08.04.2024
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Familiennachzug jetzt! Aktion vor dem Brandenburger Tor im Dezember 2023. Bild: PRO ASYL

Ein Geflüchteter soll abgeschoben werden, obwohl seine zwei Kinder in Deutschland leben und hier aufenthaltsberechtigt sind. Mit Unterstützung von PRO ASYL hat er eine Verfassungsbeschwerde eingereicht und gewonnen. Wir haben seinen Rechtsanwalt Thomas Oberhäuser gefragt, warum diese Beschwerde notwendig war und was das Urteil bedeutet.

Herr Ober­häu­ser, fas­sen Sie uns kurz die Situa­ti­on des Fami­li­en­va­ters, den Sie ver­tre­ten, zusammen.

Der äthio­pi­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge Berha­ne Rahel* ist im Jahr 2012 nach Deutsch­land ein­ge­reist und hat einen Asyl­an­trag gestellt. Mit einer äthio­pi­schen Frau, die in Deutsch­land als Flücht­ling aner­kannt und dem­nach auf­ent­halts­be­rech­tigt ist, hat er zwei gemein­sa­me Kin­der, die hier eben­falls auf­ent­halts­be­rech­tigt sind. Für sie teilt er sich mit der Mut­ter das gemein­sa­me Sor­ge­recht, küm­mert sich auch um sei­ne Kin­der, wohnt mit ihnen aber nicht zusammen.

Nach­dem sein Asyl­an­trag abge­lehnt wur­de, erhielt er eine Dul­dung. Im Jahr 2022 ver­län­gert die für ihn zustän­di­ge Aus­län­der­be­hör­de die­se nicht mehr, das heißt, die Behör­de ging davon aus, dass die Aus­rei­se­pflicht voll­streckt, Herr Rahel also abge­scho­ben wer­den kön­ne. Dage­gen ging Herr Rahel recht­lich vor, ver­lor aber sowohl beim Ver­wal­tungs­ge­richt Würz­burg als auch beim Baye­ri­schen Ver­wal­tungs­ge­richts­hof. Die Gerich­te argu­men­tier­ten, dass es ihm zuzu­mu­ten sei, das Visum­ver­fah­ren zum Zweck des Fami­li­en­nach­zugs aus dem Aus­land nach­zu­ho­len, um über die­sen Weg ein Leben in der Nähe sei­ner Kin­der zu ermög­li­chen. Des­halb habe die Aus­län­der­be­hör­de recht­mä­ßig gehan­delt, als sie ihm die Dul­dung ver­wei­ger­te – selbst für den Zeit­raum, in dem noch nicht ein­mal über sei­nen Antrag auf einen huma­ni­tä­ren Auf­ent­halts­ti­tel ent­schie­den wor­den war.

Was war der Inhalt Ihrer Verfassungsbeschwerde?

Ich kri­ti­sie­re die feh­len­de Ver­hält­nis­mä­ßig­keit. Die For­de­rung an ihn, sein Visum­ver­fah­ren im Aus­land nach­zu­ho­len, steht näm­lich mei­nes Erach­tens nicht im Ein­klang mit dem Schutz der Fami­lie nach Arti­kel 6 des Grund­ge­set­zes (GG). Um ein­schät­zen zu kön­nen, wie lan­ge die Fami­lie getrennt wäre, fehlt es bereits an einer belast­ba­ren Pro­gno­se über die Dau­er eines sol­chen Visum­ver­fah­rens. Die­se ist aber not­wen­dig, um über­haupt die Zumut­bar­keit einer sol­chen Anfor­de­rung an ihn beur­tei­len zu können.

Und Sie hat­ten Erfolg. 

Ja. Im Beschluss des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes vom 02.11.2023 heißt es, dass die Nach­ho­lung des Visum­ver­fah­rens nicht das Grund­recht auf Schutz der Fami­lie gemäß Arti­kel 6 GG ver­let­zen darf, was aber geschieht, wenn Behör­den in Kauf neh­men, dass die Tren­nung mög­li­cher­wei­se sehr lan­ge andauert.

Wes­halb war die­se Ver­fas­sungs­be­schwer­de notwendig?

Das deut­sche Auf­ent­halts­ge­setz kennt kein Recht von Eltern, zu ihren auf­ent­halts­be­rech­tig­ten Kin­dern nach­zu­zie­hen, es sei denn, die­se sind deut­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge oder unbe­glei­te­te min­der­jäh­ri­ge Flücht­lin­ge. Oder die Ertei­lung des Auf­ent­halts­ti­tels dient der Ver­mei­dung einer »außer­ge­wöhn­li­chen Här­te« und die Behör­de übt ihr Ermes­sen zu Guns­ten des Eltern­teils aus. Der Gesetz­ge­ber ist bis heu­te auch nicht wil­lens, für die­se Per­so­nen­grup­pe eine Rechts­grund­la­ge zu schaf­fen. Ent­spre­chend haben die Behör­den nur in Aus­nah­me­fäl­len die Mög­lich­keit, einem Eltern­teil für das Zusam­men­le­ben mit sei­nem Kind eine Auf­ent­halts­er­laub­nis zu erteilen.

»Das deut­sche Auf­ent­halts­ge­setz kennt kein Recht von Eltern, zu ihren auf­ent­halts­be­rech­tig­ten Kin­dern nach­zu­zie­hen, es sei denn, die­se sind deut­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge oder unbe­glei­te­te min­der­jäh­ri­ge Flüchtlinge.«

RA Tho­mas Oberhäuser

Ist eine Tren­nung zwi­schen einem Kind zu sei­nem Vater oder zu sei­ner Mut­ter nicht immer eine »außer­ge­wöhn­li­che Härte«?

Mei­ner Auf­fas­sung nach soll­te jedes Kind mit bei­den Eltern­tei­len zusam­men­le­ben kön­nen. Im Migra­ti­ons­recht ist dies jedoch für aus­län­di­sche Kin­der kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich. Es gibt juris­tisch die Abstu­fung »ein­fa­che Här­te«, »beson­de­re Här­te« und »außer­ge­wöhn­li­che Här­te«. Der Maß­stab, den die Recht­spre­chung an die Aus­fül­lung des letzt­ge­nann­ten Begriffs stellt und der auch für den Eltern­nach­zug erfüllt sein muss, ist sehr hoch. Bei­spiels­wei­se wird die Ein­rei­se eines kurz vor sei­nem Able­ben ste­hen­den Aus­län­ders zu sei­nen in Deutsch­land leben­den Ver­wand­ten als not­wen­dig erach­tet, um eine »außer­ge­wöhn­li­chen Här­te« zu ver­mei­den, also zum Abschied neh­men. Nicht aber, wenn die­ser »erst« pfle­ge­be­dürf­tig ist, die not­wen­di­ge Pfle­ge aller­dings auch im Hei­mat­land und von Drit­ten erbracht wer­den kann. Ähn­lich »unbarm­her­zig« sind Tei­le der Recht­spre­chung, wenn es um den Nach­zug zu Kin­dern geht, die vom ande­ren Eltern­teil betreut und ver­sorgt werden.

Der Wunsch mei­nes Man­dan­ten und sei­ner hier leben­den auf­ent­halts­be­rech­tig­ten Kin­der, nicht getrennt zu wer­den, stellt nach die­ser Aus­le­gung kei­ne sol­che außer­ge­wöhn­li­che Här­te dar. Obwohl man ja anneh­men könn­te, dass das Aus­ein­an­der­rei­ßen einer jeden Fami­lie zu einer außer­ge­wöhn­li­chen Här­te führt. Da aber vie­le Fami­li­en – gewollt oder erzwun­gen – getrennt leben, kann argu­men­tiert wer­den, dass die Tren­nung von nur einem Eltern­teil nicht per se zu einer außer­ge­wöhn­li­chen Här­te führt. Für die­se Kon­stel­la­ti­on fehlt des­halb eine gesetz­li­che Grund­la­ge, die ein Recht des Eltern­teils nor­miert, zu sei­nen Kin­dern einzureisen.

Im Inland behel­fen sich die Behör­den in aller Regel damit, dass sie dem Eltern­teil ein huma­ni­tä­res Auf­ent­halts­recht nach Para­graph 25 Absatz 5 Auf­ent­halts­ge­setz ertei­len. Dabei kann von rela­tiv vie­len Vor­aus­set­zun­gen abge­se­hen wer­den, die sonst übli­cher­wei­se erfor­der­lich sind. Das funk­tio­niert aber nur, solan­ge der Eltern­teil im Inland ist.

Und wann funk­tio­niert es nicht?

Das funk­tio­niert nicht mehr, sobald sich ein Eltern­teil im Aus­land befin­det, weil der Para­graph 25 Abs. 5 Auf­ent­halts­ge­setz vor­aus­setzt, dass jemand aus­rei­se­pflich­tig ist. Wenn die Per­son bereits aus­ge­reist ist, dann fehlt es an die­ser Tat­be­stands­vor­aus­set­zung. Das heißt: Ich habe vom Aus­land aus kei­nen Anspruch auf ein huma­ni­tä­res Auf­ent­halts­recht zum Zwe­cke des Zusam­men­le­bens mit mei­nem Kind. Die ein­zi­ge Rechts­grund­la­ge ist dann der erwähn­te Para­graph 36 Absatz 2 Auf­ent­halts­ge­setz, der eine außer­ge­wöhn­li­che Här­te ver­langt, wofür aber die blo­ße Annah­me, dass ein Kind bei­de Eltern­tei­le braucht, wie beschrie­ben nicht ausreicht.

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Wes­halb wird über­haupt gefor­dert, das Visum­ver­fah­ren aus dem Aus­land zu führen?

Der Gesetz­ge­ber sieht das Visum­ver­fah­ren als grund­le­gen­de Vor­aus­set­zung für den Zuzug nach Deutsch­land zur Steue­rung der Migra­ti­on. Gera­de in Bay­ern ist das sowohl ein poli­ti­sches Instru­ment als auch ein in der Recht­spre­chung gern beton­tes Kon­strukt, auf das sich Behör­den häu­fig beru­fen. Es gibt zwar gesetz­li­che Aus­nah­men bei Unzu­mut­bar­keit und bei Här­te­fäl­len, jedoch sind hier­für die Anfor­de­run­gen sehr hoch, so dass die­se fast nie greifen.

In Deutsch­land gilt der Grund­satz: Man muss das rich­ti­ge Visum zur Ein­rei­se ein­ge­holt haben, um in Deutsch­land auch ein Auf­ent­halts­recht bekom­men zu kön­nen und nicht erst wie­der aus­rei­sen zu müs­sen. Die­ser Grund­satz ist bei­spiels­wei­se dann, wenn eine fami­liä­re Bezie­hung im Inland etwa durch die Geburt eines Kin­des erst ent­steht, sehr zwei­fel­haft. Denn zum Zeit­punkt der Ein­rei­se gab es das Kind noch nicht, und damit auch kei­nen Anspruch, mit dem Kind zusam­men­zu­le­ben. Aus Sicht der Behör­den müss­te trotz­dem zunächst im Aus­land das Visum geprüft werden.

Klingt unlo­gisch und familienfeindlich. 

Es ist absurd. War­um soll­te die Aus­lands­ver­tre­tung, wo dann das Visum­ver­fah­ren durch­ge­führt wer­den muss, die Situa­ti­on bes­ser ein­schät­zen kön­nen als die hie­si­ge Aus­län­der­be­hör­de? War­um sol­len die Betrof­fe­nen erst aus- und dann wie­der ein­rei­sen? Das ist nicht nach­voll­zieh­bar und übri­gens auch euro­pa­recht­lich hoch­pro­ble­ma­tisch. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof hat bereits in einer Ent­schei­dung aus dem Jahr 2017 klar­ge­stellt, dass es unver­hält­nis­mä­ßig ist, etwas zu for­dern, was für nie­man­den einen Mehr­wert hat – auch nicht für Behör­den. Aller­dings muss das tau­send­fach vor­tra­gen wer­den, damit irgend­wann auch mal ein Gericht ent­schei­det, dass das über­flüs­sig ist.

Erläu­tern Sie uns ein wenig, wel­cher Grund­rechts­ein­griff hier vorliegt? 

Wenn Eltern von ihren Kin­dern getrennt wer­den, ist das ein Ein­griff in das Recht auf Schutz der Fami­lie (Arti­kel 6 GG). Aktu­ell ist es so gere­gelt, dass ein Eltern­teil des auf­ent­halts­be­rech­tig­ten Kin­des (meis­tens der Vater) zunächst wie­der aus­rei­sen und ein Visum­ver­fah­ren nach­ho­len muss, was zumin­dest über­gangs­wei­se zu einer Tren­nung des Vaters vom Kind führt und damit einen Ein­griff in die geschütz­te fami­liä­re Lebens­ge­mein­schaft dar­stellt. Wenn die­se Tren­nung lan­ge dau­ert, stellt das eine unver­hält­nis­mä­ßi­ge Fol­ge einer sol­chen Ver­pflich­tung dar und darf nicht gefor­dert werden.

Um die­se Unver­hält­nis­mä­ßig­keit nach­zu­wei­sen, muss man ver­schie­de­ne Fak­to­ren bewer­ten. Bei­spiels­wei­se, wie alt ein Kind ist oder wie lan­ge es vor­aus­sicht­lich dau­ert, bis das Eltern­teil wie­der zurück­kommt. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat­te schon in frü­he­ren Ent­schei­dun­gen gesagt, je jün­ger ein Kind ist, des­to weni­ger ver­ständ­lich sind ihm zeit­wei­li­ge Tren­nun­gen. Denn klei­ne­re Kin­der erle­ben auch eher kur­ze Tren­nun­gen als dau­er­haf­ten Abbruch einer Bin­dung, weil sie noch kein Zeit­ver­ständ­nis haben. Daher ist es bei ihnen ganz beson­ders pro­ble­ma­tisch zu for­dern, dass ein Eltern­teil erst­mal aus­rei­sen soll. Außer­dem erwei­sen sich Tren­nungs­pro­gno­sen oft als unrea­lis­tisch, denn wie schnell und mit wel­chem Ergeb­nis die Aus­lands­ver­tre­tun­gen ent­schei­den, ist zumeist nicht abseh­bar, und damit auch nicht, wie viel Zeit zwi­schen Aus­rei­se und Wie­der­ein­rei­se lie­gen werden.

Ist nun mit der gewon­ne­nen Ver­fas­sungs­be­schwer­de eine Ver­bes­se­rung zu erwarten?

Es ist schon betrüb­lich, um es vor­sich­tig aus­zu­drü­cken, dass wir seit Jahr­zehn­ten eine Rechts­la­ge haben, die Eltern von auf­ent­halts­be­rech­tig­ten dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen Kin­dern über­haupt nicht in den Blick nimmt. Mit Aus­nah­me der Kon­stel­la­ti­on der unbe­glei­te­ten min­der­jäh­ri­gen Geflüch­te­ten, aber die­se auch nur, weil das euro­päi­sche Recht das for­dert – andern­falls hät­ten wir auch für sie kei­ne Gesetzesgrundlage.

Dass es Kin­der gibt, die hier leben und ein Auf­ent­halts­recht haben, aber nach der aktu­el­len Geset­zes­la­ge nicht das Recht, dass ihre Eltern mit ihnen zusam­men­le­ben, das ist etwas, das ich noch nie ver­stan­den habe. Eben sowe­nig die Untä­tig­keit des Gesetz­ge­bers zu die­sem Aspekt. Es liegt seit Jahr­zehn­ten auf der Hand, dass das gere­gelt wer­den muss. Dass es für sol­che Kon­stel­la­tio­nen Ver­fas­sungs­ge­richts­ent­schei­dun­gen braucht, um ein Auf­ent­halts­recht für jeman­den auch bloß denk­bar wer­den zu las­sen, ist absurd. Vor allem aber führt dies dazu, dass Rech­te von Eltern und ihren Kin­dern unter­ge­hen, weil Ver­fas­sungs­be­schwer­den so arbeits­in­ten­siv und teu­er sind, dass man davon aus­ge­hen muss, dass die aller­meis­ten sich das nicht leis­ten können.

Ein Jahr vor unse­rer Beschwer­den hat­te das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt übri­gens in einer nahe­zu glei­chen Kon­stel­la­ti­on in der glei­chen Wei­se ent­schie­den. Es ist trau­rig, dass sich zumin­dest eini­ge Richter*innen nicht dar­an hal­ten und das Ver­fas­sungs­ge­richt wie­der ein­grei­fen muss­te. Es ist drin­gend an der Zeit, dass der Gesetz­ge­ber sich Gedan­ken macht und eine ver­nünf­ti­ge recht­li­che Lösung gestal­tet. Der Deut­sche Anwalt­ver­ein (DAV) hat dazu bereits einen Vor­schlag gemacht.

*Ali­as­na­me

(skg, mhs)