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Die »scheibchenweise« Abschaffung des Flüchtlingsschutzes in Europa
Abseits der öffentlichen Wahrnehmung wird der Abbau des europäischen Asylsystems geplant. Mit neuen Instrumenten wie der sogenannten Instrumentalisierungs- und Screeningverordnung sollen Flüchtlinge massiv entrechtet werden. Damit werden der Zugang zum Recht auf Asyl und das Rechtsstaatlichkeitsprinzip in Europa insgesamt zur Disposition gestellt.
Um was geht es?
Im Dezember 2021 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung vor, die den EU-Mitgliedstaaten in Situationen der »Instrumentalisierung von Migranten« ermöglicht, von ihren Verpflichtungen nach dem EU-Asylrecht abzuweichen. Auslöser war die Initiative des belarussischen Diktators Lukaschenko, der ab der zweiten Jahreshälfte 2021 durch Visaerleichterungen eine neue Fluchtroute nach Europa ermöglichte. Das bewerteten verschiedenen EU-Politiker*innen als »hybriden Angriff« und »Destabilisierungsversuch« der EU. Die nun geplante Instrumentalisierungsverordnung soll den EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumen, im Falle einer solchen »Instrumentalisierung« den Zugang zu einem Asylverfahren und die Rechte von Asylsuchenden stark einzuschränken. Die Folge ist, dass die Menschen, die selbst zu Opfern eines solchen perfiden Spiels geworden sind, entrechtet werden.
Bereits im Sommer 2021 hatte sich der Rat auf eine Screeningverordnung geeinigt, die vorsieht, dass Schutzsuchende während des Screenings als »nicht eingereist« gelten und sich nicht frei bewegen dürfen. Im Anschluss sollen sie ein Asylgrenzverfahren durchlaufen, bei dem ebenfalls die »Fiktion der Nichteinreise« gilt und sie damit systematisch inhaftiert werden – so sieht es zumindest der aktuelle Stand der Diskussion um die Asylverfahrensverordnung vor.
In solchen Haftlagern sind katastrophale Bedingungen absehbar. Hiervon wären selbst Kinder und besonders vulnerable Personengruppen betroffen.
Was droht?
Solche scheibchenweise verabschiedeten Rechtsakte addieren sich zur Aufhebung des Zugangs zu einem fairen und rechtsstaatlichen Asylverfahren. Sie führen den Grundgedanken eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ad absurdum, indem sie Mitgliedstaaten ermöglichen, von grundlegenden Standards des europäischen Asylrechts abzuweichen.
Nach aktuellem Diskussionsstand im Rat sollen Staaten im Falle einer »Instrumentalisierung« bis zu vier Wochen mit der Registrierung von Asylanträgen warten und im Anschluss die Bearbeitungszeit bis zu 16 oder gar 20 Wochen strecken können. Die schutzsuchenden Menschen würden dann also in solchen Asylgrenzverfahren bis zu fünf Monate mit abgesenkten Unterbringungsstandards festgehalten werden. In solchen Haftlagern sind katastrophale Bedingungen absehbar. Hiervon wären selbst Kinder und besonders vulnerable Personengruppen betroffen. Mangels zivilgesellschaftlicher, sprachlicher, medizinischer und psychologischer Unterstützungsmöglichkeit von außen ist damit zu rechnen, dass sich Schutzsuchende auch im Asylverfahren selbst viel weniger gut behaupten können als das im Inland der Fall wäre.
Zudem ist in der Verordnung geplant das Recht, an der Grenze Asyl zu beantragen, so einzuschränken, dass nur an bestimmten Grenzübergängen Asylanträge gestellt werden können – egal ob diese tatsächlich erreichbar sind oder nicht. Die Verzögerung der Registrierung von Asylsuchenden erhöht für die Betroffenen das Risiko, illegal wieder aus dem Land gebracht zu werden (Pushbacks).
Die Regierung darf keine weitere Auflösung rechtsstaatlicher Standards zulassen. Bei solchen grundlegenden menschenrechtlichen Fragen muss die Bundesregierung eine rote Linie ziehen.
Fehlende klare Haltung der deutschen Bundesregierung
Die EU-Kommission kommt mit solchen Maßnahmen den rechtspopulistischen und rechtsextremistisch dominierten Regierungen in Staaten wie Italien, Ungarn, Polen oder Griechenland entgegen und ist bereit, das Fundament der EU als Raum der Freiheit und des Rechts aufzuweichen. Nationalstaatliche Egoismen drohen zum Leitprinzip der Rechtsetzung auf EU-Ebene zu werden.
Bereits mit der Zustimmung zur Screeningverordnung hat die Bundesregierung den Weg für massenhafte Freiheitsentziehung an den Außengrenzen geebnet. Auch in Bezug auf die Instrumentalisierungsverordnung ist aus Brüssel zu hören, dass bislang keine klar ablehnende deutsche Position im Rat wahrgenommen wurde. Sie konterkariert damit geradezu die Bekenntnisse der Ampelkoalition im Koalitionsvertrag »bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten« sowie »die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden« zu wollen.
Was braucht es?
PRO ASYL fordert, dass die Ampelregierung ihren Koalitionsvertrag ernst nimmt und sich klar gegen die Instrumentalisierungsverordnung in Brüssel ausspricht. Die Regierung darf keine weitere Auflösung rechtsstaatlicher Standards zulassen. Bei solchen grundlegenden menschenrechtlichen Fragen muss die Bundesregierung eine rote Linie ziehen und so auch andere Mitgliedstaaten ermutigen, sich gegen die Auflösung von EU-Recht zu stellen.
PRO ASYL fordert die Bundesregierung auf, einer weitgehenden Entkernung des Asylrechts in der Europäischen Union nicht dadurch Vorschub zu leisten, indem sie sich auf immer neue »Deals« im Rahmen der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems einlässt.
Bereits im September 2022 hatten über 60 Nichtregierungsorganisationen in Europa sich gegen die Instrumentalisierungsverordnung gestellt. Sie warnten in dem Statement, dass eine Einigung über die Instrumentalisierungsverordnung der letzte Schlag gegen ein gemeinsames europäisches Asylsystem in Europa sein wird: »Die unterzeichnenden Nichtregierungsorganisationen lehnen die Einführung und Anwendung des Konzepts der Instrumentalisierung und seine Kodifizierung im EU-Recht entschieden ab. Wir lehnen ferner Reformen ab, die weitreichende Ausnahmen vom EU-Recht ermöglichen.«
Es geht um nichts weniger als den Erhalt eines auf Rechtsstaatsprinzipien und Menschenrechten basierenden freiheitlichen Europas, um das Recht auf Asyl und um die Achtung von Flüchtlingsrechten.
(fw)