16.12.2015
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Abschottung um jeden Preis. Zur Sicherung der europäischen Außengrenzen soll die Grenzschutzagentur Frontex nun weitreichendere Befugnisse erhalten. Foto: ©UNHCR / Daniel Etter

Die Europäische Grenzagentur Frontex soll ausgebaut werden. Ab morgen beraten die europäischen Staats- und Regierungschefs über einen Vorschlag der Kommission. Während Menschenrechte, Flüchtlingsschutz und Seenotrettung darin nur Randnotiz sind, werden neue Weichen zum massiven Ausbau des europäischen Grenzregimes gelegt.

Mit dem Vor­schlag für eine „Ver­ord­nung für einen Euro­päi­sche Grenz- und Küs­ten­schutz“ vom 15. Dezem­ber drängt die Kom­mis­si­on auf die bis­her umfas­sends­te Man­dats­er­wei­te­rung für Fron­tex und damit einen dras­ti­schen Aus­bau der EU-Abschot­tungs­ap­pa­ra­tur. Die Vor­la­ge ist die repres­si­ve Ant­wort auf die dies­jäh­ri­gen Flucht­be­we­gun­gen über die Ägä­is: „Unse­re Außen­gren­zen sind gemein­sa­me Gren­zen. Und wir waren nicht in der Lage, sie im Not­fall zu schüt­zen, das zeigt das Bei­spiel Grie­chen­land“, so Kom­mis­si­ons-Vize­prä­si­dent Frans Tim­mer­mans. Im Vor­feld hat­ten bereits der deut­sche Innen­mi­nis­ter de Mai­ziè­re und sein fran­zö­si­scher Amts­kol­le­ge Caze­neuve in einem gemein­sa­men Schrei­ben an EU-Migra­ti­ons­mi­nis­ter Avra­mo­pou­los auf einen ent­spre­chen­den Aus­bau der Agen­tur gedrängt.

Ste­hen­de Reser­ve für Frontex

Künf­tig soll Fron­tex nicht mehr nur koor­di­nie­ren und dar­auf ange­wie­sen sein, dass die Mit­glieds­staa­ten Mate­ri­al und Per­so­nal für gemein­sa­me Ope­ra­tio­nen bereit­stel­len.  Min­des­tens 1.500 Grenz­be­am­te und eine Reser­ve an tech­ni­scher Aus­rüs­tung sol­len der Agen­tur nun fest von den Mit­glied­staa­ten zur Ver­fü­gung gestellt wer­den. Inner­halb von drei Tagen kön­nen die­se Beam­ten an den jewei­li­gen Außen­gren­zen zum Ein­satz kom­men. Die „Euro­päi­sche Agen­tur für Grenz- und Küs­ten­schutz“ soll in Zukunft auch selbst­stän­dig Aus­rüs­tung erwer­ben kön­nen. Bis 2020 ist eine Ver­dopp­lung des Per­so­nals von Fron­tex vor­ge­se­hen. (Art. 19 der vor­ge­schla­ge­nen Verordnung)

„The right to intervene“

Der unter den Mit­glied­staa­ten umstrit­tens­te Punkt im Vor­schlag der EU-Kom­mis­si­on: „Wenn Män­gel fort­be­stehen oder ein Mit­glied­staat einem erheb­li­chen Migra­ti­ons­druck aus­ge­setzt ist, wodurch der Schen­gen-Raum gefähr­det wird, und auf natio­na­ler Ebe­nen kei­ne oder nicht aus­rei­chen­de Maß­nah­men ergrif­fen wer­den, kann die Kom­mis­si­on einen Durch­füh­rungs­be­schluss erlas­sen, in dem sie fest­stellt, dass die Lage in einem bestimm­ten Abschnitt der Außen­gren­zen Sofort­maß­nah­men auf euro­päi­scher Ebe­ne erfor­dert.“ Mit die­ser Opti­on wer­den Fron­tex weit­rei­chen­de Ein­grif­fe in die Sou­ve­rä­ni­tät der Mit­glied­staa­ten ermög­licht – den Mit­glied­staa­ten, die ihre Gren­zen nicht genü­gend schüt­zen, soll ein Ein­grei­fen der neu­en euro­päi­schen Grenz- und Küs­ten­wa­che auf­ge­nö­tigt wer­den. (Art. 18)

Frei­brief für völ­ker­rechts­wid­ri­ge Zurückweisungen?

Fron­tex soll den Schutz der Außen­gren­zen nun eigen­mäch­tig in die Hand neh­men und dafür mit den ent­spre­chen­den Res­sour­cen und Kom­pe­ten­zen aus­ge­stat­tet wer­den. Es dro­hen schwe­re Rechts­ver­let­zun­gen, dar­auf deu­tet bei­spiels­wei­se die Äuße­rung von Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Tho­mas de Mai­ziè­re hin, Fron­tex sol­le kon­kret die Rück­füh­rung von Schif­fen zu ihrem Start­punkt ver­an­las­sen: Die Grenz­schutz­agen­tur kön­ne „dann ein Schiff dahin zurück­schlep­pen, wo es her­ge­kom­men ist – zum Bei­spiel in die Tür­kei“, so de Mai­ziè­re. Sol­che Push-Backs sind völ­ker­rechts­wid­ri­ge Zurück­wei­sun­gen von Schutz­su­chen­den und damit ein mas­si­ver Ver­stoß gegen das Non-Refou­le­ment-Gebot (Art. 33 Gen­fer Flüchtlingskonvention).

Auch aus der Tür­kei gibt es bereits weni­ge Wochen nach dem Deal mit der EU alar­mie­ren­de Berich­te über Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen.

Exter­na­li­sie­rung von Grenzkontrollen 

Die Ver­ord­nung sieht auch eine enge­re Koope­ra­ti­on der Agen­tur mit soge­nann­ten „Dritt­län­dern“ vor. Die Aus­la­ge­rung von Grenz­kon­trol­len in Tran­sit- und Her­kunfts­län­der soll nun durch die Ent­sen­dung von Ver­bin­dungs­be­am­ten und der Orga­ni­sa­ti­on gemein­sa­mer Ein­sät­ze mit „Dritt­län­dern“ – auch in deren Hoheits­ge­biet – wei­ter for­ciert wer­den. (Art. 53)

„Schnel­le Ein­greif­trup­pen“: Abschie­bun­gen durch Frontex

Dar­über hin­aus sol­len Abschie­bun­gen von abge­lehn­ten Asyl­su­chen­den vor­an­ge­trie­ben wer­den. Ein skan­da­lö­ser Vor­stoß folgt dem nächs­ten: Im ges­tern ver­öf­fent­lich­ten Fort­schritts­be­richt der Kom­mis­si­on zur Imple­men­tie­rung des Hot­spot in Grie­chen­land, for­dert die Kom­mis­si­on Grie­chen­land sogar expli­zit auf, den Fokus auf Rück­füh­run­gen von Schutz­su­chen­den aus Paki­stan, dem Iran und Ban­gla­desch zu legen. Selbst in das von Gewalt erschüt­ter­te Afgha­ni­stan sol­len Flücht­lin­ge in die­sem Schre­ckens­sze­na­rio abge­scho­ben werden.

Fron­tex soll auch in Euro­pas Abschie­be­ma­schi­ne­rie künf­tig eine noch ent­schei­den­de­re Rol­le spie­len. Dem Ver­ord­nungs-Vor­schlag der Kom­mis­si­on zufol­ge soll ein Rück­füh­rungs­bü­ro bei der Agen­tur ange­sie­delt wer­den. Auch soge­nann­te „Schnel­le Ein­greif­trup­pen für Rück­füh­run­gen sind vor­ge­se­hen“.  (Art. 31)

Der Aus­bau von Fron­tex zu einer euro­päi­schen Agen­tur für Grenz- und Küs­ten­schutz mit supra­na­tio­na­len Inter­ven­ti­ons­rech­ten, wür­de den euro­päi­schen Flücht­lings­schutz mas­siv aus­höh­len – die euro­päi­schen Archi­tek­ten der Fes­tung Euro­pa ent­wer­fen neue Abwehr­sze­na­ri­en. Es gilt, alles dar­an zu set­zen, die­se Absa­ge an ein Euro­pa der Men­schen­rech­te zu verhindern.

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