15.09.2020
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Straßenbild aus Lesbos (Griechenland), September 2020. Foto: Daphne Tolis

Nachdem der EU-Hotspot »Moria« abgebrannt ist, harren tausende Menschen schutzlos auf Lesbos aus. Sie haben keine Unterkunft, die Versorgungslage ist äußerst prekär. Hilfsorganisationen werden an ihrer Arbeit gehindert, es gibt Übergriffe durch die Polizei und Rechtsextreme. Appelle, die Insel zu evakuieren, ignoriert die griechische Regierung.

Die Fol­gen der kom­plet­ten Zer­stö­rung des EU-Hot­spots »Moria« durch die Brän­de ver­gan­ge­ne Woche sind dra­ma­tisch: mehr als 12.000 Men­schen, unter ihnen 4.000 Kin­der mit ihren Fami­li­en, befin­den sich auf der Insel Les­bos ohne Unter­kunft und Zugang zu sani­tä­ren Einrichtungen.

Auch fast eine Woche nach dem Brand ist die Ver­sor­gung der Betrof­fe­nen mit Essen und Trin­ken noch immer nicht gewähr­leis­tet. Eini­ge Tei­le der Insel sind von der Poli­zei abge­rie­gelt, Geflüch­te­te wer­den nicht in die Insel­haupt­stadt Myti­li­ni gelas­sen – und die Super­märk­te in den abge­schot­te­ten Berei­chen sind geschlos­sen. Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen wer­den dar­an gehin­dert, Hil­fe zu leisten.

»Wir kön­nen nir­gends hin­ge­hen. Heu­te konn­te ich für fünf Minu­ten mein Han­dy auf­la­den, um mei­nen Anwalt anzurufen.«

Nasim* aus Afghanistan

Humanitäre Notlage auf Lesbos

Die Men­schen schla­fen auf der Stra­ße, an Strän­den und auf Fel­dern. Mit mas­siv erhöh­ter Poli­zei­prä­senz wer­den Stra­ßen in die Städ­te gesperrt, die Stim­mung auf der Insel ist ange­spannt. Auf Demons­tra­tio­nen der Schutz­su­chen­den wur­de mit Trä­nen­gas geant­wor­tet. Wie schon im März 2020 kommt es zu Über­grif­fen von Rechtsextremist*innen und aus der Insel­be­völ­ke­rung gegen Schutz­su­chen­de und Helfer*innen.

Betrof­fe­ne berich­ten Mitarbeiter*innen von PRO ASYL / Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) vor Ort von ihrer fest­ge­fah­re­nen Lage. Nasim*, afgha­ni­scher Asyl­su­chen­der: »Wir kön­nen nicht nach Moria zurück, wir kön­nen nicht nach Myti­li­ni, wir kön­nen auch nicht nach Panagiou­da oder Ther­mi. Wir kön­nen nir­gends hin­ge­hen. Heu­te konn­te ich für fünf Minu­ten mein Han­dy auf­la­den, um mei­nen Anwalt anzurufen.«

Unser Team von RSA steht den Men­schen nicht nur unmit­tel­bar mit dem Lebens­not­wen­digs­ten zur Sei­te, son­dern wird auch juris­tisch gegen die­se men­schen­rechts­wid­ri­ge Poli­tik vor­ge­hen – bis vor die höchs­ten euro­päi­schen Gerichte.

Im größ­ten Cha­os pro­bie­ren unse­re Anwält*innen, in Kon­takt mit ihren Mandant*innen zu blei­ben und bei­spiels­wei­se den Zugang zu ange­mes­se­ner medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung für beson­ders ver­letz­li­che Per­so­nen zu erstrei­ten. Auch Eil­ver­fah­ren vor dem EGMR nach der »Rule 39« waren in der Ver­gan­gen­heit erfolg­reich und sind eine Option.

Arti­kel 39 der Ver­fah­rens­ord­nung erlaubt es, vom Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) vor­läu­fi­ge Maß­nah­men zu ver­lan­gen, wenn ein nicht­wie­der­gut­zu­ma­chen­der Scha­den droht. Im April sind eini­ge sol­cher Ver­fah­ren für vul­nerable Geflüch­te­te aus Moria posi­tiv ver­lau­fen.

Das Drohszenario geschlossener Lager: Moria 2.0

Das Innen­mi­nis­te­ri­um hat die loka­len Behör­den auf­ge­ru­fen, neue Unter­brin­gungs­mög­lich­kei­ten zu eröff­nen. Doch die­se wei­gern sich, bestehen­de Ein­rich­tun­gen dafür zu nut­zen. Ent­ge­gen des Wider­stands der loka­len Regie­rung will die grie­chi­sche Regie­rung offen­bar ihren Kurs fort­set­zen und geschlos­se­ne Lager auf der Insel errichten.

Der UNHCR hat ein Zelt­la­ger errich­tet, in dem sich mitt­ler­wei­le ca. 700 Men­schen befin­den. Sie dür­fen das Camp nicht mehr ver­las­sen – offi­zi­ell auf­grund von Coro­na-Maß­nah­men, doch die Befürch­tung ist, dass hier die von der grie­chi­schen Regie­rung ange­kün­dig­ten geschlos­se­nen Lager ent­ste­hen. Aus die­sem Grund haben vie­le Geflüch­te­te Angst, in das Zelt­la­ger zu gehen – aber Hun­ger, Durst und Ver­zweif­lung trei­ben man­che hinein.

Griechische Regierung bestraft die Betroffenen

Die Ursa­che der Brän­de in »Moria« ist bis­her unge­klärt. Für Pre­mier­mi­nis­ter Mit­so­ta­kis steht aller­dings bereits fest, dass Bewohner*innen des Lagers die Feu­er gelegt haben. Und dafür bestraft er kol­lek­tiv alle Schutzsuchenden.

Ledig­lich 406 unbe­glei­te­te  Min­der­jäh­ri­ge wur­den von der Insel eva­ku­iert. Appel­le nach voll­stän­di­ger Eva­ku­ie­rung der Insel, wie bei­spiels­wei­se von der EU-Kom­mis­sa­rin für Inne­res, Ylva Johans­son, wer­den von der grie­chi­schen Regie­rung igno­riert. Erst ges­tern beton­te Mit­so­ta­kis erneut, dass eine Auf­nah­me durch ande­re EU-Staa­ten nicht erlaubt wird und alle übri­gen 12.000 Schutz­su­chen­den Les­bos nicht ver­las­sen dür­fen.

»Ich fürch­te um mein Leben. Ich füh­le mich hier nicht sicher.«

Ahmad* aus Guinea

Ahmad*, guinei­scher Asyl­su­chen­der: »Ich weiß nicht, was pas­sie­ren wird, weil ich nicht mit­ent­schei­den darf. Ich fürch­te um mein Leben. Ich füh­le mich hier nicht sicher. Die loka­le Bevöl­ke­rung jagt uns von ihren Fel­dern her­un­ter. Ich ent­kom­me dem einen Pro­blem und bekom­me das nächste.«

Keine Abschiebungen in die Türkei!

Wenn die grie­chi­sche Regie­rung ihre Plä­ne durch­zieht, dro­hen Haft­la­ger an der Gren­ze, in denen  kei­ne fai­ren Asyl­ver­fah­ren mög­lich sind. Die dort Fest­sit­zen­den sol­len solan­ge aus­har­ren, bis sie zer­mürbt sind und in die Tür­kei oder ande­re Staa­ten abge­scho­ben wer­den kön­nen. In der Tür­kei sind vie­le Geflüch­te­te aber nicht sicher, sie erhal­ten dort kei­nen Rechts­sta­tus und kei­nen Schutz, ihnen droht die Ket­ten­ab­schie­bung in Bür­ger­krieg und Ver­fol­gung. Das gilt beson­ders für Men­schen aus Afgha­ni­stan, die rund 47 % der Schutz­su­chen­den auf den grie­chi­schen Inseln ausmachen.

Flüchtlinge sind keine Verhandlungsmasse!

Die grie­chi­sche Regie­rung führt mit Rücken­de­ckung der ande­ren EU-Staa­ten auf den Inseln sowie auf dem Fest­land eine mensch­li­che Tra­gö­die her­bei. Anstatt den Men­schen in Not zu hel­fen, wer­den sie zur Ver­hand­lungs­mas­se, um Plä­ne zu geschlos­se­nen Haft­la­gern durch­zu­set­zen. Deutsch­land und die ande­ren EU-Staa­ten dür­fen das nicht zulas­sen. Die Schutz­su­chen­den auf den grie­chi­schen Inseln müs­sen sofort eva­ku­iert und in ande­re euro­päi­sche Län­der ver­teilt werden!

(rsa / dm / mk)

*Namen geändert