« wer­den (Art. 11 Abs. 6 AMM-VO). Nur für die­sen Fall ist eine Aus­nah­me von Fami­li­en mit Kin­dern unter zwölf Jah­ren vor­ge­se­hen (Art. 11 Abs. 7 lit. a AMM-VO).

Man merkt: Von einem wirk­lich gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tem bleibt trotz einer ursprüng­lich gewünsch­ten stär­ke­ren Anglei­chung der Ver­fah­ren in den Mit­glied­staa­ten wenig übrig, denn durch die Kri­sen-Ver­ord­nung kön­nen stän­dig unter­schied­li­che Son­der­re­ge­lun­gen gel­ten. Das betrifft auch die Über­stel­lungs­fris­ten und Solidaritätsmaßnahmen.

Auch wenn die Reform kommt: Der Kampf für den Flüchtlingsschutz geht weiter!

Eine Zustim­mung des Euro­pa­par­la­ments zur Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems kurz vor der Euro­pa­wahl ist extrem bit­ter. Aus dem Par­la­ment kamen wäh­rend des Reform­pro­zes­ses ver­schie­de­ne posi­ti­ve Vor­schlä­ge, die jedoch in den Ver­hand­lun­gen mit den Mit­glied­staa­ten fast alle vom Tisch gefegt wur­den. Trotz­dem wird eine Mehr­heit der Parlamentarier*innen den mas­si­ven Ver­schär­fun­gen abseh­bar zustimmen.

Für PRO ASYL und unse­re Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen in ganz Euro­pa geht der Kampf natür­lich wei­ter. Die kom­men­den zwei Jah­re bis zum Start des neu­en Sys­tems müs­sen genutzt wer­den, um Stra­te­gien zur wei­te­ren effek­ti­ven Unter­stüt­zung von in Euro­pa Schutz­su­chen­den zu ent­wi­ckeln und der Iso­la­ti­ons- und Abschot­tungs­stra­te­gie der EU ent­ge­gen­zu­wir­ken. Wir las­sen auch künf­tig Schutz­su­chen­de wie Bahar oder Fadi nicht im Stich und wer­den recht­lich und poli­tisch für ihre Rech­te kämpfen!

*Die Fäl­le in die­sem Text sind fik­tiv, aber nah an aktu­el­len Pra­xis­fäl­len entwickelt.

(wj)