11.06.2024
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Zum Gedenken an die Toten des Schiffbruchs steigen bei einer Aktion in Thessaloniki mit Kerzen beleuchtete Ballons auf. Foto: picture alliance / ANE / Eurokinissi | Rafail Georgiadis / Eurokinissi

Naeef S. überlebte den Untergang des Flüchtlingsbootes Adriana vor der griechischen Stadt Pylos im Juni 2023, bei dem über 600 Menschen in den Tod gerissen wurden. Er sah Menschen sterben, während die griechische Küstenwache und Frontex stundenlang zusahen und nicht halfen. Heute setzt er sich dafür ein, dass die Verantwortlichen verurteilt werden.

Nae­ef, kannst du dich kurz vor­stel­len und uns erklä­ren, war­um du aus Syri­en flie­hen musstest?

Ich hei­ße Nae­ef und wur­de 1996 in Daraa al-Balad gebo­ren. Mei­ne Hei­mat­stadt gilt als die Wie­ge der syri­schen Revo­lu­ti­on, weil hier 2011 die Pro­tes­te gegen das Assad-Regime began­nen. Jah­re­lang bom­bar­dier­te die Armee mei­ne Stadt, Tau­sen­de wur­den getö­tet. Ich war von Beginn an regel­mä­ßig bei den Demons­tra­tio­nen dabei und wur­de drei­mal ver­letzt. 2018 über­nah­men die Regie­rungs­trup­pen die Kon­trol­le über Daraa und ich soll­te zum Mili­tär­dienst ein­ge­zo­gen wer­den. Sie kes­sel­ten uns wochen­lang ein und schnit­ten uns von der Außen­welt ab. Sie woll­ten, dass wir in die Armee ein­tre­ten, um unschul­di­ge Men­schen zu töten. Das konn­te ich nie­mals tun, ich wei­ger­te mich und wur­de mit ande­ren Oppo­si­tio­nel­len in den Nor­den Syri­ens abtransportiert.

Nach eini­gen Mona­ten floh ich in die Tür­kei und leb­te in der Regi­on Mer­sin. Dort konn­te ich nicht sicher leben, es gab nur Ras­sis­mus, Dis­kri­mi­nie­rung und Belei­di­gun­gen. Ich muss­te die Tür­kei verlassen.

Wie bist du auf die Adria­na gekom­men? Gab es kei­ne ande­ren Mög­lich­kei­ten für dich, nach Euro­pa zu fliehen?

Einen lega­len Weg nach Euro­pa gab es für mich nicht, für den Weg über die Bal­kan­rou­te fehl­te mir das Geld. Also ging ich nach Liby­en. Die Schlep­per hiel­ten uns dort in einem Stall fest. Dann ging es eines Nachts los. Wir fuh­ren zum Meer und die Schlep­per zwan­gen uns mit Waf­fen, auf klei­ne Boo­te zu stei­gen, die uns zu einem grö­ße­ren Schiff brach­ten. Mei­nen Ruck­sack mit Was­ser, Essen und Hygie­ne­ar­ti­keln nah­men sie mir ab.

»Für mich bedeu­te­te die Flucht, dem Krieg zu ent­kom­men, weg von Zer­stö­rung, Tod und Bombenangriffen.«

Nae­ef, Überlebender

Natür­lich wuss­te ich, wie gefähr­lich die Über­fahrt ist, aber ich hat­te kei­ne Wahl. Für mich bedeu­te­te die Flucht, dem Krieg zu ent­kom­men, weg von Zer­stö­rung, Tod und Bom­ben­an­grif­fen. Ich woll­te leben. Das war für mich wich­ti­ger als die Risi­ken der Rei­se. Aber der Tod hat uns gefun­den, bevor wir das Leben fanden.

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Wie war die Situa­ti­on auf dem Schiff?

Die Situa­ti­on war kata­stro­phal. Wir waren meh­re­re Tage unter­wegs, hat­ten weder Essen noch Was­ser. Meh­re­re Men­schen um mich her­um star­ben. Irgend­wann sag­te der Kapi­tän, dass wir uns auf See ver­irrt hät­ten. Dann began­nen sie, Not­si­gna­le und Hil­fe­ru­fe zu senden.

Gab es irgend­ei­ne Reak­ti­on auf die Not­si­gna­le? Wur­de Hil­fe geschickt?

Nach eini­gen Stun­den sahen wir ein Flug­zeug, noch­mal eini­ge Stun­den spä­ter einen Hub­schrau­ber. Als der Hub­schrau­ber kam, hat­ten wir so gro­ße Hoff­nun­gen und wink­ten, um auf unse­re Situa­ti­on auf­merk­sam zu machen. Erst spä­ter habe ich erfah­ren, dass der Hub­schrau­ber nur Fotos von uns gemacht hat und dann wie­der abge­dreht ist.

Wir sahen auch vie­le Schif­fe. Irgend­wann näher­te sich ein Tan­ker. Wir fin­gen an, mit unse­ren Klei­dern zu win­ken. Sie war­fen uns Was­ser zu und fuh­ren wei­ter. Eini­ge Zeit spä­ter näher­te sich ein wei­te­rer Tan­ker. Wir baten sie um Hil­fe. Auch sie woll­ten uns mit Was­ser und Nah­rungs­mit­teln ver­sor­gen. Wir ver­such­ten ihnen zu erklä­ren, dass wir an Bord geholt und geret­tet wer­den wol­len. Die Lage war kri­tisch, das Schiff schwank­te nach rechts und links und stieß gegen das gro­ße Schiff und beschä­dig­te es, wir muss­ten des­halb wei­ter­fah­ren. Dann kam die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che zu uns.

Wie war die Situa­ti­on, als die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che ankam?

Als die Küs­ten­wa­che kam, dach­te ich, dass sie uns end­lich ret­ten wür­den. Ich dach­te, dass wir es geschafft haben und dass wir nun leben wür­den. Wir wür­den unser Leben fort­set­zen und unse­re Fami­li­en wie­der­se­hen. Wir wuss­ten nicht, dass uns der Tod bevorstand.

Zuerst for­der­ten sie uns auf, ihrem Schiff hin­ter­her­zu­fah­ren. Irgend­wann war­fen sie ein Seil auf unser Schiff und ban­den es fest. Wir dach­ten, dass sie uns jetzt ret­ten wür­den, aber letzt­lich hat ihr Manö­ver dazu geführt, dass das Schiff ken­ter­te. Ich sprang ins Was­ser, dabei traf noch etwas mei­nen Rücken.

Wie wur­dest du gerettet?

Es hat sehr lan­ge gedau­ert, bis die Küs­ten­wa­che ange­fan­gen hat, Leu­te im Was­ser zu ret­ten. Sie waren weit ent­fernt von uns, wir muss­ten zu ihnen hin­schwim­men. Erst als ein grö­ße­res Schiff dazu kam, lie­ßen sie ein Ret­tungs­boot ins Was­ser und fuh­ren zu uns.

Als das grö­ße­re Schiff näher­kam, began­nen sie, uns aus dem Was­ser zu zie­hen. Aber sie ret­te­ten nur die Leu­te, die auf ihrer Sei­te des Schif­fes sicht­bar waren und lie­ßen die ande­ren, die sich hin­ter dem gesun­ke­nen Schiff befan­den, im Was­ser zurück. Ich kann­te etwa 35 Leu­te auf dem Schiff. Sie kamen alle aus mei­ner Gegend. Wir waren alle eine Grup­pe. Nur vier von uns haben überlebt.

»Wir sol­len ver­ges­sen, aber wir kön­nen nicht ver­ges­sen. Das ist unmöglich.«

Nae­ef, Überlebender

Wo haben sie euch dann hingebracht?

Sie brach­ten uns in eine Lager­hal­le, dort lagen Matrat­zen auf dem Boden. Poli­zei und Armee waren da und ent­klei­de­ten uns. Noch bevor sie unse­ren Gesund­heits­zu­stand check­ten, nah­men sie uns unse­re Han­dys weg und leg­ten sie in einen Sack. Wir haben sie bis heu­te nicht zurück­be­kom­men. Nach eini­gen Tagen brach­ten sie uns in ein geschlos­se­nes Lager in der Nähe von Athen.

Sie sag­ten uns, dass wir in Sicher­heit sei­en, dass wir es nach Grie­chen­land geschafft hät­ten und nun in einem siche­ren Land sei­en. Wir sag­ten ihnen, dass wir uns nicht sicher fühl­ten, son­dern dass wir jeman­dem, der so vie­le Men­schen hat ertrin­ken las­sen, nicht ver­trau­en konnten.
Ich hat­te Angst, ich wuss­te nicht, was sie mit uns machen wür­den. Ich hat­te Angst vor denen, die unser Leben geret­tet hat­ten. In den Augen der Gesell­schaft sind sie die­je­ni­gen, die uns geret­tet haben. In Wirk­lich­keit sind sie die­je­ni­gen, die uns getö­tet haben. Sie haben das Ver­bre­chen began­gen. Wir hat­ten Frau­en, Kin­der und älte­re Men­schen bei uns. Vie­le Men­schen star­ben und sie schien es nicht zu kümmern.

Wann bist du nach Deutsch­land gekom­men und wie ist dei­ne Situa­ti­on jetzt?

Da ein Bru­der von mir in Deutsch­land lebt, hat mei­ne Anwäl­tin in Grie­chen­land dafür gesorgt, dass ich nach Deutsch­land kom­men konn­te. Im Sep­tem­ber lan­de­te ich mit dem Flug­zeug in Frankfurt.

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Die Situa­ti­on in Deutsch­land war anders, als wir es gehört hat­ten. Wir dach­ten, dass man uns human behan­delt, uns eine men­schen­wür­di­ge Unter­kunft gibt und uns hilft, dass unse­re Fami­li­en zu uns kom­men können.
Aber als wir anka­men, muss­ten wir in Lagern leben und durf­ten unse­re Fami­li­en nicht her­ho­len. Nie­mand küm­mer­te sich um uns und unse­re Bedürf­nis­se. Nie­mand zeig­te Inter­es­se für das, was uns wider­fah­ren ist. Es war so, als ob man uns sag­te: »Ihr seid jetzt in Deutsch­land, ver­gesst alles, was pas­siert ist, beginnt ein neu­es Leben, ver­gesst eure Freun­de, ver­gesst eure Fami­li­en, ver­gesst all die­je­ni­gen, die ertrun­ken sind.« Wir sol­len ver­ges­sen, aber wir kön­nen nicht ver­ges­sen. Das ist unmöglich.

Ange­sichts des­sen, was mit euch pas­siert ist: Was bedeu­tet für dich Gerechtigkeit?

Gerech­tig­keit bedeu­tet ein Leben in Wür­de. Wenn es Gerech­tig­keit gibt, lebt man ein wür­de­vol­les und glück­li­ches Leben. Wenn es kei­ne Gerech­tig­keit gibt, lebt man ver­zwei­felt. Gerech­tig­keit bedeu­tet, dass die grie­chi­sche Regie­rung für die Toten zur Rechen­schaft gezo­gen wird, dass die­je­ni­gen, die uns zum Ertrin­ken gebracht haben, zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den. Wir sind nicht die Ers­ten. Vor uns gab es vie­le Men­schen, die ertrun­ken sind, und vie­le Men­schen, die in den Wäl­dern auf dem Weg nach Euro­pa gestor­ben sind. Es wird auch nach uns Men­schen geben, denen das­sel­be pas­sie­ren wird.

»Gerech­tig­keit bedeu­tet, dass die grie­chi­sche Regie­rung für die Toten zur Rechen­schaft gezo­gen wird, dass die­je­ni­gen, die uns zum Ertrin­ken gebracht haben, zur Rechen­schaft gezo­gen werden.«

Nae­ef, Überlebender

Du betei­ligst dich mit ande­ren Über­le­ben­den an einer Kla­ge gegen die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che. Zum Jah­res­tag der Kata­stro­phe am 14. Juni ver­an­stal­tet ihr mit PRO ASYL eine Gedenk­ver­an­stal­tung in Ber­lin. Was ist eure Motivation?

Wir tun das in ers­ter Linie für die Men­schen nach uns und für die Ver­stor­be­nen. Die Ver­stor­be­nen haben Kin­der und Fami­li­en. Die meis­ten, die flie­hen, tun dies, um eine Zukunft für ihre Kin­der zu sichern. Armut, Bom­ben­an­grif­fe, Hun­ger und Zer­stö­rung – das soll nicht die Zukunft der Kin­der sein. Wenn wir so etwas erle­ben und flie­hen müs­sen, wie soll dann ein klei­nes Kind das alles ertra­gen? Wir haben unser Land ver­las­sen, um zu leben. Doch uns begeg­ne­te nur der Tod.