22.10.2024
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Demonstration für die Rechte von Frauen in Afghanistan anlässlich des Weltfrauentages. Foto: PRO ASYL /Jonas Bickmann

Frauen in Afghanistan werden unsichtbar gemacht – allein, weil sie Frauen sind. Deshalb brauchen sie Schutz. Diese Forderung stellt PRO ASYL schon lange, nun hat auch der Europäische Gerichtshof das anerkannt. Das Urteil bedeutet: Deutschland muss afghanischen Frauen grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft gewähren.

Frau­en aus Afgha­ni­stan wird »das Recht auf ein men­schen­wür­di­ges All­tags­le­ben in ihrem Her­kunfts­land ver­wehrt«, indem ihnen »in fla­gran­ter Wei­se hart­nä­ckig aus Grün­den ihres Geschlechts die mit der Men­schen­wür­de ver­bun­de­nen Grund­rech­te vor­ent­hal­ten wer­den.« Deut­li­cher hät­te der Euro­päi­sche Gerichts­hof (EuGH) die grau­en­haf­te Situa­ti­on, die sich wie von PRO ASYL doku­men­tiert rapi­de ver­schlech­tert, nicht beschrei­ben kön­nen. Kei­ne Frau in Afgha­ni­stan kann ein Leben frei von schwer­wie­gen­den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen führen.

Genderapartheid in Afghanistan anerkannt

Das Urteil des EuGH reiht sich in meh­re­re aktu­el­le poli­ti­sche Ereig­nis­se ein. Die Situa­ti­on der Frau­en in Afgha­ni­stan hat zuletzt end­lich die Auf­merk­sam­keit der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft erregt.

So hat das Euro­päi­sche Par­la­ment am 19. Sep­tem­ber eine Reso­lu­ti­on ver­ab­schie­det, in der die Dis­kri­mi­nie­rung von Frau­en ver­ur­teilt und klar als Gen­der­apart­heid benannt wird. Laut der Reso­lu­ti­on haben die Tali­ban ihre extre­me Aus­le­gung der Scha­ria durch­ge­setzt und Frau­en aus dem öffent­li­chen Leben verbannt.

Einen Monat spä­ter, am 27.09.2024, for­der­ten Deutsch­land, Aus­tra­li­en, Kana­da und die Nie­der­lan­de die Tali­ban in einer Erklä­rung auf, die­sen Ver­pflich­tun­gen nach­zu­kom­men: »Afgha­ni­stans Frau­en und Mäd­chen ver­die­nen nichts weni­ger als die unein­ge­schränk­te Wahr­neh­mung ihrer Menschenrechte.«

Die­ser Erklä­rung schlos­sen sich 26 Staa­ten sowie die Gene­ral­se­kre­tä­re der Ver­ein­ten Natio­nen an. Sie bekla­gen, dass die Tali­ban die Rech­te der Frau­en miss­ach­tet. Damit ver­sto­ßen sie gegen die UN-Frau­en­rechts­kon­ven­ti­on CEDAW, die Afgha­ni­stan 2003 unter­schrie­ben hat. Die Ver­trags­staa­ten dro­hen mit Konsequenzen.

Flüchtlingseigenschaft auch ohne individuelle Prüfung

Mit sei­nem Urteil vom 4. Okto­ber 2024 hat der EuGH die­se Rea­li­tät aner­kannt und ent­schie­den, dass allen afgha­ni­schen Frau­en, die in Euro­pa Schutz suchen, die­ser Schutz auch gewährt wer­den muss.

Dem neu­en EuGH-Urteil lag der Fall der afgha­ni­schen Frau­en AH und AF zugrun­de, die in Öster­reich Asyl bean­tragt hat­ten. Ihre Anträ­ge wur­den zunächst von den öster­rei­chi­schen Behör­den und anschlie­ßend erneut von dem Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt abge­lehnt. Der öster­rei­chi­sche Gerichts­hof zwei­fel­te jedoch an die­sen Ent­schei­dun­gen und leg­te dem EuGH die Fra­ge vor, ob nicht allein die Situa­ti­on der Frau­en unter dem neu­en Tali­ban-Regime die Aner­ken­nung der Flücht­lings­ei­gen­schaft rechtfertige.

Der EuGH ent­schied nun, dass die Situa­ti­on der Frau­en in Afgha­ni­stan so gra­vie­rend ist, dass sie die recht­li­che Schwel­le zur Ver­fol­gung erreicht: eine Hand­lung, die eine schwer­wie­gen­de Ver­let­zung grund­le­gen­der Men­schen­rech­te dar­stellt. Nach Arti­kel 9 Abs. 1 Buch­sta­be b der Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie kann Ver­fol­gung auch in der Kumu­lie­rung ver­schie­de­ner Maß­nah­men bestehen.

So könn­ten Zwangs­ver­hei­ra­tun­gen als eine Form der Skla­ve­rei betrach­tet wer­den, die nach Art. 4 EMRK ver­bo­ten ist. Der man­geln­de Schutz vor geschlechts­spe­zi­fi­scher und häus­li­cher Gewalt wird zudem als unmensch­li­che und ernied­ri­gen­de Behand­lung gewer­tet, die nach Art. 3 EMRK eben­falls unter­sagt ist. Die »dis­kri­mi­nie­ren­den Maß­nah­men gegen Frau­en, die den Zugang zur Gesund­heits­für­sor­ge, zum poli­ti­schen Leben und zur Bil­dung sowie die Aus­übung einer beruf­li­chen oder sport­li­chen Tätig­keit ein­schrän­ken, die Bewe­gungs­frei­heit behin­dern oder die Frei­heit, sich zu klei­den, beein­träch­ti­gen« füh­ren ins­ge­samt zu gra­vie­ren­den Beein­träch­ti­gung. Die­se Ein­schrän­kun­gen errei­chen zusam­men­ge­nom­men den erfor­der­li­chen Schwe­re­grad, um als Ver­fol­gung ein­ge­stuft zu werden.

Dies führt zur zwei­ten Fra­ge, die vom Gericht beant­wor­tet wur­de: Wenn die Situa­ti­on der afgha­ni­schen Frau­en so ein­deu­tig ist, ist eine indi­vi­du­el­le Prü­fung dann über­haupt noch erfor­der­lich? Nein, sagt der Gerichts­hof. Die natio­na­len Behör­den dür­fen davon aus­ge­hen, dass afgha­ni­sche Frau­en grund­sätz­lich Ver­fol­gung aus­ge­setzt sind. Daher kön­nen die Behör­den ihnen den Flücht­lings­sta­tus gewäh­ren, ohne die indi­vi­du­el­len Umstän­de jeder Frau näher zu betrachten.

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Afgha­ni­sche Stu­den­tin­nen pro­tes­tie­ren gegen das Ver­bot, die Uni­ver­si­tät zu besu­chen. Quel­le: X

Rechtliche Möglichkeiten für afghanische Frauen in Deutschland

Die Ent­schei­dung des EuGH ist eine posi­ti­ve Nach­richt für alle afgha­ni­schen Frau­en, die sich noch im Asyl­ver­fah­ren befin­den, da das Urteil für deren Ent­schei­dung bin­dend ist. Es bie­tet aber auch eine Chan­ce für afgha­ni­sche Frau­en, deren Anträ­ge (teil­wei­se) abge­lehnt wur­den: Sie kön­nen nun einen Asyl­fol­ge­an­trag stel­len, da das neue EuGH-Urteil eine »Ände­rung der Rechts­la­ge« und damit ein »neu­er Umstand« dar­stellt, was für die Durch­füh­rung des Fol­ge­an­trags erfor­der­lich ist (ver­glei­che § 71 Abs. 1 Asyl­ge­setz in Ver­bin­dung mit § 51 Ver­wal­tungs­ver­fah­rens­ge­setz und Art. 33 Abs. 2 lit. d der Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie). Wur­de den Frau­en in der Ver­gan­gen­heit nur ein Abschie­bungs­ver­bot aner­kannt, haben sie nun die Chan­ce, nach­träg­lich doch noch den bes­se­ren Schutz der Flücht­lings­ei­gen­schaft zuge­spro­chen zu bekom­men. Betrof­fe­ne sol­len sich hier­für im Zwei­fel an eine Bera­tungs­stel­le oder  Anwält*innen wenden.

Zum Hin­ter­grund: Lan­ge Zeit erhiel­ten afgha­ni­sche Frau­en vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) oft nur ein Abschie­be­ver­bot. Damit blie­ben ihnen wich­ti­ge Rech­te vor­ent­hal­ten. Seit letz­tem Jahr beob­ach­ten wir ein Umden­ken beim BAMF, das afgha­ni­schen Frau­en mitt­ler­wei­le meist den Flücht­lings­sta­tus zuspricht: Wäh­rend im Jahr 2022 nur 29,2 Pro­zent der afgha­ni­schen Frau­en den Flücht­lings­sta­tus erhiel­ten, stieg die Aner­ken­nung im Jahr 2023 auf 76,2 Pro­zent und im ers­ten Halb­jahr 2024 sogar auf 91,6 Prozent.

Das Urteil ist den­noch äußerst wich­tig, da eine Pra­xis der grund­sätz­li­chen Flücht­lings­an­er­ken­nung für afgha­ni­sche Frau­en sich noch nicht voll­stän­dig eta­bliert hat. Die bei­den afgha­ni­schen Frau­en AH und AF bei­spiels­wei­se, die die Schutz­su­chen­den im Ver­fah­ren vor dem EuGH waren, wur­den von einem unter­ge­ord­ne­ten öster­rei­chi­schen Gericht abge­lehnt, weil sie nicht aus­rei­chend eine »west­li­che Lebens­füh­rung« ent­wi­ckelt hät­ten, die sie bei einer Rück­kehr nach Afgha­ni­stan auf­ge­ben müssten.

Eine ähn­li­che Argu­men­ta­ti­on wur­de in den ver­gan­ge­nen Jah­ren von deut­schen Ver­wal­tungs­ge­rich­ten vor­ge­bracht. Eine Klä­ge­rin vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Arns­berg soll­te »zur sozia­len Grup­pe der Frau­en gehö­ren, deren Iden­ti­tät auf­grund eines mehr­jäh­ri­gen Auf­ent­halts in Euro­pa west­lich geprägt ist« und somit den Flücht­lings­sta­tus erhal­ten. (VG Arns­berg, Urteil vom 27.04.2023 – 6 K 8857/17.A) Das Ver­wal­tungs­ge­richt Sig­ma­rin­gen ent­schied vor weni­ger als einem Jahr, dass einer afgha­ni­schen Frau der Flücht­lings­sta­tus gewährt wer­den soll­te, da sie »mit ihrem beson­de­ren indi­vi­du­el­len Risi­ko- und Gefähr­dungs­pro­fil« als unver­hei­ra­te­te, schii­ti­sche Frau der Volks­grup­pe der Haza­ra wahr­schein­lich Ver­fol­gung aus­ge­setzt wäre. (VG Sig­ma­rin­gen, Urteil vom 23.10.2023 – A 5 K 4009/21)

Das Urteil des EuGH macht aber deut­lich: Alle afgha­ni­schen Frau­en sind Ver­fol­gung aus­ge­setzt und soll­ten daher per se den Flücht­lings­sta­tus erhal­ten. Es ist uner­heb­lich, inwie­weit sie sich »ver­west­licht« haben oder zu ande­ren dis­kri­mi­nier­ten sozia­len Grup­pen gehören.

Forderung an das BAMF: Afghanische Frauen müssen als Flüchtlinge anerkannt werden

PRO ASYL for­dert das BAMF auf, das Urteil des EuGH in der Pra­xis kon­se­quent umzu­set­zen. Das Urteil stellt unmiss­ver­ständ­lich klar, dass afgha­ni­sche Frau­en poli­tisch ver­folgt wer­den und als Flücht­lin­ge aner­kannt wer­den soll­ten. Das BAMF muss den Leid­tra­gen­den die­ser Geschlech­ter­apart­heid Schutz in Form der Zuer­ken­nung der Flücht­lings­ei­gen­schaft gewähren.

(ll, aa)