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Drei EuGH-Urteile – eine fragwürdige Berichterstattung
Am Dienstag entschied der EuGH gleich in drei bedeutsamen Fällen. Während in der öffentlichen Berichterstattung falsche Schlüsse aus zwei Urteilen gezogen wurden, blieb das dritte sogar unberücksichtigt – obwohl gerade dieses politische Sprengkraft hat, denn es zeigt, dass Seehofers Deal mit Griechenland europarechtswidrig ist.
Am 19. März 2019 veröffentlichte der Europäische Gerichtshof (EuGH) äußerst relevante Urteile im sogenannten Vorlageverfahren, bei dem nationale Gerichte dem EuGH unklare Rechtsfragen zur Entscheidung vorlegen. Medial aufgegriffen wurde primär eine Aussage, die so nicht in den Urteilen wiederzufinden ist: Abschiebungen in EU-Länder würden vereinfacht (so im Titel Tagesschau, ZDFheute). Tatsächlich aber hat der EuGH erneut betont, dass sich jede Überstellung in unmenschliche oder erniedrigende Situation verbietet, und zwar unabhängig ob während oder nach dem Asylverfahren– eine Erweiterung der aktuellen Rechtsprechung. Leider unbeachtet blieb zudem das EuGH-Urteil, welches den GroKo-Beschluss zu Verfahren an der deutsch-österreichischen Grenze hinfällig werden lässt.
In der Rechtssache Arib u.a., beschäftigte sich der EuGH mit der Frage der Anwendbarkeit bestimmter europäischer Regelungen, wenn dort ausnahmsweise wieder Grenzkontrollen eingeführt wurden (zur Rechtswidrigkeit aktueller Grenzkontrollen siehe hier). Konkret ging es um einen marokkanischen Staatsangehörigen, der im Juni 2016 in einem Reisebus von Spanien nach Frankreich einreiste. Nach einer Kontrolle wurde er wegen des Verdachts der illegalen Einreise in Gewahrsam genommen. Am Folgetag wurde ihm aufgegeben, Frankreich zu verlassen und Abschiebehaft angeordnet. Der Betroffene wurde dabei so behandelt, als sei er gar nicht in Frankreich eingereist. Als Grundlage dafür wurde das Argument herangezogen, dass die Binnengrenze durch die Grenzkontrolle zu Außengrenze würden, wodurch bestimmte Verfahrensregelungen der europäischen Rückführungsrichtlinie nicht greifen müssten und Einreiseverweigerungen möglich würden.
Der EuGH erteilte dieser Interpretation jedoch eine klare Absage: Binnengrenze bleibt Binnengrenze und entsprechend müssen die dafür vorgesehenen Verfahren angewendet werden. Daraus folgt auch, dass die Person nach Grenzübertritt in den Mitgliedstaat bereits eingereist ist, selbst dann, wenn Grenzkontrollen eingeführt wurden und sie in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen wird (Rn. 38). Man kann nicht so tun, als ob die Person noch gar nicht eingereist sei und die Einreise verweigern, um damit europäische Regelungen zu umgehen. Der EuGH stärkt darüber hinaus auch die Verfahrensrechte der Betroffenen und betont erneut, dass ein Verfahren mit Rechtsschutzmöglichkeit notwendig ist.
Folgen für Deutschland: Keine „Fiktion der Nichteinreise“ aus dem Bundesinnenministerium
Im vergangenen Jahr stand die GroKo kurz nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages schon fast vorm Zerbrechen, weil Bundesinnenminister Seehofer Transitzentren an Deutschlands Grenzen einrichten oder Betroffene direkt an der Grenze aus zurückschicken wollte. Im darauffolgenden Beschluss der Großen Koalition wurde sich dann auf »Transitverfahren« geeinigt, bei denen im Rahmen von bilateralen Abkommen an der Grenze aufgegriffene Flüchtlinge direkt wieder in das EU-Land zurück geschickt werden sollen, wo sie als erstes registriert wurden. Solche Abkommen wurden mit Griechenland und Spanien geschlossen (sog. Seehofer-Deals). Nach dem EuGH-Urteil müsste nun auch dem Bundesinnenministerium klar sein, dass diese rechtswidrig sind.
Zwar ging es in Arib u.a. um die Anwendung der Rückführungsrichtlinie an der französischen Grenze, doch gilt dieser Grundsatz ebenso für Deutschland und seine Verfahren an der deutsch-österreichischen Grenze: Nach den »Seehofer-Deals« soll die Bundespolizei an der deutsch-österreichischen Grenze betroffene Personen wie »Nicht-Eingereiste« behandeln. Vor der Rückführung der Betroffenen ist keinerlei Prüfung nach der dafür verbindlich vorgeschriebenen Dublin-Verordnung vorgesehen, selbst dann nicht, wenn es sich um besonders traumatisierte Personen handelt wie zwei Fälle zeigen, die PRO ASYL begleitet. Grundlage der Einreiseverweigerung auf deutschem Boden ist die nun als rechtswidrig bestätigte sogenannte »Fiktion der Nichteinreise« aus dem Beschluss der GroKo.
Auch wenn derzeit die Fallzahlen der an der Grenze Zurückgewiesenen gering sind, so zeigt die EuGH-Rechtsprechung, wie bedeutend die Rechtsfrage ist. PRO ASYL hat von Anfang an darauf hingewiesen, dass eine solche Umgehung der europarechtlichen Vorschriften rechtswidrig ist – auch unter Hinweis auf drohende Menschenrechtsverletzungen bei Überstellung. Etliche RechtsexpertInnen erklärten diese rechtsfreien Verfahren für rechtswidrig (»Gewolltes Recht«). Dennoch schien es am Ende wichtiger, Streitereien innerhalb der Koalition zu gewinnen, als sachlich über die Dinge zu diskutieren.
Ohnehin geht es um mehr als »nur« um die Zahl von Einzelfällen: Es geht um die gewollte Umgehung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien, um die Schaffung rechtsfreie Räume, die in der Zusammenschau aller Verschärfungen eine dramatische Entwicklung demonstrieren. Dem hat der EuGH nun an diesem Punkt Grenzen gesetzt.
In den Medien wurde über den Fall Jawo gegen Deutschland berichtet, bei dem es um eine Überstellung nach Italien im Rahmen der Dublin-Verordnung ging. Da der Asylbewerber Herr Jawo zuerst in Italien registriert wurde, wollte Deutschland ihn nach den europäischen Verteilungsregelungen dorthin zurück bringen. Gegen die Abschiebung nach Italien wehrte sich Herr Jawo vor Gericht mit dem Argument, dass er dort kein menschenwürdiges Leben führen könnte. In solchen Fällen darf nämlich keine Rücküberstellung stattfinden.
Diese Regelung geht auf Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes (EGMR) zurück, der 2011 in Bezug auf Griechenland entschied, dass es dort systemische Mängel im Asylverfahren gab und den Asylsuchenden kein menschenwürdiges Leben möglich war. Der EGMR stellte in dem Urteil auch auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Asylsuchenden ab. Als Konsequenz dieser Rechtsprechung wurden die Dublin-Überstellungen nach Griechenland europaweit bis 2017 ausgesetzt, 2018 erfolgten lediglich sechs Überstellungen aus Deutschland. Bis heute werden aufgrund der dortigen Zustände immer wieder Rücküberstellungen von Asylsuchenden nach Griechenland durch Gerichte gestoppt.
Neu wurde nun dem EuGH die Frage vorgelegt, ob neben den Bedingungen im Asylverfahren auch die Bedingungen nach einer möglichen Anerkennung im anderen Mitgliedstaat zu berücksichtigen sind. Gerade in Italien sind die Zustände für anerkannte Schutzberechtigte oft katastrophal. Dies hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe dokumentiert, Anerkannte leben mangels Alternativen oft in besetzten Häusern und Slums oder auf der Straße. Dass es in Italien generell kaum soziale Unterstützung vom Staat gibt trifft Flüchtlinge ohne soziales und familiäres Umfeld besonders hart. Das Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg fragte den EuGH deswegen, ob er bei Prüfung der Überstellungsvoraussetzungen auch die Situation nach einer Anerkennung berücksichtigen müsse.
Absoluter Schutz unabhängig des Verfahrensstands
Der EuGH beantwortete diese Frage mit einem klaren Ja. Wenn die Person nachgewiesen hat, dass eine Gefahr einer unmenschlichen Behandlung nach der Anerkennung droht, muss das Gericht dies entsprechend würdigen und zwar »auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte« (Rn. 98). Dabei bezieht sich der EuGH ausdrücklich auf das Folter-Verbot aus Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach niemand einem ernsthaften Risiko ausgesetzt werden darf, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren – »gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt“ (Rn. 88).
Der Maßstab eines solchen Risikos erfordert eine »besondere Schwelle der Erheblichkeit«. Dies ist allerdings keine »Vereinfachung« von Abschiebungen in andere EU-Staaten, wie es in der Öffentlichkeit dargestellt wurde, sondern bestätigt bestehende Rechtsprechung, wonach nicht jede Schlechterstellung einen Abschiebestopp bewirkt ( vgl. EuGH vom 21.12.2011, Rn. 85). Laut EuGH muss es sich um eine Situation extremer materieller Not handeln. Damit bezieht sich der EuGH auf die Rechtsprechung des EGMR, setzt also keinen neuen Standard (EGMR, Rn. 252). Nun ist es Sache der nationalen Gerichte, in diesem Einzelfall zu prüfen, ob überstellt werden kann oder nicht.
Nicht nur Italien, auch bei anderen Mitgliedstaaten wird von nationalen Gerichten im Einzelfall zu prüfen sein, ob die schlechten Bedingungen für Anerkannte eine Überstellung verbieten – beispielsweise nach Griechenland und Bulgarien. Nach Ungarn finden derzeit ohnehin keine Überstellungen statt.
Flüchtigsein erfordert Absicht
Eine zweite wichtige Frage des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg bezog sich auf die Frage des »Flüchtigseins«. Nach der Dublin-Verordnung muss eine Person innerhalb von sechs Monaten überstellt werden. Diese Frist kann sich dann auf 18 Monate verlängern, wenn sie »flüchtig« ist (Art. 29 Abs. 2 S. 2). Laut EuGH ist das dann der Fall, wenn sich die Person der Durchführung der Überstellung gezielt entzieht, um diese zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn sie die zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über die Abwesenheit zu informieren. Dies gilt aber nur, wenn die Person über diese Pflichten unterrichtet wurde, was das Gericht zu prüfen hat. Zudem behält der/die Betroffene die Möglichkeit nachzuweisen, dass die Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt wurde und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen (Rn. 70).
Im dritten Verfahren, Ibrahim u.a. gegen Deutschland, geht es ebenfalls um die Situation von Schutzberechtigten. Hier hatten die Betroffenen in Bulgarien bzw. in Polen bereits subsidiären Schutz erhalten, sind aber aufgrund der dortigen Verhältnisse nach Deutschland weitergeflohen und beantragten den vollen Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Auch hier stellt der EuGH klar, dass eine Abschiebung dieser Anerkannten dann nicht möglich ist, wenn im Einzelfall nachgewiesen ist, dass eine unmenschliche Behandlung im Sinne einer extremen materiellen Not droht (siehe zur Erläuterung oben zu Jawo). Wenn die Betroffenen als subsidiär Schutzberechtigte Schutz nach der GFK beantragen wollen, weil ihr Asylverfahren von erheblichen Mängeln geprägt war, müssen sie das grundsätzlich im ursprünglichen Mitgliedstaat tun – es sei denn auch hier wieder, dass eine unmenschliche Behandlung droht.
Gefahr unmenschlicher Behandlung muss geprüft werden
Auch diese Entscheidung stellt alles andere als eine »Vereinfachung« dar, sie ist zudem aus deutscher Sicht schon längst Gesetzeslage: Schon heute muss nach § 31 Abs. 3 AsylG das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch bei sog. Unzulässigkeitsentscheidungen immer noch die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG prüfen – und genau hier muss dann die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung geprüft werden.
Wohlgemerkt: Die anderen Mitgliedstaaten werden dadurch auch nicht von ihren europarechtlichen Verpflichtungen frei gesprochen! Sie sind nach wie vor an europäische Regelungen gebunden wie die Verfahrensrichtlinie, Qualifikationsrichtlinie und Aufnahmerichtlinie, welche bestimmte Rechte für Geflüchtete vorsehen, die über das Verhindern einer materiellen Not hinausgehen.
(wj / beb)