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Plan für eine gemeinsame EU-Liste zu sicheren Herkunftsstaaten: Was Merkel und Hollande wollen, geht weder schnell, noch einfach. Foto: flickr.com/President of the European Council

In der aktuellen Diskussion um eine kohärente europäische Flüchtlingspolitik, die in Wahrheit eine um gemeinsame Methoden der Abschottung ist, haben Kanzlerin Merkel und der französische Präsident Hollande die Idee ins Spiel gebracht, eine gemeinsame Strategie zur Einstufung sicherer Herkunftsstaaten zu entwerfen. Es wird hier suggeriert, dies sei einfach und führe schnell zu einer Reduktion der Zugangszahlen. Das ist aus mehreren Gründen, auch im Hinblick auf die Balkanstaaten, falsch.

Die Ein­stu­fung siche­rer Her­kunfts­staa­ten obliegt den Nationalstaaten

Es gibt aktu­ell kein Ver­fah­ren zur EU-wei­ten gemein­sa­men Ein­stu­fung von Staa­ten als siche­re Her­kunfts­län­der. Die Art. 36 – 39 der EU-Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie, die gemein­sa­me Stan­dards für die Asyl­ver­fah­ren der Mit­glieds­staa­ten fest­legt, ermög­li­chen den Mit­glied­staa­ten inner­halb eines natio­na­len Ver­fah­rens Ein­stu­fun­gen vor­zu­neh­men, jedoch nicht ein­heit­lich durch die EU. Die alte Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie hat die­se Mög­lich­keit noch vor­ge­se­hen, jedoch hat­te der Euro­päi­sche Gerichts­hof die­se Rege­lun­gen für rechts­wid­rig ver­wor­fen, da das EU-Par­la­ment damals nicht am Ver­fah­ren betei­ligt wur­de. Bei der Neu­fas­sung der Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie 2013 wur­de die Mög­lich­keit der EU, Staa­ten als „sicher“ ein­zu­stu­fen“ voll­kom­men verworfen.

Wenn Mer­kel und Hol­lan­de ihre Idee wei­ter­ver­fol­gen wol­len, dann müss­te die­se Ein­stu­fung gleich­wohl in jedem ein­zel­nen Mit­glied­staat nach den dor­ti­gen Vor­schrif­ten durch das dor­ti­ge Ver­fah­ren gehen. Kurz­fris­tig ist damit eine ein­heit­li­che Poli­tik in die­sem Feld nach Euro­pa­recht über­haupt nicht mög­lich. Fak­tisch wür­de eine Umset­zung die­ser Idee zu Zeit­ver­zö­ge­run­gen füh­ren. Die par­la­men­ta­ri­schen Ver­fah­ren in den Mit­glied­staa­ten samt mög­li­chen Kla­gen vor natio­na­len Ver­fas­sungs­ge­richts­hö­fen wür­den dau­ern. Eine gemein­sa­me EU-Stra­te­gie wür­de eine Ände­rung der Ver­trä­ge oder den Erlass einer zwin­gen­den EU-Ver­ord­nung erfordern.

Die EU-Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie legt zumin­dest Vor­ga­ben fest, die der natio­na­le Gesetz­ge­ber zu beach­ten hat. Bei­spiels­wei­se darf kei­ne Ver­fol­gung im Sin­ne der Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie vor­lie­gen. Art. 36 der Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie regelt den Maß­stab für die Ein­füh­rung neu­er siche­rer Her­kunfts­staa­ten, wäh­rend Art. 37 den Maß­stab für die Bei­be­hal­tung natio­na­ler Lis­ten bil­det. Wei­ter­hin ver­langt das Euro­pa­recht, dass vor der Ein­stu­fung siche­rer Her­kunfts­staa­ten Orga­ni­sa­tio­nen wie EASO, UNHCR und der Euro­pa­rat kon­sul­tiert wer­den müs­sen. Der Men­schen­rechts­be­auf­trag­te des Euro­pa­ra­tes dürf­te sich zu eini­gen der Staa­ten, die Deutsch­land dem­nächst ger­ne auf der Lis­te sähe, hin­sicht­lich ihrer men­schen­recht­li­chen Rea­li­tät wohl kri­tisch äußern wollen.

Ein­zel­fall­prü­fung ist Kern des Asylverfahrens

Wer der Öffent­lich­keit weis­macht, dies alles las­se sich kurz­fris­tig mit ein paar admi­nis­tra­ti­ven Feder­stri­chen regeln, der bedient den Popu­lis­mus. Das Eti­kett „siche­rer Her­kunfts­staat“ hält kaum jeman­den von einer Asyl­an­trag­stel­lung ab. Als „offen­sicht­lich unbe­grün­det“ abge­lehnt wur­den in Deutsch­land schon vor der Benen­nung der siche­ren Her­kunfts­staa­ten Bos­ni­en, Ser­bi­en und Maze­do­ni­en vie­le Asyl­an­trä­ge aus die­sen Staa­ten. Das­sel­be gilt für die drei Bal­kan­staa­ten, die die Bun­des­re­gie­rung für die Lis­te im Auge hat (Alba­ni­en, Koso­vo, Mon­te­ne­gro). Bei der Debat­te geht vor allem ver­lo­ren: Der Kern des Asyl­rechts ist die indi­vi­du­el­le Ein­zel­fall­prü­fung. Jed­we­de pau­scha­le Ein­stu­fung von Staa­ten als angeb­lich „sicher“ höhlt die­se Grund­fes­te wei­ter aus.

Wer sich anschaut, wel­che Staa­ten aktu­ell von den jewei­li­gen EU-Mit­glied­staa­ten als sicher ein­ge­stuft wer­den, der wun­dert sich über die Lis­ten. Der grü­ne Abge­ord­ne­te Vol­ker Beck hat mit einem Brief an die EU-Kom­mis­si­on dar­auf hin­ge­wie­sen, dass zahl­rei­che der in eini­gen EU-Län­dern als „sicher“ gel­ten­den Her­kunfts­staa­ten Homo­se­xua­li­tät unter Stra­fe stel­len (z.B. Gam­bia, Indi­en, Kame­run etc.). Die Ein­stu­fun­gen erfol­gen höchst unter­schied­lich, je nach poli­ti­scher Oppor­tu­ni­tät, aber nicht nach den Maß­stä­ben des Flücht­lings­rechts. Die Ver­ge­mein­schaf­tung von Unfug bringt aber kei­nen Mehr­wert, weder für Deutsch­land, noch für die EU und schon gar nicht für die Flüchtlinge.

Alba­ni­en, Mon­te­ne­gro und der Koso­vo sind kei­ne siche­ren Herkunftsstaaten

Schon beim Ver­fah­ren vom Sep­tem­ber 2014 war offen­sicht­lich, dass die Ein­stu­fung siche­rer Her­kunfts­staa­ten nicht auf der tat­säch­li­chen Situa­ti­on in den Län­dern basier­te, son­dern poli­ti­scher Oppor­tu­ni­tät ent­sprang. In dem heu­te als „sicher“ gel­ten­den Staat Maze­do­ni­en etwa sind im Mai die innen­po­li­ti­schen Kon­flik­te eska­liert.

Auch die Situa­ti­on in den in der Dis­kus­si­on ste­hen­den Staa­ten Alba­ni­en, Koso­vo und Mon­te­ne­gro kann kei­nes­falls als „sicher“ gel­ten. Im Koso­vo haben nach dem Koso­vo­krieg im Zuge der eth­ni­schen Segre­ga­ti­on här­tes­te Ver­fol­gun­gen von Roma, Ash­ka­li und soge­nann­ten Ägyp­tern statt­ge­fun­den. Der Min­der­hei­ten­ex­odus als Fol­ge sys­te­ma­ti­scher Aus­gren­zung und Dis­kri­mi­nie­rung ging der aktu­el­len Aus­wan­de­rungs­wel­le der Koso­vo­al­ba­ner vor­aus. Auch in Alba­ni­en ist die Situa­ti­on für vie­le Men­schen fatal. Sowohl das Aus­wär­ti­ge Amt wie auch der Kom­mis­sar für Men­schen­rech­te des Euro­pa­ra­tes stel­len ein hohes Maß an „Kor­rup­ti­on, Nepo­tis­mus und orga­ni­sier­tes Ver­bre­chen und eine Kul­tur der Straf­lo­sig­keit und feh­len­den Imple­men­tie­rung der vor­han­de­nen Regel­wer­ke“ fest. Die­se schwer­wie­gen­den Defi­zi­te wür­den das wirk­sa­me Funk­tio­nie­ren des Gerichts­sys­tems ernst­haft beein­träch­ti­gen und das Ver­trau­en der Öffent­lich­keit in Gerech­tig­keit und Rechts­staat­lich­keit aus­höh­len. Das Aus­wär­ti­ge Amt berich­tet fer­ner über erheb­li­che gesell­schaft­li­che Dis­kri­mi­nie­run­gen von Roma und „Ägyp­tern“. Die­se wür­den nicht nur aus­ge­grenzt, son­dern sei­en auch Opfer einer dis­kri­mi­nie­ren­den Ver­wal­tungs­pra­xis. Wei­ter­hin wer­de der Zugang zum Arbeits­markt, Schul­sys­tem und zur Gesund­heits­ver­sor­gung für Roma in dis­kri­mi­nie­ren­der Wei­se ein­ge­schränkt. Mon­te­ne­gro wird seit einem Vier­tel­jahr­hun­dert von der Dynas­tie des Milo Djuka­no­vic geführt. Es han­delt sich um eine Staats­grün­dung vom Geis­te und Flei­sche der Mafia. Inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen kri­ti­sie­ren die man­geln­de Unab­hän­gig­keit des Jus­tiz­sys­tems, den ende­mi­schen Macht­miss­brauch der Poli­zei, die selbst im Bal­kan­ver­gleich her­aus­ra­gen­de Kor­rup­ti­on, den Ein­fluss des orga­ni­sier­ten Ver­bre­chens auf den Staats­ap­pa­rat und die weit­ge­hen­de Straf­lo­sig­keit bei schwe­ren Ver­bre­chen. Ein­schüch­te­rungs­ver­su­che gegen Jour­na­lis­ten sind an der Tages­ord­nung. Soweit sie Opfer von Anschlä­gen wur­den, sind vie­le bis heu­te nicht auf­ge­klärt. Ein siche­rer Herkunftsstaat?

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