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Eklatante Verletzungen von Flüchtlingsrechten: Europa gewährt Türkei menschenrechtlichen Rabatt
Weil die EU ihren Deal zur Flüchtlingsabwehr mit dem autoritären türkischen Präsidenten um jeden Preis realisieren will, schweigt Europa über die eklatanten Verletzungen von Menschenrechten und Flüchtlingsrechten in der Türkei. Berichten zufolge kommt es zu zahlreichen willkürlichen Inhaftierungen und Hunderten illegale Abschiebungen nach Syrien und in den Irak.
Im Südosten der Türkei herrscht Bürgerkrieg, täglich kommt es zu Todesopfern, auch unter der Zivilbevölkerung. Kritische Journalisten und Oppositionelle werden mit Repressalien überzogen, nicht wenige in Haft genommen. Doch die sich stetig verschlechternde Menschenrechtslage in der Türkei wird von den Regierungen der EU-Staaten wie auch der EU weitgehend ignoriert und wenn überhaupt nur verhalten kritisiert.
Dasselbe gilt für massive Verletzungen von Flüchtlingsrechten und den Menschenrechten von Schutzsuchenden. Europa setzt alles darauf, dass die Türkei als Türsteher der EU nach Europa fliehende Menschen stoppt und nimmt dafür massive Menschenrechtsverletzungen in der Türkei billigend in Kauf.
Willkürliche Inhaftierungen in EU-finanzierten Haftzentren
Mitte Oktober veröffentlichte Amnesty International (AI) den Bericht „Europe´s Gatekeeper. Unlawful detention and deportation of refugees from Turkey“. Der Dokumentation zufolge begannen türkische Beamte im September 2015 damit, Schutzsuchende abzufangen, die von den westlichen Provinzen der Türkei wie Edirne oder Mugla aus in Richtung Griechenland aufbrachen. Viele der Betroffenen kommen aus Syrien und dem Irak. Die Beamten verbrachten sie in die Haftzentren Düzici in Osmaniye (südliche Provinz) oder in das Abschiebezentrum in Askale/Erzurum (Osttürkei).
Amnesty International berichtet von langer Inhaftierung von Schutzsuchenden, vollständiger Isolierung von der Außenwelt und Fällen erzwungener Rückkehr in Herkunftsländer. Auch das ARD-Magazin Monitor hat vor Ort gedreht und schildert willkürliche Inhaftierungen und Abschiebungen nach Syrien. Die Türkei verstößt damit massiv gegen türkisches und internationales Recht.
Die EU und Deutschland als Komplizen
Die Berichte schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Türkei sind besonders mit Blick auf die seit Oktober 2015 forcierte Kooperation der EU mit der Regierung Erdogan brisant. Am 29. November 2015 hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs mit der türkischen Regierung einen umfassenden Aktionsplan verabschiedet, der unter anderem auf eine „Stärkung der Kooperation zur Verhinderung irregulärer Migrationsbewegungen in die EU“ abzielt. Die Einhaltung von Menschenrechten fällt dabei unter den Tisch. Der Menschenrechtsbeauftragte Christoph Strässer warnte in einem Interview mit der Welt bezogen auf die Kooperation: „Es darf aber keinen menschenrechtspolitischen Rabatt für die Türkei geben.“
Auch die Bundesregierung wurde im Zuge der Veröffentlichung des Berichts von Amnesty International vehement kritisiert. Die Bundesregierung mache sich zur „Komplizin schwerwiegender Verletzungen des Völkerrechts“, so der Sprecher für Innenpolitik der Grünen, Volker Beck. Die Bundesregierung erklärte dazu: „Der genannte Bericht von Amnesty International ist der Bundesregierung bekannt.“ Die meisten Angaben könnten aber „nicht aus eigenen Kenntnissen bestätigt werden“. Man gehe deshalb „davon aus, dass die türkische Regierung weiterhin zu ihrer Zusicherung steht, wonach keine syrischen Flüchtlinge nach Syrien abgeschoben werden“.
Isolation und Misshandlungen in Haft
Die Berichte sind schockierend: Betroffene sagten aus, dass sie in vollkommener Isolation festgehalten wurden – Mobiltelefone seien konfisziert und Besuche durch Familienangehörige und AnwältInnen untersagt worden. Die Haftzeit habe von mehreren Wochen bis zu zwei Monaten gereicht, der Grund für ihre Inhaftierung sei den Schutzsuchenden nicht mitgeteilt worden. Einige der Inhaftierten berichteten von Misshandlungen durch Beamte. Amnesty International konnte drei Fälle dokumentieren, die von mehreren ZeugInnen bestätigt wurden.
Im ersten Fall wurde ein inhaftierter syrischer Flüchtling von mehreren Polizeibeamten im Abschiebezentrum Edirne brutal geschlagen. Ein 40jähriger Syrer berichtete, dass er im Erzurum-Abschiebezentrum während sieben Tagen an Händen und Füssen gefesselt alleine in einen Raum gesperrt wurde. Auch drei Frauen (zwei aus Syrien, eine aus Marokko) berichteten, nach ihrer Ankunft im Abschiebezentrum Erzurum zur Leibesvisitation gezwungen worden zu sein. Als sie sich weigerten, ihre Kleider auszuziehen, hätten die Beamten gelacht. Sie würden solange warten, bis die Frauen der Anweisung Folge geleistet hätten.
20jähriger syrischer Flüchtling stirbt im Haftzentrum Askale/Erzurum
Mülteci-DER, Partnerorganisation von PRO ASYL in Izmir/Türkei, zufolge, eskalierte die Situation in Erzurum Ende Dezember: Gerüchte über anstehende Abschiebungen aus dem Haftzentrum sorgten am 28. und 29. Dezember für Spannungen unter den Flüchtlingen, die Bereitschaftspolizei wurde nach Askale/Erzurum beordert. Danach gelangten kaum weitere Informationen nach außen, selbst die Straße zum Abschiebungszentrum wurde blockiert. Mülteci-DER erreichten Berichte von schweren Misshandlungen durch die Polizeibeamten, die bis hin zu Folter reichten.
Inzwischen gibt es sogar Berichte von Todesfällen: Am 2. Januar wurde der Tod eines 20jährigen syrischen Flüchtlings im Haftzentrum bestätigt. Die Behörden behaupten, er habe Selbstmord begangen. Weder seine Familie noch sein Anwalt trauen dieser Aussage. Aufgrund des Drucks der Menschenrechtsorganisationen hat der Türkische Menschenrechtsausschuss am 4. Januar 2016 eine Delegation nach Erzurum geschickt, um den schwerwiegenden Anschuldigungen nachzugehen. Ein Bericht liegt noch nicht vor.
Abschiebungszentrum in Erzurum wurde mit europäischen Geldern finanziert
Sowohl Amnesty International als auch AnwältInnen, die ihre Mandanten besuchen wollten, wird der Zugang zum Abschiebezentrum in Erzurum verwehrt. Skandalös ist auch die Tatsache, dass das im Herbst eröffnete Haftzentrum mit europäischen Geldern mitfinanziert wurde. Dort inhaftierte Schutzsuchende berichteten, auf mehreren Gegenständen in Erzurum hätten sich Etiketten befunden mit dem Vermerk, dass das Haftzentrum zu 85% durch EU-Gelder finanziert sei.
Inhaftierungen sind rechtswidrig
Die willkürlichen Inhaftierungen sind rechtswidrig. Das türkische Gesetz sieht zwar vor, dass ausländische Staatsangehörige in Haft genommen werden können, wenn ihr Asylgesuch geprüft wird oder ihre Abschiebung angeordnet wurde. Doch die oder der Betroffene muss über den Grund des Freiheitsentzugs in Kenntnis gesetzt werden. Keiner der von AI befragten Schutzsuchenden hatte entsprechende Informationen erhalten.
Für syrische Schutzsuchende gibt es keinerlei Rechtsgrundlage, auf der Inhaftierung angeordnet werden kann, da syrischen Flüchtlingen pauschal ein temporärer Schutzstatus zuerkannt wird, ohne dass sie auf individueller Basis einen Asylantrag zu stellen hätten. Auch eine Abschiebung nach Syrien kommt aufgrund des Bürgerkriegs im Land rechtlich nicht in Frage.
Die türkischen Behörden ließen verlauten, Flüchtlinge und Asylsuchende könnten aus „Sicherheitsgründen“ oder weil sie „kriminelle Handlungen“ begangen hätten, in Administrativhaft genommen werden. Eine entsprechende Gesetzesgrundlage lässt sich nicht finden.
Hunderte illegale Abschiebungen nach Syrien und in den Irak
Bei einem Besuch von Amnesty International im Düzici Camp in Osmaniye Anfang Dezember 2015 berichteten Beamte, dass die Schutzsuchenden die Einrichtung verlassen könnten, sofern sie den Nachweis erbrächten, dass sie eine Unterkunft hätten, sich selbst versorgen könnten oder wenn sie einwilligten, freiwillig nach Syrien zurückzukehren. Da syrische Flüchtlinge kein Anrecht auf eine Arbeitserlaubnis haben, ist der Nachweis über genügend Einkommen de facto unmöglich. Die „freiwillige Rückkehr“ nach Syrien bleibt damit die einzige Option, um aus der Haft entlassen zu werden. Bereits Ende November hatte Human Rights Watch einen Bericht über illegale Zurückweisungen syrischer Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze veröffentlicht.
Amnesty International konnte mehrfach glaubwürdige Zeugenaussagen von erzwungenen Abschiebungen nach Syrien und in den Irak dokumentieren, was einen massiven Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot darstellt. In den letzten Monaten sollen die türkischen Behörden über hundert Menschen abgeschoben und sie damit dem Risiko schwerer Menschenrechtsverletzungen in Syrien oder dem Irak ausgesetzt haben.
Die Anzahl der nicht bekannten Abschiebungen ist vermutlich sehr hoch und schließt auch Abschiebungen nach Afghanistan ein. Die Betroffenen berichteten von unterschiedlicher Zwangsanwendung, um die Schutzsuchenden zur „freiwilligen“ Rückkehr zu nötigen. Die meisten wurden bedroht, bis auf weiteres in Haft zu bleiben. Andere berichteten zur Unterzeichnung der Einwilligung gezwungen worden zu sein, ohne dass sie verstanden, was das türkische Dokument bedeutete. Einzelne seien auch unter physischem Zwang zur Abgabe ihres Fingerabdrucks gezwungen worden. Viele der Schutzsuchenden, die nicht abgeschoben wurden, mussten ein Dokument unterzeichnen, in dem sie angewiesen wurden, innerhalb von 30 Tagen die Türkei zu verlassen. Beide Dokumente wurden den Betroffenen auf Nachfrage nicht in Kopie ausgehändigt.
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