Die Jahre 2024 und 2025 begannen mit bundesweiten Demonstrationen gegen Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Aber es gab auch grausame Anschläge und den Versuch von Friedrich Merz, mithilfe der Rechtsextremen den vermeintlichen »Zustrom illegaler Flüchtlinge« zu stoppen. PRO ASYL blickt auf die Zahlen hinter den Debatten der letzten Monate.

»Allzeit-Rekord« der weltweiten Flüchtlingszahl

Jahr für Jahr ein neu­er trau­ri­ger Rekord: Welt­weit waren Ende 2024 mehr als 122 Mil­lio­nen Men­schen durch Gewalt, Kon­flik­te und die Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels ver­trie­ben. Erst vor zwei Jah­ren hat­te die Welt­flücht­lings­zahl die 100-Mil­lio­nen-Mar­ke über­schrit­ten. Nicht nur die Krie­ge und Kon­flik­te in der Ukrai­ne, im Gaza-Strei­fen und im Liba­non, son­dern vor allem die medi­al kaum beach­te­ten Kon­flik­te im Sudan, der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kon­go und in Myan­mar trie­ben die Zah­len in die Höhe.

122 Mio.

Men­schen sind welt­weit auf der Flucht.

Doch trotz die­ses All­zeit-Rekords und ent­ge­gen den poli­ti­schen Debat­ten sind die Flücht­lings­zah­len in Euro­pa und Deutsch­land deut­lich gesun­ken. Die Zahl der EU-wei­ten Asyl-Erst­an­trä­ge sank um mehr als 100.000 oder etwa 11 Pro­zent auf rund eine Mil­li­on. Das Gros die­ses Rück­gangs geht auf beson­ders stark sin­ken­de Asyl­zah­len in Deutsch­land zurück: Hier stell­ten im ver­gan­ge­nen Jahr 229.800 Men­schen einen Asyl-Erst­an­trag, das war ein Minus von drei­ßig Pro­zent gegen­über dem Vorjahr.

Dass trotz deut­lich stei­gen­der Flücht­lings­zah­len weni­ger Men­schen die EU erreich­ten, liegt dar­an, dass Flucht­we­ge aus den Kon­flikt­re­gio­nen in Ost- und West­afri­ka weit­ge­hend ver­sperrt sind. Die mit Mil­li­ar­den­sum­men aus der EU vor­an­ge­trie­be­ne Migra­ti­ons­kon­trol­le in Län­dern wie Ägyp­ten, Tune­si­en, Liby­en, Marok­ko, Sene­gal oder Mau­re­ta­ni­en hat die Mög­lich­keit zu flüch­ten für vie­le Men­schen stark eingeschränkt.

Um 30%…

…sank dafür die Zahl der Asyl­an­trä­ge in Deutschland.

»Notstand«? Fast 100.000 weniger Asylanträge in Deutschland

Die Zahl von 229.800 Asyl­an­trä­gen in Deutsch­land bedeu­tet einen Rück­gang um fast 100.000 im Ver­gleich zu 2023 (329.100). Zu Beginn des Jah­res 2025 setz­te sich die­ser Trend wei­ter fort: Im ers­ten Quar­tal san­ken die Zah­len um 45 Pro­zent im Ver­gleich zum Vor­jahr. Die angeb­li­che »Not­la­ge«, mit der Zurück­wei­sun­gen von Asyl­su­chen­den an deut­schen Gren­zen begrün­det wer­den sol­len, lässt sich jeden­falls mit Zah­len nicht belegen.

Auch 2024 kam der Groß­teil der in vie­len Debat­ten auf »ille­ga­le Migran­ten« redu­zier­ten Men­schen aus Kriegs- und Kri­sen­staa­ten. Haupt­her­kunfts­land war zum elf­ten Mal in Fol­ge Syri­en, mit 76.800 Erst­an­trä­gen (minus 25 Pro­zent im Ver­gleich zu 2023). Syrer*innen mach­ten dem­nach  ein Drit­tel aller Asyl­su­chen­den aus. Es wird abzu­war­ten blei­ben, ob nach dem Sturz von Dik­ta­tor Assad weni­ger Men­schen aus Syri­en flüch­ten müs­sen. Dass sich For­de­run­gen nach einer schnel­len Rück­kehr oder gar Abschie­bung von Syrer*innen in Deutsch­land ver­bie­ten, zei­gen etwa grau­sa­me Mas­sa­ker an Min­der­hei­ten Anfang März die­ses Jahres.

Vor der Ter­ror­herr­schaft der Tali­ban in Afgha­ni­stan flo­hen 34.100 Men­schen nach Deutsch­land, ein Rück­gang um 33 Pro­zent. Allein die bei­den Län­der Syri­en und Afgha­ni­stan mach­ten als Her­kunfts­län­der fast die Hälf­te aller Asyl­su­chen­den in Deutsch­land aus. Das belegt die Unsach­lich­keit vie­ler Debat­ten über eine ver­meint­lich unbe­grün­de­te, »ille­ga­le Migration«.

Es folgt die Tür­kei (29.200, minus 52 Pro­zent), wo nicht zuletzt die Ver­haf­tung des Istan­bu­ler Ober­bür­ger­meis­ters Ekrem İmam­oğlu im März 2025 und die mas­sen­haf­ten Fest­nah­men von Journalist*innen, Fotograf*innen und Demonstrant*innen zeigt, mit wel­cher Här­te Prä­si­dent Erdoğan gegen poli­ti­sche Geg­ner vorgeht.

BAMF-Praxis immer restriktiver

Der poli­ti­sche Dis­kurs, der Men­schen, die vor Krieg, Ver­fol­gung und Gewalt aus ihrer Hei­mat flüch­ten müs­sen, zu »ille­ga­len Migran­ten« degra­diert, schlägt sich längst auch in der Aner­ken­nungs­pra­xis des BAMF nie­der. Ins­ge­samt gewähr­te das BAMF zwar immer noch in 59 Pro­zent der inhalt­lich geprüf­ten Asyl­an­trä­ge Schutz. Im Ver­gleich zu 2023 ist die­se Quo­te jedoch um zehn Pro­zent nied­ri­ger. 17 Pro­zent der Schutz­su­chen­den erhiel­ten 2024 eine Aner­ken­nung als Flücht­ling, 33 Pro­zent den sub­si­diä­ren Schutz und wei­te­re 9 Pro­zent ein Abschie­bungs­ver­bot. Abge­lehnt wur­den 41 Prozent.

75.700 Ent­schei­dun­gen, also ein Vier­tel der über 300.000 BAMF-Ent­schei­dun­gen waren »for­mel­le Erle­di­gun­gen«. Die­se Asyl­an­trä­ge wur­den inhalt­lich nicht geprüft.

75.700 Ent­schei­dun­gen, also ein Vier­tel der über 300.000 BAMF-Ent­schei­dun­gen waren »for­mel­le Erle­di­gun­gen«. Die­se Asyl­an­trä­ge wur­den inhalt­lich nicht geprüft, weil bei­spiels­wei­se ein ande­rer Staat zustän­dig war oder Men­schen ihren Asyl­an­trag zurück­ge­nom­men haben. Die­se Anträ­ge sind in der berei­nig­ten Schutz­quo­te her­aus­ge­rech­net, wes­halb die­se von den offi­zi­el­len BAMF-Zah­len abweicht. Aller­dings ver­fäl­schen die offi­zi­el­len Sta­tis­ti­ken das Bild der tat­säch­li­chen Asyl­ge­wäh­rung, da eine »for­mel­le Erle­di­gung« zwar eine nega­ti­ve Ent­schei­dung ist, jedoch nichts über die Schutz­be­dürf­tig­keit der Men­schen aus­sagt und dadurch die Schutz­quo­ten gerin­ger wir­ken las­sen, als sie in Wirk­lich­keit sind.

Die um zehn Pro­zent ver­rin­ger­te Schutz­quo­te lässt sich ins­be­son­de­re mit einer deut­lich ver­schärf­ten BAMF-Pra­xis begrün­den. Men­schen aus Syri­en erhiel­ten zwar wie in den Vor­jah­ren zu fast ein­hun­dert Pro­zent einen Schutz­sta­tus – rund neun­zig Pro­zent den sub­si­diä­ren Schutz. Auf­fäl­lig nach unten ent­wi­ckelt hat sich jedoch die Schutz­quo­te für Men­schen aus Afgha­ni­stan –  ohne dass sich unter der Ter­ror­herr­schaft der Tali­ban etwas zum Posi­ti­ven ver­än­dert hät­te: Lag sie 2023 noch bei 99 Pro­zent, ist sie 2024 auf 93 Pro­zent gesun­ken. Schaut man sich monat­li­che Zah­len an, fällt auf, dass bis zur Jah­res­hälf­te in Deutsch­land nur rund drei Pro­zent aller Afghan*innen abge­lehnt wur­den, ab Sep­tem­ber 2024 dann aber mehr als zehn Pro­zent. Wäh­rend afgha­ni­sche Frau­en auch dank eines Urteils des EUGHs in der Regel die Flücht­lings­ei­gen­schaft erhal­ten, kas­sie­ren immer mehr afgha­ni­sche Män­ner eine Ablehnung.

Die­ser Trend setzt sich 2025 wei­ter und sehr ver­stärkt fort: Im ers­ten Quar­tal wur­den bereits drei­ßig Pro­zent  der Asyl­su­chen­den aus Afgha­ni­stan kom­plett abge­lehnt. Nach­voll­zieh­bar ist der Anstieg der Ableh­nungs­quo­te von einem Pro­zent auf über 25 Pro­zent bin­nen 15 Mona­ten und ange­sichts der desas­trö­sen Men­schen­rechts­la­ge und kata­stro­pha­len huma­ni­tä­ren Situa­ti­on unter den Tali­ban nicht. Die Ver­mu­tung liegt nahe, dass dies eine Fol­ge der hit­zi­gen Debat­ten nach den Anschlä­gen von afgha­ni­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Deutsch­land ist – und somit popu­lis­tisch moti­viert, anstatt recht­lich oder poli­tisch nachvollziehbar.

Auch in der Tür­kei hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren wenig zum Guten ver­än­dert. Die Ver­haf­tung İmam­oğlus und jene von tau­sen­den Demonstrant*innen zeigt, dass Prä­si­dent Erdoğan bes­ten­falls noch den Schein an Rechts­staat­lich­keit wahrt. Die Jus­tiz in der Tür­kei und die Staats­an­walt­schaf­ten sind nach 22 Jah­ren Herr­schaft Erdoğans kaum mehr als ein will­fäh­ri­ges Instru­ment der Repres­sio­nen gegen poli­ti­sche Geg­ner.

Die Schutz­quo­te für Asyl­su­chen­de aus der Tür­kei hin­ge­gen befin­det sich wei­ter im frei­en Fall. Nur noch 12 Pro­zent erhiel­ten Schutz. Zum Ver­gleich: 2020 erhielt noch rund die Hälf­te Schutz, 2022 noch mehr als ein Drit­tel, 2023 waren es 18 Prozent.

Erneut sind Kurd*innen  beson­ders von der Ableh­nungs­pra­xis des BAMF betrof­fen und erhiel­ten nur noch in vier Pro­zent der Fäl­le Schutz (2023: sechs Pro­zent). Aber auch tür­ki­sche Volks­zu­ge­hö­ri­ge erhiel­ten in nur noch zu 54 Pro­zent Schutz. Im Ver­gleich zu 2023, als mit 65 Pro­zent noch fast zwei Drit­tel als schutz­be­rech­tigt aner­kannt wur­den, ist dies ein deut­li­cher Rück­gang. Die­ser Rück­gang wird auch offen­sicht­lich, wenn man die Zah­len mit jenen aus den zurück­lie­gen­den Jah­ren ver­gleicht: 2020 erhiel­ten noch 78 Pro­zent aller Asyl­su­chen­der aus der Tür­kei einen Schutz­sta­tus, 2022 sogar 81 Prozent.

Bürokratie-Wahnsinn: Ein Drittel aller Asylverfahren sind Dublinverfahren

Neben inhalt­li­chen Prü­fun­gen von Asyl­an­trä­gen ist das BAMF auch für for­mel­le Prü­fun­gen zustän­dig. Es gab 32.700 soge­nann­te Dub­lin-Ent­schei­dun­gen, in denen das BAMF einen ande­ren euro­päi­schen Staat als zustän­dig ansah. Die­se Ver­fah­ren zur Bestim­mung der Zustän­dig­keit sind hoch­bü­ro­kra­tisch und bedro­hen zehn­tau­sen­de Schutz­su­chen­de mit Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, Obdach­lo­sig­keit und Inhaf­tie­rung, ins­be­son­de­re in süd- und ost­eu­ro­päi­schen Staaten.

In 74.600 Fäl­len hat das BAMF 2024 ein Dub­lin-Über­nah­me­ersu­chen an ande­re Staa­ten gestellt. Bezo­gen auf 229.800 Asy­l­erst­an­trä­ge bedeu­tet das, dass jeder drit­te Asyl­su­chen­de ein Dub­lin-Fall war. Die meis­ten Über­nah­me­ersu­chen gin­gen an Grie­chen­land (15.500), Kroa­ti­en (14.100), Ita­li­en (12.800) und Bul­ga­ri­en (8.100), also vor allem an Staa­ten mit men­schen­recht­lich höchst pro­ble­ma­ti­schen Lebens­be­din­gun­gen für Asylsuchende.

Dass die ita­lie­ni­sche Regie­rung sich seit Dezem­ber 2022 wei­gert, Flücht­lin­ge nach der Dub­lin-Ver­ord­nung zurück­zu­neh­men und auch Grie­chen­land seit Jah­ren nur in weni­gen Fäl­len zur Auf­nah­me in der Lage ist, hin­der­te das BAMF jedoch nicht dar­an, Dub­lin-Ver­fah­ren durch­zu­füh­ren. Genau­so wenig wie die Tat­sa­che, dass 77 bezie­hungs­wei­se 75 Pro­zent der Eil­an­trä­ge vor Gericht erfolg­reich waren und Abschie­bun­gen vor allem wegen der men­schen­recht­li­chen Situa­ti­on in bei­den Län­dern gestoppt wurden.

Ressourcenverschwendung hat einen Namen: Dublin

Im Rah­men der Dub­lin-Ver­ord­nung wur­den 5.800 Men­schen in den zustän­di­gen Staat über­stellt. Bezo­gen auf die Zahl der ein­ge­lei­te­ten Ver­fah­ren sind das gera­de ein­mal acht Pro­zent. In noch ganz ande­ren Dimen­sio­nen bewegt sich die­ses Miss­ver­hält­nis im Hin­blick auf Über­stel­lun­gen nach Ita­li­en oder Grie­chen­land (drei bezie­hungs­wei­se 22 Über­stel­lun­gen), wofür 28.000 abseh­bar unsin­ni­ge Ver­fah­ren geführt wurden.

In poli­ti­schen Debat­ten wird hin­ge­gen immer wie­der sug­ge­riert, dass das Dub­lin-Sys­tem des­halb nicht funk­tio­nie­re, weil Men­schen sich ihrer Abschie­bung ent­zie­hen. Tat­säch­lich konn­ten laut Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung auf eine Anfra­ge der Lin­ken 40.100 Dub­lin-Über­stel­lun­gen im Jahr 2024 nicht frist­ge­recht durch­ge­führt wer­den. Jedoch wur­den nur in knapp 13 Pro­zent der Fäl­le (5.000) die Schutz­su­chen­den selbst dafür ver­ant­wort­lich gemacht, dass ihre Abschie­bung schei­ter­te, durch »Unter­tau­chen« (4.800), »Reni­tenz« oder »Suizidversuch/Selbstverletzung«. Vor allem Letz­te­res, aber auch das »Unter­tau­chen« bedeu­tet, bis zu andert­halb Jah­re in der »Ille­ga­li­tät« leben zu müs­sen, bevor Deutsch­land für das Asyl­ver­fah­ren zustän­dig wird. Das dies den­noch in eini­gen Fäl­len in Kauf genom­men wird, zeigt, wie ver­zwei­felt vie­le Men­schen auf­grund einer dro­hen­den Abschie­bung nach Grie­chen­land, Bul­ga­ri­en oder Kroa­ti­en sind. Im Regel­fall sind jedoch die ande­ren Mit­glied­staa­ten bezie­hungs­wei­se behörd­li­che und orga­ni­sa­to­ri­sche Pro­ble­me oder ande­res für ein Schei­tern von Über­stel­lun­gen verantwortlich.

Die deut­sche Asyl­be­hör­de war im ver­gan­ge­nen Jahr mit meh­re­ren Tau­sen­den ein- und aus­ge­hen­den Dub­lin­ver­fah­ren beschäf­tigt. Die­ser immense Auf­wand wur­de betrie­ben, um in der Sum­me 1.200 Asyl­an­trä­ge weni­ger in Deutsch­land inhalt­lich zu prüfen.

Aus dem euro­päi­schen Aus­land gin­gen 15.000 Über­nah­me­ersu­che zwecks Zustän­dig­keit beim BAMF ein, 4.600 Men­schen wur­den letzt­end­lich nach Deutsch­land über­stellt. Damit war die deut­sche Asyl­be­hör­de im ver­gan­ge­nen Jahr also mit meh­re­ren Tau­sen­den ein- und aus­ge­hen­den Dub­lin­ver­fah­ren beschäf­tigt. Die­ser immense Auf­wand wur­de betrie­ben, um in der Sum­me 1.200 Asyl­an­trä­ge weni­ger in Deutsch­land inhalt­lich zu prü­fen, indem man die Schutz­su­chen­den in den zustän­di­gen Mit­glieds­staat über­stell­te. Die per­so­nel­len und finan­zi­el­len Res­sour­cen, die ein solch inef­fi­zi­en­tes Sys­tem bei BAMF und Gerich­ten bin­det (und zudem zu teils unmensch­li­chen Här­ten führt), wären zur Inte­gra­ti­on der Men­schen bes­ser investiert.

Ein nicht funk­tio­nie­ren­des und auch abseh­bar durch die GEAS-Reform kaum ver­än­der­tes,  ergo wei­ter­hin dys­funk­tio­na­les Zustän­dig­keits­sys­tem durch offe­nen Rechts­bruch und »Aus­hun­gern« von Dub­lin-Fäl­len sowie Zurück­wei­sun­gen von Asyl­su­chen­den an deut­schen Gren­zen »lösen« zu wol­len, kann nie­mals Mit­tel rechts­staat­li­cher Poli­tik sein.

»Bekämpfung der illegalen Migration« heißt: Geflüchteten illegal Menschenrechte verweigern!

Umfas­sen­de Kon­trol­len an den deut­schen Süd- und Ost­gren­zen wur­den schon im Okto­ber 2023 ein­ge­führt; seit Sep­tem­ber 2024 wird an allen Gren­zen kon­trol­liert. Ange­sichts der Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung auf eine Anfra­ge der Lin­ken zur Situa­ti­on an den deut­schen Bin­nen­gren­zen muss davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass rechts­wid­ri­ge Zurück­wei­sun­gen von Asyl­su­chen­den an deut­schen Gren­zen schon lan­ge All­tag sind.

Die Men­schen, die 2024 beim Ver­such der »uner­laub­ten Ein­rei­se« von der Bun­des­po­li­zei zurück­ge­wie­sen wur­den, kamen haupt­säch­lich aus Län­dern, aus denen der Groß­teil der Asyl- und Schutz­su­chen­den stammt, näm­lich aus Syri­en, der Ukrai­ne, Afgha­ni­stan und der Tür­kei. Men­schen also, die aller Wahr­schein­lich­keit nach schutz­be­dürf­tig sind. Ins­ge­samt wur­de 2024 an deut­schen Land­gren­zen 37.500 Per­so­nen die Ein­rei­se ver­wei­gert. Im Jahr zuvor waren es 29.300 Zurück­wei­sun­gen. Das bedeu­tet einen Anstieg um 28 Prozent.

Es ist kaum vor­stell­bar, dass die­se Men­schen an der Gren­ze nicht nach Schutz oder Asyl gefragt haben sol­len, sodass sie hät­ten ein­rei­sen und offi­zi­ell einen Asyl­an­trag stel­len dür­fen. Zumal Men­schen aus die­sen Län­dern (bis auf die Tür­kei) im Asyl­ver­fah­ren sehr hohe Schutz­quo­ten haben und Kriegs­ver­trie­be­ne aus der Ukrai­ne vor­über­ge­hen­den Schutz erhal­ten kön­nen. Die Ver­mu­tung liegt also nahe, dass ent­spre­chen­de Asyl­ge­su­che von den zustän­di­gen Beamt*innen schlicht »über­hört» wer­den, wie auch Erfah­run­gen aus der Pra­xis zeigen.

Dem­ge­gen­über ist die Zahl der fest­ge­stell­ten »uner­laub­ten Ein­rei­sen« an den deut­schen Land­gren­zen zurück­ge­gan­gen. Im Jahr 2023 wur­den noch 112.900 Men­schen nach »uner­laub­tem Grenz­über­tritt» von der Bun­des­po­li­zei auf­ge­grif­fen, im ver­gan­ge­nen Jahr waren es 72.000. Die­ser Rück­gang um 36 Pro­zent lässt sich als poli­ti­scher Erfolg verkaufen.

Aller­dings lohnt sich ein genaue­rer Blick:  Auch hier waren die Haupt­staats­an­ge­hö­rig­kei­ten syrisch, ukrai­nisch, afgha­nisch und tür­kisch. Allein die­se vier Län­der machen fast die Hälf­te aller fest­ge­stell­ten »uner­laub­ten Ein­rei­sen« aus. Obwohl es sich dabei vor allem um Haupt­her­kunfts­län­der von Asyl­su­chen­den han­delt, hat die Bun­des­po­li­zei im ver­gan­ge­nen Jahr nur noch in zwan­zig Pro­zent der Fäl­le ein Asyl­ge­such regis­triert. Zum Ver­gleich: im Jahr 2023 äußer­ten noch 43 Pro­zent der uner­laubt Ein­ge­reis­ten ein Asyl­ge­such gegen­über der Bun­des­po­li­zei an einer Land­gren­ze. Die­ser Anteil hat sich also mehr als hal­biert. Der poli­ti­sche Wil­le, Schutz­su­chen­den ihr Grund­recht auf Asyl zu ver­wei­gern, scheint sich in der Arbeit der Bun­des­po­li­zei an der Gren­ze nie­der­zu­schla­gen. Einem dys­funk­tio­na­len Dub­lin-Sys­tem mit rechts­wid­ri­gen Zurück­wei­sun­gen zu begeg­nen und dadurch mit zehn­tau­send­fa­chem Euro­pa- und Grund­rechts­bruch löst aber nicht das Pro­blem, son­dern stellt allein Men­schen­rech­te zur Disposition.

Abschiebungen um 22 Prozent gestiegen, aber Zahl der »freiwilligen« Ausreisen deutlich höher

Neben dem poli­ti­schen Ziel, mög­lichst kei­ne Schutz­su­chen­den mehr ins Land zu las­sen, bemü­hen sich poli­ti­sche Entscheidungsträger*innen dar­um, Men­schen außer Lan­des zu brin­gen. 20.100 Men­schen wur­den im ver­gan­ge­nen Jahr zwangs­wei­se aus Deutsch­land abge­scho­ben, teils unter höchst dra­ma­ti­schen Umstän­den. Damit nähert sich die Zahl der Abschie­bun­gen wie­der dem Vor-Coro­na-Niveau. Was kaum jemand weiß: Im letz­ten Jahr sind 33.500 Men­schen »frei­wil­lig« aus Deutsch­land aus­ge­reist – also deut­lich mehr Men­schen, als abge­scho­ben wur­den. Dies ist kei­ne neue Erkennt­nis, son­dern bereits seit Jah­ren so. Der behörd­li­che Druck auf Men­schen, aus­zu­rei­sen, ist jedoch kon­stant hoch, sodass die Frei­wil­lig­keit in vie­len Fäl­len in Fra­ge gestellt wer­den muss.

Abschie­bung als viel­ge­prie­se­nes All­heil­mit­tel, damit »aus­rei­se­pflich­ti­ge« Men­schen das Land ver­las­sen, wird durch Sta­tis­ti­ken jeden­falls nicht gestützt. Vie­le Men­schen ver­las­sen Deutsch­land eigen­stän­dig mit unbe­kann­tem Ziel, ohne sich vor­her behörd­lich abzu­mel­den. Somit dürf­te die Zahl der Men­schen, die Deutsch­land auf eige­ne Faust ver­las­sen noch viel höher sein, als unter den »frei­wil­li­gen« Aus­rei­sen sta­tis­tisch erfasst. Staat­li­che Repres­sio­nen und zuneh­men­de Inhaf­tie­run­gen, die häu­fig mit Abschie­bun­gen ein­her­ge­hen, wer­den zu mehr Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen füh­ren, die die Gerich­te kor­ri­gie­ren müs­sen – aber sicher nicht zu den ver­spro­che­nen wesent­lich mehr Abschie­bun­gen, selbst wenn dies ver­meint­lich logisch klin­gen mag. Abschie­bun­gen haben noch nie »gut funktioniert«.

Deutsch­land schiebt Men­schen haupt­säch­lich nach Geor­gi­en (1.900), Nord­ma­ze­do­ni­en (1.400), in die Tür­kei (1.100), nach Alba­ni­en (1.100) und Ser­bi­en (1.000) ab. Das sind alles Län­der, in die Abschie­bun­gen wei­test­ge­hend pro­blem­los mög­lich sind. So las­sen sich gestie­ge­ne Abschie­bungs­zah­len als poli­ti­scher Erfolg feiern.

Abschie­bun­gen in die meis­ten ande­ren Län­der sind aber auf­grund der dor­ti­gen men­schen­recht­li­chen Situa­ti­on unmög­lich oder sie schei­tern an prak­ti­schen Grün­den, weil man­che Staa­ten nicht zur Rück­nah­me von Men­schen bereit sind. Die Haupt­her­kunfts­län­der der »aus­rei­se­pflich­ti­gen« Gedul­de­ten sind der Irak (19.400), die Tür­kei (12.100), Afgha­ni­stan (10.900), Nige­ria (10.500), die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on (10.100) und Syri­en (8.800). Die­se Län­der und die­se Zah­len bele­gen, dass »Abschie­bun­gen im gro­ßen Stil« in die meis­ten die­ser Staa­ten schlicht unmög­lich sind.

Mehr als 91 Prozent der Abschiebungen scheitern nicht an den Betroffenen

Auch die Zahl der Men­schen, die sich nach offi­zi­el­len Anga­ben bewusst der Abschie­bung ent­zie­hen, ist seit Jah­ren sta­bil. Ende 2024 hat­ten 16.000 Men­schen eine Dul­dung wegen »unge­klär­ter Iden­ti­tät«. Bei 178.500 Gedul­de­ten ins­ge­samt, die im Grun­de genom­men alle aus­rei­se­pflich­tig sind, ent­spricht dies einen Anteil von neun Pro­zent. Oder anders aus­ge­drückt: 91 Pro­zent der Men­schen, die abge­scho­ben wer­den sol­len, sind sogar aus Sicht der Behör­den nicht selbst dar­an »schuld«, dass sie nicht abge­scho­ben wer­den können.

40% aller Gedul­de­ten leben seit mehr als fünf Jah­ren in Deutschland.

Man mag es kri­ti­sie­ren, dass Staa­ten Men­schen nicht zurück­neh­men oder dass die Lage in man­chen Staa­ten Abschie­bun­gen nicht zulässt. Aber man wird die­se Rea­li­tät durch die immer wei­ter­ge­hen­de Stig­ma­ti­sie­rung und Ent­rech­tung von Men­schen nie­mals lösen können.

Für die­se Rea­li­tät spricht auch, dass 40 Pro­zent der Gedul­de­ten (Stand Ende Juni 2024) seit mehr als fünf Jah­ren in Deutsch­land leb­ten. Obwohl das Chan­cen-Auf­ent­halts­recht Zehn­tau­sen­den aus der Dul­dung zu einer Auf­ent­halts­er­laub­nis ver­hol­fen hat, sind immer noch knapp 75.000 aller Gedul­de­ten seit mehr als fünf Jah­ren in Deutsch­land. Dies lässt sich unter ande­rem damit begrün­den, dass vie­le Men­schen gute oder sogar zwin­gen­de Grün­de für eine Dul­dung haben. Das Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ter schlüs­selt die­se Grün­de nur bedingt auf, aber bei­spiels­wei­se haben 20.800 Men­schen eine Dul­dung wegen fami­liä­rer Bin­dun­gen, 6.600 wegen drin­gen­den huma­ni­tä­ren oder per­sön­li­chen Grün­den (zum Bei­spiel Been­di­gung der Schu­le oder die Betreu­ung kran­ker Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ger), 6.300 wegen eines gesetz­li­chen Abschie­bungs­ver­bots (also kon­kret dro­hen­den Gefah­ren für Leib und Leben), 3.500 als unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge und 2.800 wegen einer Aus­bil­dung. Die­se Dul­dungs­grün­de wer­den in der Regel län­ger bestehen blei­ben und in vie­len Fäl­len im wei­te­ren Ver­lauf zu einem Blei­be­recht füh­ren. Trotz­dem sind die Men­schen oft über vie­le Jah­re nur gedul­det und aus­rei­se­pflich­tig – aber eben trotz­dem nicht unbe­dingt »abschieb­bar«.

68.000

Men­schen haben bis­lang vom Chan­cen-Auf­ent­halts­recht profitiert.

Die pragmatische Lösung: Chancen-Aufenthaltsrecht jetzt verlängern!

Nicht zuletzt die­se Zah­len spre­chen für eine Ver­län­ge­rung des Chan­cen-Auf­ent­halts­rechts, der im letz­ten Jahr­zehnt ein­zi­gen erfolg­rei­chen Maß­nah­me zur Ver­rin­ge­rung der Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen und Gedul­de­ten. Ende Dezem­ber 2024 hat­ten 59.900 Men­schen einen Chan­cen-Auf­ent­halt, 8.200 hat­ten bereits ein »ech­tes« Blei­be­recht wegen guter Inte­gra­ti­on im Anschluss dar­an. Somit haben bis­her 68.000 Men­schen davon pro­fi­tiert, die vor Ende Okto­ber 2017 ein­ge­reist sind, also seit mitt­ler­wei­le mehr als sie­ben­ein­halb Jah­ren in Deutsch­land leben.

Die Zahl der Gedul­de­ten sank bin­nen zwei Jah­ren von 248.100 auf 178.500. Das bedeu­tet einen Rück­gang um fast 70.000 oder 28 Pro­zent, nach­dem die Zahl trotz vie­ler gesetz­li­cher Ver­schär­fun­gen im Hin­blick auf Haft und Abschie­bun­gen zehn Jah­re lang gestie­gen war und sich ver­drei­facht (!) hat­te. Dies spricht gegen mehr Haft und här­te­re Abschie­bun­gen und für eine Ver­län­ge­rung des Chan­cen-Auf­ent­halts­rechts. Ansons­ten wird die Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen wie­der stei­gen, was außer der popu­lis­ti­schen Pro­pa­gan­da der Rechts­extre­men nie­man­dem hel­fen wür­de, weder den Men­schen noch der Wirt­schaft oder der künf­ti­gen Regierungskoalition.

Recht nicht durch Rechtsbruch herstellen!

Die Debat­ten der letz­ten Mona­te und die bis­he­ri­gen Koali­ti­ons­ge­sprä­che von CDU/CSU und SPD geben zwar wenig Anlass zur Hoff­nung, dass sich der poli­ti­sche Dis­kurs über die ver­meint­lich »unge­steu­er­te, irre­gu­lä­re Migra­ti­on« wie­der der Rea­li­tät annä­hern und ver­sach­li­chen wird. Statt­des­sen wer­den ver­mut­lich »ein­fa­che Lösun­gen« prä­sen­tiert wer­den, wie die rechts­wid­ri­ge Zurück­wei­sung von Asyl­su­chen­den an der Gren­ze, die Aus­wei­tung hin zur kom­plet­ten Leis­tungs­strei­chung in Dub­lin-Fäl­len, die dau­er­haf­te Inhaf­tie­rung von »Aus­rei­se­pflich­ti­gen« oder die Abschaf­fung des Fami­li­en­nach­zugs für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te zeigt. All das löst jedoch kei­ne Pro­ble­me, son­dern schafft nur neue.

Wer­den Grund­sät­ze des Rechts­staats aus­ge­höhlt, ist das nicht nur eine Gefahr für Schutz­su­chen­de und deren Ange­hö­ri­ge, son­dern für uns alle.

Sol­che Maß­nah­men set­zen sich näm­lich über kla­re Vor­ga­ben der euro­päi­schen und natio­na­len Recht­spre­chung hin­weg, was die Grund­sät­ze des Rechts­staats aus­höhlt und die Gewal­ten­tei­lung in Fra­ge stellt. Des­we­gen sind sie nicht nur eine Gefahr für Schutz­su­chen­de und deren Ange­hö­ri­ge, son­dern für uns alle.

Menschenrechte gehen uns alle an, nicht nur Schutzsuchende!

Kri­sen und Kon­flik­te wer­den welt­weit wei­ter zuneh­men und auch künf­tig wer­den Men­schen flüch­ten müs­sen. Wer in Lebens­ge­fahr ist, wird sich weder durch Grenz­kon­trol­len noch durch Haft abhal­ten las­sen, um sein Leben in Sicher­heit zu brin­gen. Des­sen soll­ten wir uns bewusst sein.

Dass Flucht und Migra­ti­on auch Pro­ble­me mit sich brin­gen, liegt in der Natur der Sache. Aber die­se Pro­ble­me sind nur mit Huma­ni­tät, Zusam­men­halt und dem Ein­ste­hen für demo­kra­ti­sche und rechts­staat­li­che Wer­te zu lösen. Es ist alter­na­tiv­los, Huma­ni­tät, Soli­da­ri­tät und den Rechts­staat wei­ter zu ver­tei­di­gen. Denn Men­schen­rech­te gehen uns alle an und nicht nur die­je­ni­gen, die bei uns Schutz suchen.

(dmo)