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Endhaltestelle Niger?
Über den sog. »Notfall-Transit-Mechanismus« werden seit 2017 ausgewählte Schutzsuchende aus Libyen nach Niger evakuiert. Von dort sollen sie dann in Aufnahmestaaten gebracht werden – doch die Praxis ist teilweise eine andere. An dem Notfall-Transitmechanismus gibt es schon lange deutliche Kritik. Seit dem Putsch im Niger herrscht nun Stillstand.
Niger hat 2017 einen »Notfall-Transit-Mechanismus« für Flüchtlinge aus Libyen eingerichtet. Der »Emergency Transit Mechanism« ist ein Evakuierungs- und Neuansiedlungsprogramm für eine begrenzte Anzahl von Flüchtlingen, die in Libyen feststecken. Viele von ihnen sind Überlebende von Gewalt, Folter und willkürlichen Inhaftierungen.
Schutzsuchende werden zunächst in Transit-Zentren in Niger und Ruanda (ab 2019) evakuiert und dort untergebracht, um in einem nächsten Schritt in sichere Drittländer umgesiedelt zu werden (»Resettlement«). Dort sollen die Menschen eine dauerhafte Lebensperspektive erhalten. Soweit zumindest die Theorie – in der Praxis stecken Flüchtlinge zum Teil Monate bis Jahre im Transit fest, einige erhalten niemals eine Aufnahmezusage.
Der Mechanismus wird von der EU finanziert und vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) verwaltet. Letzteres identifiziert »besonders schutzbedürftige« Flüchtlinge, die für eine Evakuierung bzw. das Resettlement in der Europäischen Union (EU) oder Nordamerika in Frage kommen. Auch Deutschland hat sich an der Aufnahme beteiligt.
Feigenblatt: Kritik an dem Transit-Mechanismus
Der Evakuierungsmechanismus hat 3.784 Flüchtlingen, die in der libyschen Hölle unfassbares Leid erleben mussten, ein Leben in Nordamerika und Europa ermöglicht. Im EU-politischen Kontext ist das Modell jedoch als Feigenblatt zu bezeichnen: Denn die EU finanziert seit Jahren die Ausbildung und Ausstattung der sogenannten libyschen Küstenwache, also Milizen, die Menschen auf der Flucht auf dem Meer abfangen, um sie in libyschen Folter– und Internierungslagern verschwinden zu lassen.
Die EU billigt und fördert damit einen Kreislauf der Gewalt in Libyen, ein lukratives Geschäft zulasten von Schutzsuchenden. Wer an einer strukturellen Lösung für das massive Leid von Schutzsuchenden in Libyen interessiert ist, täte besser daran, die Kooperation mit der sogenannten libyschen Küstenwache endlich einzustellen und die Seenotrettung sowie legale Fluchtwege auszubauen.
Gemessen an der Anzahl der inhaftierter Flüchtlinge und Migrant*innen in Libyen sind die Evakuierungs- und Aufnahmezahlen im Rahmen des Evakuierung-Mechanismus absolut unzureichend. Zwischen November 2017 und Juni 2023 wurden insgesamt 5.979 Menschen aus Libyen in Transit-Zentren in Niger und Ruanda evakuiert (Niger: 4.242 Menschen) – also im Durchschnitt weniger als 1.000 Personen pro Jahr. Über das EU-finanzierte Programm der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurde unterdessen eine Vielzahl von Schutzsuchenden im Rahmen der »freiwilligen Rückkehr« direkt aus Libyen in ihre Herkunftsstaaten evakuiert. Allein im Jahr 2022 sind auf diesem Weg 11.200 Flüchtlinge ausgeflogen worden, seit 2015 insgesamt 53.000 Schutzsuchende (Stand 2021). Von dem Transit-Mechanismus profitieren hingegen nur sehr wenige Personen, die zudem in Kauf nehmen müssen, im nigrischen Transit zu stranden. Dabei müsste das nicht so sein: Nach Italien werden Geflüchtete direkt aus Libyen evakuiert, ohne den Umweg über außereuropäische Staaten.
Seit dem Putsch im Niger im Juli 2023 fanden keine Evakuierungsflüge aus Tripolis nach Niamey mehr statt, der letzte Flug ging offenbar im Mai 2023. Und nur eine einzige Person konnte Ende September aus Niger nach Kanada ausgeflogen werden.
Am 26. Juli 2023 übernahmen Offiziere des Militärs die Macht im westafrikanischen Niger. Die Junta setzte den Präsidenten Mohamed Bazoum fest – die Liste der Militärputsche in der Sahelzone wird damit immer länger. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) drohte den Putschisten mit einer militärischen Intervention, zu der es bis heute jedoch nicht gekommen ist. Die Bevölkerung leidet unter den von der ECOWAS verhängten Sanktionen, die massive Preissteigerungen zur Folge haben.
Niger gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Ende Juli zählte der UNHCR im Niger 768.126 Vertriebene unter seinem Mandat, davon rund die Hälfte Binnenvertriebene. Unter den Geflüchteten aus anderen Ländern sind vor allem Menschen aus Nigeria, Mali und Burkina Faso.
Die Sicherheitslage im Sahel ist seit langem sehr schwierig, unter anderem aufgrund dschihadistischer Gewalt, den Auswirkungen des Klimawandels und damit einhergehenden Nahrungsmittelkrisen und Verteilungskämpfen. Die Angst vor einer weiteren Destabilisierung der Sahel-Zone ist nach dem Putsch groß.
Resettlement: Aufnahme in Europa und Nordamerika
Im Niger werden aus Libyen evakuierte Menschen im Hamdallaye Centre untergebracht, etwa 40 Kilometer von der Hauptstadt Niamey entfernt. Stand September 2023 halten sich dort noch knapp 600 evakuierte Flüchtlinge auf. Laut UNHCR warten ein Drittel der Menschen auf ihre unmittelbar bevorstehende Ausreise, zwei Drittel müssen erst noch Interviews mit Resettlement-Ländern durchlaufen und Entscheidungen abwarten.
Seit der Einrichtung des Transit-Mechanismus im Jahr 2017 wurden 5.534 Schutzsuchende aus dem Niger in Europa oder Nordamerika aufgenommen (über Resettlement und andere legale Wege wie Studienvisa). Unter den Geflüchteten befinden sich nicht nur aus Libyen über den Transitmechanismus evakuierte Personen (3.784), sondern auch im nationalen nigrischen Asylsystem registrierte Flüchtlinge (1.750). Über den Transit-Mechanismus wurden in über sechs Jahren also nur rund 630 Menschen pro Jahr aufgenommen.
Die Diskrepanz zwischen evakuierten Flüchtlingen (4.242) und tatsächlichen Resettlement-Zahlen (3.784) legt die Frage nahe, was mit den verbleibenden Menschen geschehen ist, die in Libyen in einer Situation der Ausweglosigkeit einer Evakuierung in Erwartung ihres anschließenden Resettlements zugestimmt haben (Stand Juli 2023).
Zu den Hauptaufnahmeländern gehören Kanada, Schweden und Frankreich. Deutschland hat seit 2017 577 Menschen aus dem Niger aufgenommen, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist an der Auswahl der Personen beteiligt. Die meisten Geflüchteten kamen aus Eritrea, Somalia und dem Sudan. Seit 2019 sind die Resettlement-Zahlen kontinuierlich zurückgegangen.
Für 2023 hatte die Bundesregierung eine Aufnahme von 150 Personen über den Transit-Mechanismus Niger zugesagt (Quelle: Auskunft des BAMF auf Pro Asyl-Anfrage). Doch seit dem Putsch ist die Aufnahme ausgesetzt. Es ist unklar, was mit den Menschen im Transit passiert.
Seit dem Putsch ist die Aufnahme aus Niger ausgesetzt. Es ist unklar, was mit den Menschen im Transit passiert.
Zukunft des Niger Transit-Mechanismus nach dem Putsch ungewiss
PRO ASYL ist in Sorge um die Menschen, welche unter UN-Mandat in den Niger gebracht wurden, wo sie nun auf ihren Flug in ein neues Leben warten, sowie um Schutzsuchende in Libyen, die auf ihre Evakuierung warten.
Es ist unklar, ob Evakuierungen und Resettlement nach dem Putsch im Niger weiter funktionieren können. Am Beispiel Transit-Mechanismus Niger zeigt sich damit erneut, wie volatil derartige Externalisierungs-Abkommen mit Drittstaaten sind.
Evakuiert und dann abgelehnt: Gestrandet im Transit
Die Ablehnung einer beträchtlichen Anzahl von Geflüchteten nach der Evakuierung in den Niger stellt ein zentrales Problem des Mechanismus dar. Dies liegt offensichtlich an der Diskrepanz der Auswahlkriterien der verschiedenen beteiligten Akteure. Wenn Drittstaaten eine Aufnahme ablehnen, bleiben Schutzsuchende zum Teil ohne Perspektive in einem der ärmsten Länder der Welt zurück. Und das, nachdem der UNHCR sie als potentiell Schutzbedürftige ausgewählt hatte.
Im Rahmen des Transit-Mechanismus nimmt der UNHCR die Feststellung des Flüchtlingsstatus unter UNHCR-Mandat vor (»Refugee Status Determination«) – eine der Voraussetzungen für das Resettlement. Im Falle einer negativen Entscheidung geht die Verantwortung für die Personen an die nigrischen Behörden über, die dann über Abschiebung oder Regularisierung entscheiden müssen.
Langwierige und kostenintensive Verfahren
Kritik an dem Transitmechanismus bezieht sich auch auf die Dauer der Verfahren: So kritisieren Ärzte ohne Grenzen (MSF) die Verfahren des UNHCR als zu langsam. Schutzsuchende, die für eine Evakuierung ausgewählt worden seien, müssten Monate oder Jahre in Libyen warten, und das »trotz der unmittelbaren Risiken, denen sie in dem Land ausgesetzt sind«.
Aus Libyen evakuierte Personen müssten zudem Monate oder Jahre in den beiden Transitländern Niger oder Ruanda warten, bevor sie tatsächlich umgesiedelt werden. Oftmals bestehe sehr lange Unsicherheit darüber, ob und wohin sie umgesiedelt werden. Die durchschnittliche Verweildauer von Evakuierten lag im Juni 2021 im Niger bei 677 Tagen, in Ruanda bei 235 Tagen. Immer wieder kam es in den Transit-Ländern zu Protesten von Geflüchteten über die Bedingungen vor Ort.
In einer Evaluierung durch Altai Consulting (2021) im Auftrag der EU werden die ETM in Niger und Ruanda als sehr komplexe sowie zeit- und kostenintensive Mechanismen beschrieben, deren »Skalierbarkeit und Nachhaltigkeit […] in Frage gestellt werden kann«.
Transit-Mechanismus auch in Ruanda
Trotz der deutlichen Kritik am ETM Niger – unter anderem dem Festsitzen von Geflüchteten im Transit, den langwierigen und kostenintensiven Verfahren, der Abhängigkeit von volatilen Staaten sowie der geringen Anzahl an Evakuierten – gibt es seit 2019 auch einen sogenannten Notfall-Transitmechanismus mit Ruanda.
Abweichend vom Transit-Mechanismus Niger stellt Resettlement in Ruanda neben der »freiwilligen« Rückkehr in die Herkunftsländer und der Integration in Ruanda jedoch nur eine von mehreren Optionen nach der Evakuierung dar.
Debatte zur Externalisierung von Asylverfahren: Weder umsetzbar noch menschenrechtskonform
In Europa werden aktuell erneut Auslagerungs-Fantasien unterschiedlichster Art diskutiert: von der Durchführung von Asylverfahren unter EU-Recht in Drittstaaten über die Auslagerung der Verantwortung an den UNHCR bis hin zur vollständigen Externalisierung von Asylverfahren in Drittstaaten, wie dies beim UK-Ruanda-Deal vorgesehen war. Erst letzte Woche erklärte das Oberste Gericht in London den geplanten UK-Ruanda Deal für rechtswidrig. Das ruandische Asylsystem weise starke Mängel auf, weshalb Flüchtlingen dort die Abschiebung in ihr Herkunftsland und damit in die Verfolgung drohe.
Ruanda wird auch darüber hinaus immer wieder für die Menschenrechtslage vor Ort kritisiert. Die ruandische Polizei etwa tötete bei einer Demonstration im Camp Kiziba im Februar 2018 zwölf Geflüchtete.
EU-Externalisierungspolitik im Niger
Für die EU ist der Niger als Transitland von Flüchtlingen und Migrant*innen ein zentraler, wenn nicht sogar der zentrale Partner in der Sahelregion. Unter dem Label »Migrationspartnerschaft« betreibt die EU auch hier ihre Externalisierungspolitik der Migrationskontrolle, um Menschen davon abzuhalten, sich auf den Weg Richtung Mittelmeer und Europa zu machen.
Die EU hatte sich für die Verabschiedung des nigrischen Gesetzes 036‑2015 eingesetzt, das vorgibt, ein Anti-Schleuser-Gesetz zu sein.Flucht und Migration und deren Unterstützung wurden im Niger damit strafbar. In der Folge wurde im Norden des Nigers ein ganzer Wirtschaftszweig ruiniert (Transportunternehmen, Gastgewerbe etc.), die Fluchtroute durch die Sahara sehr viel gefährlicher. Die PRO ASYL Partnerorganisation Border Forensics dokumentiert in ihrem jüngsten Bericht »Mission accomplished? Die tödlichen Auswirkungen der Grenzkontrollen in Niger« die Folgen dieses Gesetzes, auf dessen Umsetzung die EU gedrängt hatte.
Die EU unterstützt und schult zudem nigrische Sicherheitsbeamte im Bereich Grenzkontrollen. Im Jahr 2022 unterzeichnete EUCAP Sahel Niger (European Capacity Building Sahel Niger) ein Arbeitsabkommen mit Frontex, um die Koordinierung im Bereich Migration und Grenzsicherheit zu verbessern.
In IOM-Transitzentren warten Schutzsuchende auf ihre Ausreise. Seit 2017 sind 71.200 Menschen mit Unterstützung der IOM in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt. Viele von ihnen waren zuvor Opfer von Massenabschiebungen aus Algerien in die Wüste geworden.
Wie die aktuellen Entwicklungen im Niger sich auf die EU-Externalisierungspolitik auswirken werden, wird sich erst noch zeigen müssen.
(hk)