07.11.2022
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In Griechenland sind sie bereits Realität - jetzt will die EU den rechtlichen Rahmen für Haftlager an der Grenze schaffen. Foto: Europäische Union 2021

Abseits der öffentlichen Wahrnehmung wird der Abbau des europäischen Asylsystems geplant. Mit neuen Instrumenten wie der sogenannten Instrumentalisierungs- und Screeningverordnung sollen Flüchtlinge massiv entrechtet werden. Damit werden der Zugang zum Recht auf Asyl und das Rechtsstaatlichkeitsprinzip in Europa insgesamt zur Disposition gestellt.

Um was geht es?

Im Dezem­ber 2021 leg­te die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on einen Vor­schlag für eine Ver­ord­nung vor, die den EU-Mit­glied­staa­ten in Situa­tio­nen der »Instru­men­ta­li­sie­rung von Migran­ten« ermög­licht, von ihren Ver­pflich­tun­gen nach dem EU-Asyl­recht abzu­wei­chen. Aus­lö­ser war die Initia­ti­ve des bela­rus­si­schen Dik­ta­tors Lukaschen­ko, der ab der zwei­ten Jah­res­hälf­te 2021 durch Visa­er­leich­te­run­gen eine neue Flucht­rou­te nach Euro­pa ermög­lich­te. Das bewer­te­ten ver­schie­de­nen EU-Politiker*innen als »hybri­den Angriff« und »Desta­bi­li­sie­rungs­ver­such« der EU. Die nun geplan­te Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung soll den EU-Mit­glied­staa­ten die Mög­lich­keit ein­räu­men, im Fal­le einer sol­chen »Instru­men­ta­li­sie­rung« den Zugang zu einem Asyl­ver­fah­ren und die Rech­te von Asyl­su­chen­den stark ein­zu­schrän­ken. Die Fol­ge ist, dass die Men­schen, die selbst zu Opfern eines sol­chen per­fi­den Spiels gewor­den sind, ent­rech­tet werden.

Bereits im Som­mer 2021 hat­te sich der Rat auf eine Scree­ning­ver­ord­nung geei­nigt, die vor­sieht, dass Schutz­su­chen­de wäh­rend des Scree­nings als »nicht ein­ge­reist« gel­ten und sich nicht frei bewe­gen dür­fen. Im Anschluss sol­len sie ein Asyl­grenz­ver­fah­ren durch­lau­fen, bei dem eben­falls die »Fik­ti­on der Nicht­ein­rei­se« gilt und sie damit sys­te­ma­tisch inhaf­tiert wer­den – so sieht es zumin­dest der aktu­el­le Stand der Dis­kus­si­on um die Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung vor.

In sol­chen Haft­la­gern sind kata­stro­pha­le Bedin­gun­gen abseh­bar. Hier­von wären selbst Kin­der und beson­ders vul­nerable Per­so­nen­grup­pen betroffen.

Was droht?

Sol­che scheib­chen­wei­se ver­ab­schie­de­ten Rechts­ak­te addie­ren sich zur Auf­he­bung des Zugangs zu einem fai­ren und rechts­staat­li­chen Asyl­ver­fah­ren. Sie füh­ren den Grund­ge­dan­ken eines Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems ad absur­dum, indem sie Mit­glied­staa­ten ermög­li­chen, von grund­le­gen­den Stan­dards des euro­päi­schen Asyl­rechts abzuweichen.

5 Mona­te

könn­ten Schutz­su­chen­de in Haft­la­gern unter­ge­bracht werden.

Nach aktu­el­lem Dis­kus­si­ons­stand im Rat sol­len Staa­ten im Fal­le einer »Instru­men­ta­li­sie­rung« bis zu vier Wochen mit der Regis­trie­rung von Asyl­an­trä­gen war­ten und im Anschluss die Bear­bei­tungs­zeit bis zu 16 oder gar 20 Wochen stre­cken kön­nen. Die schutz­su­chen­den Men­schen wür­den dann also in sol­chen Asyl­grenz­ver­fah­ren bis zu fünf Mona­te mit abge­senk­ten Unter­brin­gungs­stan­dards fest­ge­hal­ten wer­den. In sol­chen Haft­la­gern sind kata­stro­pha­le Bedin­gun­gen abseh­bar. Hier­von wären selbst Kin­der und beson­ders vul­nerable Per­so­nen­grup­pen betrof­fen. Man­gels zivil­ge­sell­schaft­li­cher, sprach­li­cher, medi­zi­ni­scher und psy­cho­lo­gi­scher Unter­stüt­zungs­mög­lich­keit von außen ist damit zu rech­nen, dass sich Schutz­su­chen­de auch im Asyl­ver­fah­ren selbst viel weni­ger gut behaup­ten kön­nen als das im Inland der Fall wäre.

Zudem ist in der Ver­ord­nung geplant das Recht, an der Gren­ze Asyl zu bean­tra­gen, so ein­zu­schrän­ken, dass nur an bestimm­ten Grenz­über­gän­gen Asyl­an­trä­ge gestellt wer­den kön­nen – egal ob die­se tat­säch­lich erreich­bar sind oder nicht. Die Ver­zö­ge­rung der Regis­trie­rung von Asyl­su­chen­den erhöht für die Betrof­fe­nen das Risi­ko, ille­gal wie­der aus dem Land gebracht zu wer­den (Push­backs).

Die Regie­rung darf kei­ne wei­te­re Auf­lö­sung rechts­staat­li­cher Stan­dards zulas­sen. Bei sol­chen grund­le­gen­den men­schen­recht­li­chen Fra­gen muss die Bun­des­re­gie­rung eine rote Linie ziehen.

Fehlende klare Haltung der deutschen Bundesregierung

Die EU-Kom­mis­si­on kommt mit sol­chen Maß­nah­men den rechts­po­pu­lis­ti­schen und rechts­extre­mis­tisch domi­nier­ten Regie­run­gen in Staa­ten wie Ita­li­en, Ungarn, Polen oder Grie­chen­land ent­ge­gen und ist bereit, das Fun­da­ment der EU als Raum der Frei­heit und des Rechts auf­zu­wei­chen. Natio­nal­staat­li­che Ego­is­men dro­hen zum Leit­prin­zip der Recht­set­zung auf EU-Ebe­ne zu werden.

Bereits mit der Zustim­mung zur Scree­ning­ver­ord­nung hat die Bun­des­re­gie­rung den Weg für mas­sen­haf­te Frei­heits­ent­zie­hung an den Außen­gren­zen geeb­net. Auch in Bezug auf die Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung ist aus Brüs­sel zu hören, dass bis­lang kei­ne klar ableh­nen­de deut­sche Posi­ti­on im Rat wahr­ge­nom­men wur­de. Sie kon­ter­ka­riert damit gera­de­zu die Bekennt­nis­se der Ampel­ko­ali­ti­on im Koali­ti­ons­ver­trag »bes­se­re Stan­dards für Schutz­su­chen­de in den Asyl­ver­fah­ren und bei der Inte­gra­ti­on in den EU-Staa­ten« sowie »die ille­ga­len Zurück­wei­sun­gen und das Leid an den Außen­gren­zen been­den« zu wollen.

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Was braucht es?

PRO ASYL for­dert, dass die Ampel­re­gie­rung ihren Koali­ti­ons­ver­trag ernst nimmt und sich klar gegen die Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung in Brüs­sel aus­spricht. Die Regie­rung darf kei­ne wei­te­re Auf­lö­sung rechts­staat­li­cher Stan­dards zulas­sen. Bei sol­chen grund­le­gen­den men­schen­recht­li­chen Fra­gen muss die Bun­des­re­gie­rung eine rote Linie zie­hen und so auch ande­re Mit­glied­staa­ten ermu­ti­gen, sich gegen die Auf­lö­sung von EU-Recht zu stellen.

PRO ASYL for­dert die Bun­des­re­gie­rung auf, einer weit­ge­hen­den Ent­ker­nung des Asyl­rechts in der Euro­päi­schen Uni­on nicht dadurch Vor­schub zu leis­ten, indem sie sich auf immer neue »Deals« im Rah­men der Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems einlässt.

Bereits im Sep­tem­ber 2022 hat­ten über 60 Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen in Euro­pa sich gegen die Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung gestellt. Sie warn­ten in dem State­ment, dass eine Eini­gung über die Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung der letz­te Schlag gegen ein gemein­sa­mes euro­päi­sches Asyl­sys­tem in Euro­pa sein wird: »Die unter­zeich­nen­den Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen leh­nen die Ein­füh­rung und Anwen­dung des Kon­zepts der Instru­men­ta­li­sie­rung und sei­ne Kodi­fi­zie­rung im EU-Recht ent­schie­den ab. Wir leh­nen fer­ner Refor­men ab, die weit­rei­chen­de Aus­nah­men vom EU-Recht ermöglichen.«

Es geht um nichts weni­ger als den Erhalt eines auf Rechts­staats­prin­zi­pi­en und Men­schen­rech­ten basie­ren­den frei­heit­li­chen Euro­pas, um das Recht auf Asyl und um die Ach­tung von Flüchtlingsrechten.

 

(fw)