22.03.2019

Am Dienstag entschied der EuGH gleich in drei bedeutsamen Fällen. Während in der öffentlichen Berichterstattung falsche Schlüsse aus zwei Urteilen gezogen wurden, blieb das dritte sogar unberücksichtigt – obwohl gerade dieses politische Sprengkraft hat, denn es zeigt, dass Seehofers Deal mit Griechenland europarechtswidrig ist.

Am 19. März 2019 ver­öf­fent­lich­te der Euro­päi­sche Gerichts­hof (EuGH) äußerst rele­van­te Urtei­le im soge­nann­ten Vor­la­ge­ver­fah­ren, bei dem natio­na­le Gerich­te dem EuGH unkla­re Rechts­fra­gen zur Ent­schei­dung vor­le­gen. Medi­al auf­ge­grif­fen wur­de pri­mär eine Aus­sa­ge, die so nicht in den Urtei­len wie­der­zu­fin­den ist: Abschie­bun­gen in EU-Län­der wür­den ver­ein­facht (so im Titel Tages­schau, ZDFheu­te). Tat­säch­lich aber hat der EuGH erneut betont, dass sich jede Über­stel­lung in unmensch­li­che oder ernied­ri­gen­de Situa­ti­on ver­bie­tet, und zwar unab­hän­gig ob wäh­rend oder nach dem Asyl­ver­fah­ren– eine Erwei­te­rung der aktu­el­len Recht­spre­chung. Lei­der unbe­ach­tet blieb zudem das EuGH-Urteil, wel­ches den Gro­Ko-Beschluss zu Ver­fah­ren an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze hin­fäl­lig wer­den lässt.

In der Rechts­sa­che Arib u.a., beschäf­tig­te sich der EuGH mit der Fra­ge der Anwend­bar­keit bestimm­ter euro­päi­scher Rege­lun­gen, wenn dort aus­nahms­wei­se wie­der Grenz­kon­trol­len ein­ge­führt wur­den (zur Rechts­wid­rig­keit aktu­el­ler Grenz­kon­trol­len sie­he hier). Kon­kret ging es um einen marok­ka­ni­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen, der im Juni 2016 in einem Rei­se­bus von Spa­ni­en nach Frank­reich ein­reis­te. Nach einer Kon­trol­le wur­de er wegen des Ver­dachts der ille­ga­len Ein­rei­se in Gewahr­sam genom­men. Am Fol­ge­tag wur­de ihm auf­ge­ge­ben, Frank­reich zu ver­las­sen und Abschie­be­haft ange­ord­net. Der Betrof­fe­ne wur­de dabei so behan­delt, als sei er gar nicht in Frank­reich ein­ge­reist. Als Grund­la­ge dafür wur­de das Argu­ment her­an­ge­zo­gen, dass die Bin­nen­gren­ze durch die Grenz­kon­trol­le zu Außen­gren­ze wür­den, wodurch bestimm­te Ver­fah­rens­re­ge­lun­gen der euro­päi­schen Rück­füh­rungs­richt­li­nie nicht grei­fen müss­ten und Ein­rei­se­ver­wei­ge­run­gen mög­lich würden.

Der EuGH erteil­te die­ser Inter­pre­ta­ti­on jedoch eine kla­re Absa­ge: Bin­nen­gren­ze bleibt Bin­nen­gren­ze und ent­spre­chend müs­sen die dafür vor­ge­se­he­nen Ver­fah­ren ange­wen­det wer­den. Dar­aus folgt auch, dass die Per­son nach Grenz­über­tritt in den Mit­glied­staat bereits ein­ge­reist ist, selbst dann, wenn Grenz­kon­trol­len ein­ge­führt wur­den und sie in unmit­tel­ba­rer Nähe einer Bin­nen­gren­ze auf­ge­grif­fen wird (Rn. 38). Man kann nicht so tun, als ob die Per­son noch gar nicht ein­ge­reist sei und die Ein­rei­se ver­wei­gern, um damit euro­päi­sche Rege­lun­gen zu umge­hen. Der EuGH stärkt dar­über hin­aus auch die Ver­fah­rens­rech­te der Betrof­fe­nen und betont erneut, dass ein Ver­fah­ren mit Rechts­schutz­mög­lich­keit not­wen­dig ist.

Folgen für Deutschland: Keine „Fiktion der Nichteinreise“ aus dem Bundesinnenministerium

Im ver­gan­ge­nen Jahr stand die Gro­Ko kurz nach der Unter­zeich­nung des Koali­ti­ons­ver­tra­ges schon fast vorm Zer­bre­chen, weil Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer Tran­sit­zen­tren an Deutsch­lands Gren­zen ein­rich­ten oder Betrof­fe­ne direkt an der Gren­ze aus zurück­schi­cken woll­te. Im dar­auf­fol­gen­den Beschluss der Gro­ßen Koali­ti­on wur­de sich dann auf »Tran­sit­ver­fah­ren« geei­nigt, bei denen im Rah­men von bila­te­ra­len Abkom­men an der Gren­ze auf­ge­grif­fe­ne Flücht­lin­ge direkt wie­der in das EU-Land zurück geschickt wer­den sol­len, wo sie als ers­tes regis­triert wur­den. Sol­che Abkom­men wur­den mit Grie­chen­land und Spa­ni­en geschlos­sen (sog. See­ho­fer-Deals). Nach dem EuGH-Urteil müss­te nun auch dem Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um klar sein, dass die­se rechts­wid­rig sind.

Zwar ging es in Arib u.a. um die Anwen­dung der Rück­füh­rungs­richt­li­nie an der fran­zö­si­schen Gren­ze, doch gilt die­ser Grund­satz eben­so für Deutsch­land und sei­ne Ver­fah­ren an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze: Nach den »See­ho­fer-Deals« soll die Bun­des­po­li­zei an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze betrof­fe­ne Per­so­nen wie »Nicht-Ein­ge­reis­te« behan­deln. Vor der Rück­füh­rung der Betrof­fe­nen ist kei­ner­lei Prü­fung nach der dafür ver­bind­lich vor­ge­schrie­be­nen Dub­lin-Ver­ord­nung vor­ge­se­hen, selbst dann nicht, wenn es sich um beson­ders trau­ma­ti­sier­te Per­so­nen han­delt wie zwei Fäl­le zei­gen, die PRO ASYL beglei­tet. Grund­la­ge der Ein­rei­se­ver­wei­ge­rung auf deut­schem Boden ist die nun als rechts­wid­rig bestä­tig­te soge­nann­te »Fik­ti­on der Nicht­ein­rei­se« aus dem Beschluss der GroKo.

Auch wenn der­zeit die Fall­zah­len der an der Gren­ze Zurück­ge­wie­se­nen gering sind, so zeigt die EuGH-Recht­spre­chung, wie bedeu­tend die Rechts­fra­ge ist. PRO ASYL hat von Anfang an dar­auf hin­ge­wie­sen, dass eine sol­che Umge­hung der euro­pa­recht­li­chen Vor­schrif­ten rechts­wid­rig ist – auch unter Hin­weis auf dro­hen­de Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen bei Über­stel­lung. Etli­che Rechts­exper­tIn­nen erklär­ten die­se rechts­frei­en Ver­fah­ren für rechts­wid­rig (»Gewoll­tes Recht«). Den­noch schien es am Ende wich­ti­ger, Strei­te­rei­en inner­halb der Koali­ti­on zu gewin­nen, als sach­lich über die Din­ge zu diskutieren.

Ohne­hin geht es um mehr als »nur« um die Zahl von Ein­zel­fäl­len: Es geht um die gewoll­te Umge­hung rechts­staat­li­cher Ver­fah­rens­ga­ran­tien, um die Schaf­fung rechts­freie Räu­me, die in der Zusam­men­schau aller Ver­schär­fun­gen eine dra­ma­ti­sche Ent­wick­lung demons­trie­ren. Dem hat der EuGH nun an die­sem Punkt Gren­zen gesetzt.

In den Medi­en wur­de über den Fall Jawo gegen Deutsch­land berich­tet, bei dem es um eine Über­stel­lung nach Ita­li­en im Rah­men der Dub­lin-Ver­ord­nung ging. Da der Asyl­be­wer­ber Herr Jawo zuerst in Ita­li­en regis­triert wur­de, woll­te Deutsch­land ihn nach den euro­päi­schen Ver­tei­lungs­re­ge­lun­gen dort­hin zurück brin­gen. Gegen die Abschie­bung nach Ita­li­en wehr­te sich Herr Jawo vor Gericht mit dem Argu­ment, dass er dort kein men­schen­wür­di­ges Leben füh­ren könn­te. In sol­chen Fäl­len darf näm­lich kei­ne Rück­über­stel­lung stattfinden.

Die­se Rege­lung geht auf Recht­spre­chung des Euro­päi­schen Men­schen­rechts­ge­richts­ho­fes (EGMR) zurück, der 2011 in Bezug auf Grie­chen­land ent­schied, dass es dort sys­te­mi­sche Män­gel im Asyl­ver­fah­ren gab und den Asyl­su­chen­den kein men­schen­wür­di­ges Leben mög­lich war. Der EGMR stell­te in dem Urteil auch auf die beson­de­re Schutz­be­dürf­tig­keit von Asyl­su­chen­den ab. Als Kon­se­quenz die­ser Recht­spre­chung wur­den die Dub­lin-Über­stel­lun­gen nach Grie­chen­land euro­pa­weit bis 2017 aus­ge­setzt, 2018 erfolg­ten ledig­lich sechs Über­stel­lun­gen aus Deutsch­land. Bis heu­te wer­den auf­grund der dor­ti­gen Zustän­de immer wie­der Rück­über­stel­lun­gen von Asyl­su­chen­den nach Grie­chen­land durch Gerich­te gestoppt.

Neu wur­de nun dem EuGH die Fra­ge vor­ge­legt, ob neben den Bedin­gun­gen im Asyl­ver­fah­ren auch die Bedin­gun­gen nach einer mög­li­chen Aner­ken­nung im ande­ren Mit­glied­staat zu berück­sich­ti­gen sind. Gera­de in Ita­li­en sind die Zustän­de für aner­kann­te Schutz­be­rech­tig­te oft kata­stro­phal. Dies hat die Schwei­ze­ri­sche Flücht­lings­hil­fe doku­men­tiert, Aner­kann­te leben man­gels Alter­na­ti­ven oft in besetz­ten Häu­sern und Slums oder auf der Stra­ße. Dass es in Ita­li­en gene­rell kaum sozia­le Unter­stüt­zung vom Staat gibt trifft Flücht­lin­ge ohne sozia­les und fami­liä­res Umfeld beson­ders hart. Das Ver­wal­tungs­ge­richts­hof Baden-Würt­tem­berg frag­te den EuGH des­we­gen, ob er bei Prü­fung der Über­stel­lungs­vor­aus­set­zun­gen auch die Situa­ti­on nach einer Aner­ken­nung berück­sich­ti­gen müsse.

Absoluter Schutz unabhängig des Verfahrensstands

Der EuGH beant­wor­te­te die­se Fra­ge mit einem kla­ren Ja. Wenn die Per­son nach­ge­wie­sen hat, dass eine Gefahr einer unmensch­li­chen Behand­lung nach der Aner­ken­nung droht, muss das Gericht dies ent­spre­chend wür­di­gen und zwar »auf der Grund­la­ge objek­ti­ver, zuver­läs­si­ger, genau­er und gebüh­rend aktua­li­sier­ter Anga­ben und im Hin­blick auf den durch das Uni­ons­recht gewähr­leis­te­ten Schutz­stan­dard der Grund­rech­te« (Rn. 98). Dabei bezieht sich der EuGH aus­drück­lich auf das Fol­ter-Ver­bot aus Art. 4 der EU-Grund­rech­te­char­ta und Art. 3 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on, wonach nie­mand einem ernst­haf­ten Risi­ko aus­ge­setzt wer­den darf, eine unmensch­li­che oder ernied­ri­gen­de Behand­lung zu erfah­ren – »gleich­gül­tig, ob es zum Zeit­punkt der Über­stel­lung, wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens oder nach des­sen Abschluss dazu kommt“ (Rn. 88).

Der Maß­stab eines sol­chen Risi­kos erfor­dert eine »beson­de­re Schwel­le der Erheb­lich­keit«. Dies ist aller­dings kei­ne »Ver­ein­fa­chung« von Abschie­bun­gen in ande­re EU-Staa­ten, wie es in der Öffent­lich­keit dar­ge­stellt wur­de, son­dern bestä­tigt bestehen­de Recht­spre­chung, wonach nicht jede Schlech­ter­stel­lung einen Abschie­be­stopp bewirkt ( vgl. EuGH vom 21.12.2011, Rn. 85). Laut EuGH muss es sich um eine Situa­ti­on extre­mer mate­ri­el­ler Not han­deln. Damit bezieht sich der EuGH auf die Recht­spre­chung des EGMR, setzt also kei­nen neu­en Stan­dard (EGMR, Rn. 252). Nun ist es Sache der natio­na­len Gerich­te, in die­sem Ein­zel­fall zu prü­fen, ob über­stellt wer­den kann oder nicht.

Nicht nur Ita­li­en, auch bei ande­ren Mit­glied­staa­ten wird von natio­na­len Gerich­ten im Ein­zel­fall zu prü­fen sein, ob die schlech­ten Bedin­gun­gen für Aner­kann­te eine Über­stel­lung ver­bie­ten – bei­spiels­wei­se nach Grie­chen­land und Bul­ga­ri­en. Nach Ungarn fin­den der­zeit ohne­hin kei­ne Über­stel­lun­gen statt.

Flüchtigsein erfordert Absicht

Eine zwei­te wich­ti­ge Fra­ge des Ver­wal­tungs­ge­richts­hofs Baden-Würt­tem­berg bezog sich auf die Fra­ge des »Flüch­tig­seins«. Nach der Dub­lin-Ver­ord­nung muss eine Per­son inner­halb von sechs Mona­ten über­stellt wer­den. Die­se Frist kann sich dann auf 18 Mona­te ver­län­gern, wenn sie »flüch­tig« ist (Art. 29 Abs. 2 S. 2). Laut EuGH ist das dann der Fall, wenn sich die Per­son der Durch­füh­rung der Über­stel­lung gezielt ent­zieht, um die­se zu ver­ei­teln. Dies kann ange­nom­men wer­den, wenn sie die zuge­wie­se­ne Woh­nung ver­las­sen hat, ohne die zustän­di­gen natio­na­len Behör­den über die Abwe­sen­heit zu infor­mie­ren. Dies gilt aber nur, wenn die Per­son über die­se Pflich­ten unter­rich­tet wur­de, was das Gericht zu prü­fen hat. Zudem behält der/die Betrof­fe­ne die Mög­lich­keit nach­zu­wei­sen, dass die Abwe­sen­heit aus stich­hal­ti­gen Grün­den nicht mit­ge­teilt wur­de und nicht in der Absicht, sich den Behör­den zu ent­zie­hen (Rn. 70).

Im drit­ten Ver­fah­ren, Ibra­him u.a. gegen Deutsch­land, geht es eben­falls um die Situa­ti­on von Schutz­be­rech­tig­ten. Hier hat­ten die Betrof­fe­nen in Bul­ga­ri­en bzw. in Polen bereits sub­si­diä­ren Schutz erhal­ten, sind aber auf­grund der dor­ti­gen Ver­hält­nis­se nach Deutsch­land wei­ter­ge­flo­hen und bean­trag­ten den vol­len Flücht­lings­schutz nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK). Auch hier stellt der EuGH klar, dass eine Abschie­bung die­ser Aner­kann­ten dann nicht mög­lich ist, wenn im Ein­zel­fall nach­ge­wie­sen ist, dass eine unmensch­li­che Behand­lung im Sin­ne einer extre­men mate­ri­el­len Not droht (sie­he zur Erläu­te­rung oben zu Jawo). Wenn die Betrof­fe­nen als sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te Schutz nach der GFK bean­tra­gen wol­len, weil ihr Asyl­ver­fah­ren von erheb­li­chen Män­geln geprägt war, müs­sen sie das grund­sätz­lich im ursprüng­li­chen Mit­glied­staat tun – es sei denn auch hier wie­der, dass eine unmensch­li­che Behand­lung droht.

Gefahr unmenschlicher Behandlung muss geprüft werden

Auch die­se Ent­schei­dung stellt alles ande­re als eine »Ver­ein­fa­chung« dar, sie ist zudem aus deut­scher Sicht schon längst Geset­zes­la­ge: Schon heu­te muss nach § 31 Abs. 3 AsylG das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge auch bei sog. Unzu­läs­sig­keits­ent­schei­dun­gen immer noch die natio­na­len Abschie­bungs­ver­bo­te nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Auf­enthG prü­fen – und genau hier muss dann die Gefahr einer unmensch­li­chen Behand­lung geprüft werden.

Wohl­ge­merkt: Die ande­ren Mit­glied­staa­ten wer­den dadurch auch nicht von ihren euro­pa­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen frei gespro­chen! Sie sind nach wie vor an euro­päi­sche Rege­lun­gen gebun­den wie die Ver­fah­rens­richt­li­nie, Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie und Auf­nah­me­richt­li­nie, wel­che bestimm­te Rech­te für Geflüch­te­te vor­se­hen, die über das Ver­hin­dern einer mate­ri­el­len Not hinausgehen.

(wj / beb)