19.01.2016
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Das Haftzentrum Düzici in Osmaniye. Foto: Amnesty International

Weil die EU ihren Deal zur Flüchtlingsabwehr mit dem autoritären türkischen Präsidenten um jeden Preis realisieren will, schweigt Europa über die eklatanten Verletzungen von Menschenrechten und Flüchtlingsrechten in der Türkei. Berichten zufolge kommt es zu zahlreichen willkürlichen Inhaftierungen und Hunderten illegale Abschiebungen nach Syrien und in den Irak.

Im Süd­os­ten der Tür­kei herrscht Bür­ger­krieg, täg­lich kommt es zu Todes­op­fern, auch unter der Zivil­be­völ­ke­rung. Kri­ti­sche Jour­na­lis­ten und Oppo­si­tio­nel­le wer­den mit Repres­sa­li­en über­zo­gen, nicht weni­ge in Haft genom­men. Doch die sich ste­tig ver­schlech­tern­de Men­schen­rechts­la­ge in der Tür­kei wird von den Regie­run­gen der EU-Staa­ten wie auch der EU weit­ge­hend igno­riert und wenn über­haupt nur ver­hal­ten kritisiert.

Das­sel­be gilt für mas­si­ve Ver­let­zun­gen von Flücht­lings­rech­ten und den Men­schen­rech­ten von Schutz­su­chen­den. Euro­pa setzt alles dar­auf, dass die Tür­kei als Tür­ste­her der EU nach Euro­pa flie­hen­de Men­schen stoppt und nimmt dafür mas­si­ve Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in der Tür­kei bil­li­gend in Kauf.

Will­kür­li­che Inhaf­tie­run­gen in EU-finan­zier­ten Haftzentren

Mit­te Okto­ber ver­öf­fent­lich­te Amnes­ty Inter­na­tio­nal (AI) den Bericht „Europe´s Gate­kee­per. Unlawful detenti­on and depor­ta­ti­on of refu­gees from Tur­key“. Der Doku­men­ta­ti­on zufol­ge began­nen tür­ki­sche Beam­te im Sep­tem­ber 2015 damit, Schutz­su­chen­de abzu­fan­gen, die von den west­li­chen Pro­vin­zen der Tür­kei wie Edir­ne oder Mug­la aus in Rich­tung Grie­chen­land auf­bra­chen. Vie­le der Betrof­fe­nen kom­men aus Syri­en und dem Irak. Die Beam­ten ver­brach­ten sie in die Haft­zen­tren Düzi­ci in Osma­ni­ye (süd­li­che Pro­vinz) oder in das Abschie­be­zen­trum in Askale/Erzurum (Ost­tür­kei).

Amnes­ty Inter­na­tio­nal berich­tet von lan­ger Inhaf­tie­rung von Schutz­su­chen­den, voll­stän­di­ger Iso­lie­rung von der Außen­welt und Fäl­len erzwun­ge­ner Rück­kehr in Her­kunfts­län­der. Auch das ARD-Maga­zin Moni­tor hat vor Ort gedreht und schil­dert will­kür­li­che Inhaf­tie­run­gen und Abschie­bun­gen nach Syri­en. Die Tür­kei ver­stößt damit mas­siv gegen tür­ki­sches und inter­na­tio­na­les Recht.

Die EU und Deutsch­land als Komplizen

Die Berich­te schwe­rer Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in der Tür­kei sind beson­ders mit Blick auf die seit Okto­ber 2015 for­cier­te Koope­ra­ti­on der EU mit der Regie­rung Erdo­gan bri­sant. Am 29. Novem­ber 2015 hat­ten die euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs mit der tür­ki­schen Regie­rung einen umfas­sen­den Akti­ons­plan ver­ab­schie­det, der unter ande­rem auf eine „Stär­kung der Koope­ra­ti­on zur Ver­hin­de­rung irre­gu­lä­rer Migra­ti­ons­be­we­gun­gen in die EU“ abzielt. Die Ein­hal­tung von Men­schen­rech­ten fällt dabei unter den Tisch. Der Men­schen­rechts­be­auf­trag­te Chris­toph Sträs­ser warn­te in einem Inter­view mit der Welt bezo­gen auf die Koope­ra­ti­on: „Es darf aber kei­nen men­schen­rechts­po­li­ti­schen Rabatt für die Tür­kei geben.“

Auch die Bun­des­re­gie­rung wur­de im Zuge der Ver­öf­fent­li­chung des Berichts von Amnes­ty Inter­na­tio­nal vehe­ment kri­ti­siert. Die Bun­des­re­gie­rung mache sich zur „Kom­pli­zin schwer­wie­gen­der Ver­let­zun­gen des Völ­ker­rechts“, so der Spre­cher für Innen­po­li­tik der Grü­nen, Vol­ker Beck. Die Bun­des­re­gie­rung erklär­te dazu: „Der genann­te Bericht von Amnes­ty Inter­na­tio­nal ist der Bun­des­re­gie­rung bekannt.“ Die meis­ten Anga­ben könn­ten aber „nicht aus eige­nen Kennt­nis­sen bestä­tigt wer­den“. Man gehe des­halb „davon aus, dass die tür­ki­sche Regie­rung wei­ter­hin zu ihrer Zusi­che­rung steht, wonach kei­ne syri­schen Flücht­lin­ge nach Syri­en abge­scho­ben werden“.

Iso­la­ti­on und Miss­hand­lun­gen in Haft

Die Berich­te sind scho­ckie­rend: Betrof­fe­ne sag­ten aus, dass sie in voll­kom­me­ner Iso­la­ti­on fest­ge­hal­ten wur­den – Mobil­te­le­fo­ne sei­en kon­fis­ziert und Besu­che durch Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge und Anwäl­tIn­nen unter­sagt wor­den. Die Haft­zeit habe von meh­re­ren Wochen bis zu zwei Mona­ten gereicht, der Grund für ihre Inhaf­tie­rung sei den Schutz­su­chen­den nicht mit­ge­teilt wor­den. Eini­ge der Inhaf­tier­ten berich­te­ten von Miss­hand­lun­gen durch Beam­te. Amnes­ty Inter­na­tio­nal konn­te drei Fäl­le doku­men­tie­ren, die von meh­re­ren Zeu­gIn­nen bestä­tigt wurden.

Im ers­ten Fall wur­de ein inhaf­tier­ter syri­scher Flücht­ling von meh­re­ren Poli­zei­be­am­ten im Abschie­be­zen­trum Edir­ne bru­tal geschla­gen. Ein 40jähriger Syrer berich­te­te, dass er im Erzurum-Abschie­be­zen­trum wäh­rend sie­ben Tagen an Hän­den und Füs­sen gefes­selt allei­ne in einen Raum gesperrt wur­de. Auch drei Frau­en (zwei aus Syri­en, eine aus Marok­ko) berich­te­ten, nach ihrer Ankunft im Abschie­be­zen­trum Erzurum zur Lei­bes­vi­si­ta­ti­on gezwun­gen wor­den zu sein. Als sie sich wei­ger­ten, ihre Klei­der aus­zu­zie­hen, hät­ten die Beam­ten gelacht. Sie wür­den solan­ge war­ten, bis die Frau­en der Anwei­sung Fol­ge geleis­tet hätten.

20jähriger syri­scher Flücht­ling stirbt im Haft­zen­trum Askale/Erzurum

Mül­teci-DER, Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on von PRO ASYL in Izmir/Türkei, zufol­ge, eska­lier­te die Situa­ti­on in Erzurum Ende Dezem­ber: Gerüch­te über anste­hen­de Abschie­bun­gen aus dem Haft­zen­trum sorg­ten am 28. und 29. Dezem­ber für Span­nun­gen unter den Flücht­lin­gen, die Bereit­schafts­po­li­zei wur­de nach Askale/Erzurum beor­dert. Danach gelang­ten kaum wei­te­re Infor­ma­tio­nen nach außen, selbst die Stra­ße zum Abschie­bungs­zen­trum wur­de blo­ckiert. Mül­teci-DER erreich­ten Berich­te von schwe­ren Miss­hand­lun­gen durch die Poli­zei­be­am­ten, die bis hin zu Fol­ter reichten.

Inzwi­schen gibt es sogar Berich­te von Todes­fäl­len: Am 2. Janu­ar wur­de der Tod eines 20jährigen syri­schen Flücht­lings im Haft­zen­trum bestä­tigt. Die Behör­den behaup­ten, er habe Selbst­mord began­gen. Weder sei­ne Fami­lie noch sein Anwalt trau­en die­ser Aus­sa­ge. Auf­grund des Drucks der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen hat der Tür­ki­sche Men­schen­rechts­aus­schuss am 4. Janu­ar 2016 eine Dele­ga­ti­on nach Erzurum geschickt, um den schwer­wie­gen­den Anschul­di­gun­gen nach­zu­ge­hen. Ein Bericht liegt noch nicht vor.

Abschie­bungs­zen­trum in Erzurum wur­de mit euro­päi­schen Gel­dern finanziert

Sowohl Amnes­ty Inter­na­tio­nal als auch Anwäl­tIn­nen, die ihre Man­dan­ten besu­chen woll­ten, wird der Zugang zum Abschie­be­zen­trum in Erzurum ver­wehrt. Skan­da­lös ist auch die Tat­sa­che, dass das im Herbst eröff­ne­te Haft­zen­trum mit euro­päi­schen Gel­dern mit­fi­nan­ziert wur­de. Dort inhaf­tier­te Schutz­su­chen­de berich­te­ten, auf meh­re­ren Gegen­stän­den in Erzurum hät­ten sich Eti­ket­ten befun­den mit dem Ver­merk, dass das Haft­zen­trum zu 85% durch EU-Gel­der finan­ziert sei.

Inhaf­tie­run­gen sind rechtswidrig

Die will­kür­li­chen Inhaf­tie­run­gen sind rechts­wid­rig. Das tür­ki­sche Gesetz sieht zwar vor, dass aus­län­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge in Haft genom­men wer­den kön­nen, wenn ihr Asyl­ge­such geprüft wird oder ihre Abschie­bung ange­ord­net wur­de. Doch die oder der Betrof­fe­ne muss über den Grund des Frei­heits­ent­zugs in Kennt­nis gesetzt wer­den. Kei­ner der von AI befrag­ten Schutz­su­chen­den hat­te ent­spre­chen­de Infor­ma­tio­nen erhalten.

Für syri­sche Schutz­su­chen­de gibt es kei­ner­lei Rechts­grund­la­ge, auf der Inhaf­tie­rung ange­ord­net wer­den kann, da syri­schen Flücht­lin­gen pau­schal ein tem­po­rä­rer Schutz­sta­tus zuer­kannt wird, ohne dass sie auf indi­vi­du­el­ler Basis einen Asyl­an­trag zu stel­len hät­ten. Auch eine Abschie­bung nach Syri­en kommt auf­grund des Bür­ger­kriegs im Land recht­lich nicht in Frage.

Die tür­ki­schen Behör­den lie­ßen ver­lau­ten, Flücht­lin­ge und Asyl­su­chen­de könn­ten aus „Sicher­heits­grün­den“ oder weil sie „kri­mi­nel­le Hand­lun­gen“ began­gen hät­ten, in Admi­nis­tra­tiv­haft genom­men wer­den. Eine ent­spre­chen­de Geset­zes­grund­la­ge lässt sich nicht finden.

Hun­der­te ille­ga­le Abschie­bun­gen nach Syri­en und in den Irak

Bei einem Besuch von Amnes­ty Inter­na­tio­nal im Düzi­ci Camp in Osma­ni­ye Anfang Dezem­ber 2015 berich­te­ten Beam­te, dass die Schutz­su­chen­den die Ein­rich­tung ver­las­sen könn­ten, sofern sie den Nach­weis erbräch­ten, dass sie eine Unter­kunft hät­ten, sich selbst ver­sor­gen könn­ten oder wenn sie ein­wil­lig­ten, frei­wil­lig nach Syri­en zurück­zu­keh­ren. Da syri­sche Flücht­lin­ge kein Anrecht auf eine Arbeits­er­laub­nis haben, ist der Nach­weis über genü­gend Ein­kom­men de fac­to unmög­lich. Die „frei­wil­li­ge Rück­kehr“ nach Syri­en bleibt damit die ein­zi­ge Opti­on, um aus der Haft ent­las­sen zu wer­den. Bereits Ende Novem­ber hat­te Human Rights Watch einen Bericht über ille­ga­le Zurück­wei­sun­gen syri­scher Flücht­lin­ge an der tür­kisch-syri­schen Gren­ze veröffentlicht.

Amnes­ty Inter­na­tio­nal konn­te mehr­fach glaub­wür­di­ge Zeu­gen­aus­sa­gen von erzwun­ge­nen Abschie­bun­gen nach Syri­en und in den Irak doku­men­tie­ren, was einen mas­si­ven Ver­stoß gegen das Non-Refou­le­ment-Gebot dar­stellt. In den letz­ten Mona­ten sol­len die tür­ki­schen Behör­den über hun­dert Men­schen abge­scho­ben und sie damit dem Risi­ko schwe­rer Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Syri­en oder dem Irak aus­ge­setzt haben.

Die Anzahl der nicht bekann­ten Abschie­bun­gen ist ver­mut­lich sehr hoch und schließt auch Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan ein. Die Betrof­fe­nen berich­te­ten von unter­schied­li­cher  Zwangs­an­wen­dung, um die Schutz­su­chen­den zur „frei­wil­li­gen“ Rück­kehr zu nöti­gen. Die meis­ten wur­den bedroht, bis auf wei­te­res in Haft zu blei­ben. Ande­re berich­te­ten zur Unter­zeich­nung der Ein­wil­li­gung gezwun­gen wor­den zu sein, ohne dass sie ver­stan­den, was das tür­ki­sche Doku­ment bedeu­te­te. Ein­zel­ne sei­en auch unter phy­si­schem Zwang zur Abga­be ihres Fin­ger­ab­drucks gezwun­gen wor­den. Vie­le der Schutz­su­chen­den, die nicht abge­scho­ben wur­den, muss­ten ein Doku­ment unter­zeich­nen, in dem sie ange­wie­sen wur­den, inner­halb von 30 Tagen die Tür­kei zu ver­las­sen. Bei­de Doku­men­te wur­den den Betrof­fe­nen auf Nach­fra­ge nicht in Kopie ausgehändigt.

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