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Faktenfinder in einer faktenbefreiten Welt

Die Jahre 2024 und 2025 begannen mit bundesweiten Demonstrationen gegen Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Aber es gab auch grausame Anschläge und den Versuch von Friedrich Merz, mithilfe der Rechtsextremen den vermeintlichen »Zustrom illegaler Flüchtlinge« zu stoppen. PRO ASYL blickt auf die Zahlen hinter den Debatten der letzten Monate.
»Allzeit-Rekord« der weltweiten Flüchtlingszahl
Jahr für Jahr ein neuer trauriger Rekord: Weltweit waren Ende 2024 mehr als 122 Millionen Menschen durch Gewalt, Konflikte und die Auswirkungen des Klimawandels vertrieben. Erst vor zwei Jahren hatte die Weltflüchtlingszahl die 100-Millionen-Marke überschritten. Nicht nur die Kriege und Konflikte in der Ukraine, im Gaza-Streifen und im Libanon, sondern vor allem die medial kaum beachteten Konflikte im Sudan, der Demokratischen Republik Kongo und in Myanmar trieben die Zahlen in die Höhe.
Doch trotz dieses Allzeit-Rekords und entgegen den politischen Debatten sind die Flüchtlingszahlen in Europa und Deutschland deutlich gesunken. Die Zahl der EU-weiten Asyl-Erstanträge sank um mehr als 100.000 oder etwa 11 Prozent auf rund eine Million. Das Gros dieses Rückgangs geht auf besonders stark sinkende Asylzahlen in Deutschland zurück: Hier stellten im vergangenen Jahr 229.800 Menschen einen Asyl-Erstantrag, das war ein Minus von dreißig Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Dass trotz deutlich steigender Flüchtlingszahlen weniger Menschen die EU erreichten, liegt daran, dass Fluchtwege aus den Konfliktregionen in Ost- und Westafrika weitgehend versperrt sind. Die mit Milliardensummen aus der EU vorangetriebene Migrationskontrolle in Ländern wie Ägypten, Tunesien, Libyen, Marokko, Senegal oder Mauretanien hat die Möglichkeit zu flüchten für viele Menschen stark eingeschränkt.
»Notstand«? Fast 100.000 weniger Asylanträge in Deutschland
Die Zahl von 229.800 Asylanträgen in Deutschland bedeutet einen Rückgang um fast 100.000 im Vergleich zu 2023 (329.100). Zu Beginn des Jahres 2025 setzte sich dieser Trend weiter fort: Im ersten Quartal sanken die Zahlen um 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die angebliche »Notlage«, mit der Zurückweisungen von Asylsuchenden an deutschen Grenzen begründet werden sollen, lässt sich jedenfalls mit Zahlen nicht belegen.
Auch 2024 kam der Großteil der in vielen Debatten auf »illegale Migranten« reduzierten Menschen aus Kriegs- und Krisenstaaten. Hauptherkunftsland war zum elften Mal in Folge Syrien, mit 76.800 Erstanträgen (minus 25 Prozent im Vergleich zu 2023). Syrer*innen machten demnach ein Drittel aller Asylsuchenden aus. Es wird abzuwarten bleiben, ob nach dem Sturz von Diktator Assad weniger Menschen aus Syrien flüchten müssen. Dass sich Forderungen nach einer schnellen Rückkehr oder gar Abschiebung von Syrer*innen in Deutschland verbieten, zeigen etwa grausame Massaker an Minderheiten Anfang März dieses Jahres.
Vor der Terrorherrschaft der Taliban in Afghanistan flohen 34.100 Menschen nach Deutschland, ein Rückgang um 33 Prozent. Allein die beiden Länder Syrien und Afghanistan machten als Herkunftsländer fast die Hälfte aller Asylsuchenden in Deutschland aus. Das belegt die Unsachlichkeit vieler Debatten über eine vermeintlich unbegründete, »illegale Migration«.
Es folgt die Türkei (29.200, minus 52 Prozent), wo nicht zuletzt die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu im März 2025 und die massenhaften Festnahmen von Journalist*innen, Fotograf*innen und Demonstrant*innen zeigt, mit welcher Härte Präsident Erdoğan gegen politische Gegner vorgeht.
BAMF-Praxis immer restriktiver
Der politische Diskurs, der Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Gewalt aus ihrer Heimat flüchten müssen, zu »illegalen Migranten« degradiert, schlägt sich längst auch in der Anerkennungspraxis des BAMF nieder. Insgesamt gewährte das BAMF zwar immer noch in 59 Prozent der inhaltlich geprüften Asylanträge Schutz. Im Vergleich zu 2023 ist diese Quote jedoch um zehn Prozent niedriger. 17 Prozent der Schutzsuchenden erhielten 2024 eine Anerkennung als Flüchtling, 33 Prozent den subsidiären Schutz und weitere 9 Prozent ein Abschiebungsverbot. Abgelehnt wurden 41 Prozent.
75.700 Entscheidungen, also ein Viertel der über 300.000 BAMF-Entscheidungen waren »formelle Erledigungen«. Diese Asylanträge wurden inhaltlich nicht geprüft.
75.700 Entscheidungen, also ein Viertel der über 300.000 BAMF-Entscheidungen waren »formelle Erledigungen«. Diese Asylanträge wurden inhaltlich nicht geprüft, weil beispielsweise ein anderer Staat zuständig war oder Menschen ihren Asylantrag zurückgenommen haben. Diese Anträge sind in der bereinigten Schutzquote herausgerechnet, weshalb diese von den offiziellen BAMF-Zahlen abweicht. Allerdings verfälschen die offiziellen Statistiken das Bild der tatsächlichen Asylgewährung, da eine »formelle Erledigung« zwar eine negative Entscheidung ist, jedoch nichts über die Schutzbedürftigkeit der Menschen aussagt und dadurch die Schutzquoten geringer wirken lassen, als sie in Wirklichkeit sind.
Die um zehn Prozent verringerte Schutzquote lässt sich insbesondere mit einer deutlich verschärften BAMF-Praxis begründen. Menschen aus Syrien erhielten zwar wie in den Vorjahren zu fast einhundert Prozent einen Schutzstatus – rund neunzig Prozent den subsidiären Schutz. Auffällig nach unten entwickelt hat sich jedoch die Schutzquote für Menschen aus Afghanistan – ohne dass sich unter der Terrorherrschaft der Taliban etwas zum Positiven verändert hätte: Lag sie 2023 noch bei 99 Prozent, ist sie 2024 auf 93 Prozent gesunken. Schaut man sich monatliche Zahlen an, fällt auf, dass bis zur Jahreshälfte in Deutschland nur rund drei Prozent aller Afghan*innen abgelehnt wurden, ab September 2024 dann aber mehr als zehn Prozent. Während afghanische Frauen auch dank eines Urteils des EUGHs in der Regel die Flüchtlingseigenschaft erhalten, kassieren immer mehr afghanische Männer eine Ablehnung.
Dieser Trend setzt sich 2025 weiter und sehr verstärkt fort: Im ersten Quartal wurden bereits dreißig Prozent der Asylsuchenden aus Afghanistan komplett abgelehnt. Nachvollziehbar ist der Anstieg der Ablehnungsquote von einem Prozent auf über 25 Prozent binnen 15 Monaten und angesichts der desaströsen Menschenrechtslage und katastrophalen humanitären Situation unter den Taliban nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass dies eine Folge der hitzigen Debatten nach den Anschlägen von afghanischen Staatsangehörigen in Deutschland ist – und somit populistisch motiviert, anstatt rechtlich oder politisch nachvollziehbar.
Auch in der Türkei hat sich in den vergangenen Jahren wenig zum Guten verändert. Die Verhaftung İmamoğlus und jene von tausenden Demonstrant*innen zeigt, dass Präsident Erdoğan bestenfalls noch den Schein an Rechtsstaatlichkeit wahrt. Die Justiz in der Türkei und die Staatsanwaltschaften sind nach 22 Jahren Herrschaft Erdoğans kaum mehr als ein willfähriges Instrument der Repressionen gegen politische Gegner.
Die Schutzquote für Asylsuchende aus der Türkei hingegen befindet sich weiter im freien Fall. Nur noch 12 Prozent erhielten Schutz. Zum Vergleich: 2020 erhielt noch rund die Hälfte Schutz, 2022 noch mehr als ein Drittel, 2023 waren es 18 Prozent.
Erneut sind Kurd*innen besonders von der Ablehnungspraxis des BAMF betroffen und erhielten nur noch in vier Prozent der Fälle Schutz (2023: sechs Prozent). Aber auch türkische Volkszugehörige erhielten in nur noch zu 54 Prozent Schutz. Im Vergleich zu 2023, als mit 65 Prozent noch fast zwei Drittel als schutzberechtigt anerkannt wurden, ist dies ein deutlicher Rückgang. Dieser Rückgang wird auch offensichtlich, wenn man die Zahlen mit jenen aus den zurückliegenden Jahren vergleicht: 2020 erhielten noch 78 Prozent aller Asylsuchender aus der Türkei einen Schutzstatus, 2022 sogar 81 Prozent.
Bürokratie-Wahnsinn: Ein Drittel aller Asylverfahren sind Dublinverfahren
Neben inhaltlichen Prüfungen von Asylanträgen ist das BAMF auch für formelle Prüfungen zuständig. Es gab 32.700 sogenannte Dublin-Entscheidungen, in denen das BAMF einen anderen europäischen Staat als zuständig ansah. Diese Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit sind hochbürokratisch und bedrohen zehntausende Schutzsuchende mit Menschenrechtsverletzungen, Obdachlosigkeit und Inhaftierung, insbesondere in süd- und osteuropäischen Staaten.
In 74.600 Fällen hat das BAMF 2024 ein Dublin-Übernahmeersuchen an andere Staaten gestellt. Bezogen auf 229.800 Asylerstanträge bedeutet das, dass jeder dritte Asylsuchende ein Dublin-Fall war. Die meisten Übernahmeersuchen gingen an Griechenland (15.500), Kroatien (14.100), Italien (12.800) und Bulgarien (8.100), also vor allem an Staaten mit menschenrechtlich höchst problematischen Lebensbedingungen für Asylsuchende.
Dass die italienische Regierung sich seit Dezember 2022 weigert, Flüchtlinge nach der Dublin-Verordnung zurückzunehmen und auch Griechenland seit Jahren nur in wenigen Fällen zur Aufnahme in der Lage ist, hinderte das BAMF jedoch nicht daran, Dublin-Verfahren durchzuführen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass 77 beziehungsweise 75 Prozent der Eilanträge vor Gericht erfolgreich waren und Abschiebungen vor allem wegen der menschenrechtlichen Situation in beiden Ländern gestoppt wurden.
Ressourcenverschwendung hat einen Namen: Dublin
Im Rahmen der Dublin-Verordnung wurden 5.800 Menschen in den zuständigen Staat überstellt. Bezogen auf die Zahl der eingeleiteten Verfahren sind das gerade einmal acht Prozent. In noch ganz anderen Dimensionen bewegt sich dieses Missverhältnis im Hinblick auf Überstellungen nach Italien oder Griechenland (drei beziehungsweise 22 Überstellungen), wofür 28.000 absehbar unsinnige Verfahren geführt wurden.
In politischen Debatten wird hingegen immer wieder suggeriert, dass das Dublin-System deshalb nicht funktioniere, weil Menschen sich ihrer Abschiebung entziehen. Tatsächlich konnten laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken 40.100 Dublin-Überstellungen im Jahr 2024 nicht fristgerecht durchgeführt werden. Jedoch wurden nur in knapp 13 Prozent der Fälle (5.000) die Schutzsuchenden selbst dafür verantwortlich gemacht, dass ihre Abschiebung scheiterte, durch »Untertauchen« (4.800), »Renitenz« oder »Suizidversuch/Selbstverletzung«. Vor allem Letzteres, aber auch das »Untertauchen« bedeutet, bis zu anderthalb Jahre in der »Illegalität« leben zu müssen, bevor Deutschland für das Asylverfahren zuständig wird. Das dies dennoch in einigen Fällen in Kauf genommen wird, zeigt, wie verzweifelt viele Menschen aufgrund einer drohenden Abschiebung nach Griechenland, Bulgarien oder Kroatien sind. Im Regelfall sind jedoch die anderen Mitgliedstaaten beziehungsweise behördliche und organisatorische Probleme oder anderes für ein Scheitern von Überstellungen verantwortlich.
Die deutsche Asylbehörde war im vergangenen Jahr mit mehreren Tausenden ein- und ausgehenden Dublinverfahren beschäftigt. Dieser immense Aufwand wurde betrieben, um in der Summe 1.200 Asylanträge weniger in Deutschland inhaltlich zu prüfen.
Aus dem europäischen Ausland gingen 15.000 Übernahmeersuche zwecks Zuständigkeit beim BAMF ein, 4.600 Menschen wurden letztendlich nach Deutschland überstellt. Damit war die deutsche Asylbehörde im vergangenen Jahr also mit mehreren Tausenden ein- und ausgehenden Dublinverfahren beschäftigt. Dieser immense Aufwand wurde betrieben, um in der Summe 1.200 Asylanträge weniger in Deutschland inhaltlich zu prüfen, indem man die Schutzsuchenden in den zuständigen Mitgliedsstaat überstellte. Die personellen und finanziellen Ressourcen, die ein solch ineffizientes System bei BAMF und Gerichten bindet (und zudem zu teils unmenschlichen Härten führt), wären zur Integration der Menschen besser investiert.
Ein nicht funktionierendes und auch absehbar durch die GEAS-Reform kaum verändertes, ergo weiterhin dysfunktionales Zuständigkeitssystem durch offenen Rechtsbruch und »Aushungern« von Dublin-Fällen sowie Zurückweisungen von Asylsuchenden an deutschen Grenzen »lösen« zu wollen, kann niemals Mittel rechtsstaatlicher Politik sein.
»Bekämpfung der illegalen Migration« heißt: Geflüchteten illegal Menschenrechte verweigern!
Umfassende Kontrollen an den deutschen Süd- und Ostgrenzen wurden schon im Oktober 2023 eingeführt; seit September 2024 wird an allen Grenzen kontrolliert. Angesichts der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken zur Situation an den deutschen Binnengrenzen muss davon ausgegangen werden, dass rechtswidrige Zurückweisungen von Asylsuchenden an deutschen Grenzen schon lange Alltag sind.
Die Menschen, die 2024 beim Versuch der »unerlaubten Einreise« von der Bundespolizei zurückgewiesen wurden, kamen hauptsächlich aus Ländern, aus denen der Großteil der Asyl- und Schutzsuchenden stammt, nämlich aus Syrien, der Ukraine, Afghanistan und der Türkei. Menschen also, die aller Wahrscheinlichkeit nach schutzbedürftig sind. Insgesamt wurde 2024 an deutschen Landgrenzen 37.500 Personen die Einreise verweigert. Im Jahr zuvor waren es 29.300 Zurückweisungen. Das bedeutet einen Anstieg um 28 Prozent.
Es ist kaum vorstellbar, dass diese Menschen an der Grenze nicht nach Schutz oder Asyl gefragt haben sollen, sodass sie hätten einreisen und offiziell einen Asylantrag stellen dürfen. Zumal Menschen aus diesen Ländern (bis auf die Türkei) im Asylverfahren sehr hohe Schutzquoten haben und Kriegsvertriebene aus der Ukraine vorübergehenden Schutz erhalten können. Die Vermutung liegt also nahe, dass entsprechende Asylgesuche von den zuständigen Beamt*innen schlicht »überhört» werden, wie auch Erfahrungen aus der Praxis zeigen.
Demgegenüber ist die Zahl der festgestellten »unerlaubten Einreisen« an den deutschen Landgrenzen zurückgegangen. Im Jahr 2023 wurden noch 112.900 Menschen nach »unerlaubtem Grenzübertritt» von der Bundespolizei aufgegriffen, im vergangenen Jahr waren es 72.000. Dieser Rückgang um 36 Prozent lässt sich als politischer Erfolg verkaufen.
Allerdings lohnt sich ein genauerer Blick: Auch hier waren die Hauptstaatsangehörigkeiten syrisch, ukrainisch, afghanisch und türkisch. Allein diese vier Länder machen fast die Hälfte aller festgestellten »unerlaubten Einreisen« aus. Obwohl es sich dabei vor allem um Hauptherkunftsländer von Asylsuchenden handelt, hat die Bundespolizei im vergangenen Jahr nur noch in zwanzig Prozent der Fälle ein Asylgesuch registriert. Zum Vergleich: im Jahr 2023 äußerten noch 43 Prozent der unerlaubt Eingereisten ein Asylgesuch gegenüber der Bundespolizei an einer Landgrenze. Dieser Anteil hat sich also mehr als halbiert. Der politische Wille, Schutzsuchenden ihr Grundrecht auf Asyl zu verweigern, scheint sich in der Arbeit der Bundespolizei an der Grenze niederzuschlagen. Einem dysfunktionalen Dublin-System mit rechtswidrigen Zurückweisungen zu begegnen und dadurch mit zehntausendfachem Europa- und Grundrechtsbruch löst aber nicht das Problem, sondern stellt allein Menschenrechte zur Disposition.
Abschiebungen um 22 Prozent gestiegen, aber Zahl der »freiwilligen« Ausreisen deutlich höher
Neben dem politischen Ziel, möglichst keine Schutzsuchenden mehr ins Land zu lassen, bemühen sich politische Entscheidungsträger*innen darum, Menschen außer Landes zu bringen. 20.100 Menschen wurden im vergangenen Jahr zwangsweise aus Deutschland abgeschoben, teils unter höchst dramatischen Umständen. Damit nähert sich die Zahl der Abschiebungen wieder dem Vor-Corona-Niveau. Was kaum jemand weiß: Im letzten Jahr sind 33.500 Menschen »freiwillig« aus Deutschland ausgereist – also deutlich mehr Menschen, als abgeschoben wurden. Dies ist keine neue Erkenntnis, sondern bereits seit Jahren so. Der behördliche Druck auf Menschen, auszureisen, ist jedoch konstant hoch, sodass die Freiwilligkeit in vielen Fällen in Frage gestellt werden muss.
Abschiebung als vielgepriesenes Allheilmittel, damit »ausreisepflichtige« Menschen das Land verlassen, wird durch Statistiken jedenfalls nicht gestützt. Viele Menschen verlassen Deutschland eigenständig mit unbekanntem Ziel, ohne sich vorher behördlich abzumelden. Somit dürfte die Zahl der Menschen, die Deutschland auf eigene Faust verlassen noch viel höher sein, als unter den »freiwilligen« Ausreisen statistisch erfasst. Staatliche Repressionen und zunehmende Inhaftierungen, die häufig mit Abschiebungen einhergehen, werden zu mehr Menschenrechtsverletzungen führen, die die Gerichte korrigieren müssen – aber sicher nicht zu den versprochenen wesentlich mehr Abschiebungen, selbst wenn dies vermeintlich logisch klingen mag. Abschiebungen haben noch nie »gut funktioniert«.
Deutschland schiebt Menschen hauptsächlich nach Georgien (1.900), Nordmazedonien (1.400), in die Türkei (1.100), nach Albanien (1.100) und Serbien (1.000) ab. Das sind alles Länder, in die Abschiebungen weitestgehend problemlos möglich sind. So lassen sich gestiegene Abschiebungszahlen als politischer Erfolg feiern.
Abschiebungen in die meisten anderen Länder sind aber aufgrund der dortigen menschenrechtlichen Situation unmöglich oder sie scheitern an praktischen Gründen, weil manche Staaten nicht zur Rücknahme von Menschen bereit sind. Die Hauptherkunftsländer der »ausreisepflichtigen« Geduldeten sind der Irak (19.400), die Türkei (12.100), Afghanistan (10.900), Nigeria (10.500), die Russische Föderation (10.100) und Syrien (8.800). Diese Länder und diese Zahlen belegen, dass »Abschiebungen im großen Stil« in die meisten dieser Staaten schlicht unmöglich sind.
Mehr als 91 Prozent der Abschiebungen scheitern nicht an den Betroffenen
Auch die Zahl der Menschen, die sich nach offiziellen Angaben bewusst der Abschiebung entziehen, ist seit Jahren stabil. Ende 2024 hatten 16.000 Menschen eine Duldung wegen »ungeklärter Identität«. Bei 178.500 Geduldeten insgesamt, die im Grunde genommen alle ausreisepflichtig sind, entspricht dies einen Anteil von neun Prozent. Oder anders ausgedrückt: 91 Prozent der Menschen, die abgeschoben werden sollen, sind sogar aus Sicht der Behörden nicht selbst daran »schuld«, dass sie nicht abgeschoben werden können.
40% aller Geduldeten leben seit mehr als fünf Jahren in Deutschland.
Man mag es kritisieren, dass Staaten Menschen nicht zurücknehmen oder dass die Lage in manchen Staaten Abschiebungen nicht zulässt. Aber man wird diese Realität durch die immer weitergehende Stigmatisierung und Entrechtung von Menschen niemals lösen können.
Für diese Realität spricht auch, dass 40 Prozent der Geduldeten (Stand Ende Juni 2024) seit mehr als fünf Jahren in Deutschland lebten. Obwohl das Chancen-Aufenthaltsrecht Zehntausenden aus der Duldung zu einer Aufenthaltserlaubnis verholfen hat, sind immer noch knapp 75.000 aller Geduldeten seit mehr als fünf Jahren in Deutschland. Dies lässt sich unter anderem damit begründen, dass viele Menschen gute oder sogar zwingende Gründe für eine Duldung haben. Das Ausländerzentralregister schlüsselt diese Gründe nur bedingt auf, aber beispielsweise haben 20.800 Menschen eine Duldung wegen familiärer Bindungen, 6.600 wegen dringenden humanitären oder persönlichen Gründen (zum Beispiel Beendigung der Schule oder die Betreuung kranker Familienangehöriger), 6.300 wegen eines gesetzlichen Abschiebungsverbots (also konkret drohenden Gefahren für Leib und Leben), 3.500 als unbegleitete Minderjährige und 2.800 wegen einer Ausbildung. Diese Duldungsgründe werden in der Regel länger bestehen bleiben und in vielen Fällen im weiteren Verlauf zu einem Bleiberecht führen. Trotzdem sind die Menschen oft über viele Jahre nur geduldet und ausreisepflichtig – aber eben trotzdem nicht unbedingt »abschiebbar«.
Die pragmatische Lösung: Chancen-Aufenthaltsrecht jetzt verlängern!
Nicht zuletzt diese Zahlen sprechen für eine Verlängerung des Chancen-Aufenthaltsrechts, der im letzten Jahrzehnt einzigen erfolgreichen Maßnahme zur Verringerung der Zahl der Ausreisepflichtigen und Geduldeten. Ende Dezember 2024 hatten 59.900 Menschen einen Chancen-Aufenthalt, 8.200 hatten bereits ein »echtes« Bleiberecht wegen guter Integration im Anschluss daran. Somit haben bisher 68.000 Menschen davon profitiert, die vor Ende Oktober 2017 eingereist sind, also seit mittlerweile mehr als siebeneinhalb Jahren in Deutschland leben.
Die Zahl der Geduldeten sank binnen zwei Jahren von 248.100 auf 178.500. Das bedeutet einen Rückgang um fast 70.000 oder 28 Prozent, nachdem die Zahl trotz vieler gesetzlicher Verschärfungen im Hinblick auf Haft und Abschiebungen zehn Jahre lang gestiegen war und sich verdreifacht (!) hatte. Dies spricht gegen mehr Haft und härtere Abschiebungen und für eine Verlängerung des Chancen-Aufenthaltsrechts. Ansonsten wird die Zahl der Ausreisepflichtigen wieder steigen, was außer der populistischen Propaganda der Rechtsextremen niemandem helfen würde, weder den Menschen noch der Wirtschaft oder der künftigen Regierungskoalition.
Recht nicht durch Rechtsbruch herstellen!
Die Debatten der letzten Monate und die bisherigen Koalitionsgespräche von CDU/CSU und SPD geben zwar wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich der politische Diskurs über die vermeintlich »ungesteuerte, irreguläre Migration« wieder der Realität annähern und versachlichen wird. Stattdessen werden vermutlich »einfache Lösungen« präsentiert werden, wie die rechtswidrige Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze, die Ausweitung hin zur kompletten Leistungsstreichung in Dublin-Fällen, die dauerhafte Inhaftierung von »Ausreisepflichtigen« oder die Abschaffung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte zeigt. All das löst jedoch keine Probleme, sondern schafft nur neue.
Werden Grundsätze des Rechtsstaats ausgehöhlt, ist das nicht nur eine Gefahr für Schutzsuchende und deren Angehörige, sondern für uns alle.
Solche Maßnahmen setzen sich nämlich über klare Vorgaben der europäischen und nationalen Rechtsprechung hinweg, was die Grundsätze des Rechtsstaats aushöhlt und die Gewaltenteilung in Frage stellt. Deswegen sind sie nicht nur eine Gefahr für Schutzsuchende und deren Angehörige, sondern für uns alle.
Menschenrechte gehen uns alle an, nicht nur Schutzsuchende!
Krisen und Konflikte werden weltweit weiter zunehmen und auch künftig werden Menschen flüchten müssen. Wer in Lebensgefahr ist, wird sich weder durch Grenzkontrollen noch durch Haft abhalten lassen, um sein Leben in Sicherheit zu bringen. Dessen sollten wir uns bewusst sein.
Dass Flucht und Migration auch Probleme mit sich bringen, liegt in der Natur der Sache. Aber diese Probleme sind nur mit Humanität, Zusammenhalt und dem Einstehen für demokratische und rechtsstaatliche Werte zu lösen. Es ist alternativlos, Humanität, Solidarität und den Rechtsstaat weiter zu verteidigen. Denn Menschenrechte gehen uns alle an und nicht nur diejenigen, die bei uns Schutz suchen.
(dmo)