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Der Einzelfall zählt doch – Telefonberatung im Dschungel des deutschen Asyl- und Ausländerrecht

Dirk Morlok, seit elf Jahren in der Telefonberatung bei PRO ASYL in Frankfurt tätig, gibt Auskunft darüber, welche Themen derzeit häufig angefragt werden, wo gute Asylberatung an ihre Grenzen gelangt und was einen erfolgreichen Arbeitstag ausmacht.
Das Interview führte Matthias Weinzierl vom Bayerischen Flüchtlingsrat.
Was für Leute rufen bei euch eigentlich an? Sind das die Betroffenen selbst?
Nein. Nur etwa zehn bis zwanzig Prozent unserer gesamten Anruferinnen und Anrufer sind die Betroffenen selbst. Der überwiegende Teil der Anrufe kommt eher von Unterstützerinnen und Unterstützern, Nachbarn, Bekannten, Freundinnen und Freunden oder Flüchtlingen, die schon länger hier in Deutschland leben. Die Betroffenen, insbesondere neu angekommene Flüchtlinge, haben ja im Regelfall noch nie etwas von PRO ASYL gehört – wie sollten sie also zu uns finden? Zudem sprechen viele der Neuankömmlinge nicht unbedingt Deutsch, Englisch, Französisch oder Spanisch – das sind übrigens die vier Sprachen, die wir mehr oder weniger in unserer Telefonberatung abdecken können.
Eine Verbindung zu unserem Beratungsteam ergibt sich also meist erst durch Dritte. Häufig melden sich bei uns aber auch Anwältinnen und Anwälte sowie lokale Beratungsstellen, die sich in konkreten Einzelfällen zu bestimmten rechtlichen Fragestellungen erkundigen wollen oder Kontakte zu Organisationen in anderen europäischen Staaten suchen.
Wie viele Anfragen kommen im Durchschnitt am Tag bei euch in der Telefonberatung an?
Das kann ich dir nur ungefähr beantworten. Wir haben von Montag bis Freitag eine vierstündige Telefonschicht und zwar vormittags von 10–12 Uhr und nachmittags von 14–16 Uhr. In dieser relativ kurzen Zeit erreichen uns etwa 20 bis 25 Anrufe. Diese quantitative Angabe sagt aber nicht viel aus, denn ein Beratungsgespräch kann gerne auch mal eine dreiviertel Stunde dauern und währenddessen ist unsere Leitung belegt und keiner kommt mehr durch.
Zu wievielt arbeitet ihr bei der Telefonberatung? Wie teilt ihr euch die Arbeit auf und in welcher Form erreichen euch denn die Anfragen?
Wir arbeiten mittlerweile zu viert auf zweieinhalb Stellen. Die Anrufe auf der öffentlichen Beratungsnummer werden von einer Person beantwortet. Dabei wechseln wir uns im Team ab. Die anderen kümmern sich in der Zwischenzeit um ihre Einzelfälle, die ebenfalls über die öffentliche Beratungsleitung reinkommen und dann durchgestellt werden, oder bearbeiten die eingehenden E‑Mails, Briefe oder Faxe. Hauptsächlich erreichen uns Anfragen per Mail, die wir dann alle schriftlich oder telefonisch beantworten. Während einer Telefonschicht kann es daher vorkommen, dass drei Menschen gleichzeitig telefonieren. Dementsprechend laut ist es auch manchmal in unserem Büro.
In eurer täglichen Beratungstätigkeit bekommt ihr sicher einen guten Überblick über die dringlichsten Bedürfnisse und Probleme der Anruferinnen und Anrufer. Wo liegt denn derzeit der größte Beratungsbedarf?
Das mit Abstand wichtigste Thema des letzten Jahres und wahrscheinlich auch der nächsten Monate ist ganz klar Syrien. Ich habe in den elf Jahren, in denen ich bei PRO ASYL Telefonberatung mache, viele Flüchtlingskrisen mitbekommen: Irak, Afghanistan, Somalia. Aber so einen Ansturm, wie wir ihn derzeit mit Syrien erfahren, habe ich zuvor weder in dieser Qualität noch Quantität erlebt. Es melden sich derzeit wirklich sehr viele in Deutschland lebende syrische Bürgerinnen und Bürger, die verzweifelt nach einer Möglichkeit suchen, ihre Verwandten herholen zu können. Es melden sich aber auch sehr viele Unterstützerinnen und Unterstützer, die ebenfalls ihren syrischen Freundinnen und Freunden oder Bekannten dabei helfen wollen.
Es läuft immer auf die gleiche Frage hinaus: Wie bekommen wir die Leute hier her? Es gibt ja bereits Aufnahmeprogramme, die aber leider zum Großteil nicht wirklich oder nur sehr langsam und bürokratisch funktionieren. Zudem sind die Anforderungen dabei so hoch, dass sie für viele kaum zu erfüllen sind. So wird zum Beispiel von den hier lebenden syrischen Familien eine volle Lebensunterhaltssicherung für die „einreisewilligen“ Personen gefordert. Für viele ist es aber schlicht und einfach nicht möglich, mit ihrem Einkommen noch eine zusätzliche Person oder zumeist sogar eine ganze Familie auf unabsehbare Zeit zu versorgen und zu finanzieren.
Ansonsten beschäftigen wir uns in der Beratung natürlich regelmäßig mit Fragen zum Asylverfahren und mit drohenden Abschiebungen. Ein weiteres sehr wichtiges Thema sind Anfragen im Zusammenhang mit der so genannten Dublin-Verordnung, also die Regelung der Zuständigkeiten für Asylverfahren innerhalb der EU und der damit einhergehenden Abschiebungen.
Wie geht ihr bei einem Anruf vor? Wie läuft so ein Beratungsgespräch konkret ab?
Häufig müssen wir auf uns gestellte Fragen zuerst mit einer Flut an Rückfragen reagieren, um überhaupt den Sachverhalt aufzuklären und das eigentliche Problem eingrenzen zu können. Darum reagieren wir auch auf viele E‑Mails nach Möglichkeit mit einem klärenden Rückruf. Bei uns meldet sich zum Beispiel ein Anrufer und berichtet uns aufgeregt, dass er gerade eine „Abschiebung“ erhalten habe. Zuallererst müssen wir dann herausfinden, was damit überhaupt gemeint ist:
Ist der Asylantrag abgelehnt worden und im Bescheid steht, dass nach Ablauf einer Frist die Abschiebung droht? Lebt der Anrufer seit vielen Jahren mit einer Duldung hier und hat nun von der Ausländerbehörde eine Abschiebungsandrohung erhalten? Handelt es sich um einen Dublin-Fall und es liegt eine Abschiebungsanordnung vor? Erst wenn diese und andere Fragen geklärt sind, können wir die Problemlage eingrenzen und entsprechend konkret beraten. In vielen Fällen ist das aber trotzdem nur schwer möglich, weil das Asyl- und Ausländerrecht in Deutschland ein ziemlicher Dschungel ist und wir nicht immer zu einer konkreten Klärung des Sachverhalts kommen.
Welche Fälle stellen sich in der Beratung als besonders dramatisch heraus?
Ich finde es immer dramatisch, wenn klar wird, dass eine Abschiebung ansteht und wir feststellen müssen, dass sie kaum noch zu verhindern ist. Im Ernstfall rufen hier Leute an und sind verzweifelt: „Hilfe, mein Verwandter, mein Nachbar, meine Freundin, die Familie unserer Schülerin ist heute Morgen von der Polizei abgeholt worden und befindet sich auf dem Weg zum Flughafen“. Dann ist es fünf vor zwölf! Und hier wird sofort alles andere hintenangestellt.
Und was macht ihr in einem solchen Moment?
Wir müssen umgehend möglichst viel zum Sachverhalt herausfinden, ob eine Anwältin oder ein Anwalt eingeschaltet ist, wer sonst in den Fall involviert ist, ob es Sinn macht, den Flughafensozialdienst zu informieren und so weiter. Wir als Beratungsteam können eine Abschiebung ohnehin nicht selbst verhindern, aber wir haben gewisse Spielräume, innerhalb derer wir agieren und die wir nutzen können. Wir versuchen dann, unsere und lokale Netzwerke und Unterstützerinnen und Unterstützer zu aktivieren und klären, ob die anwaltliche Vertretung über die drohende Abschiebung informiert ist und z.B. einen Eilantrag gestellt hat und dadurch Zeit gewonnen oder die Abschiebung vorläufig gestoppt werden kann.
Aber wenn so ein Antrag bereits gestellt und abgelehnt wurde, dann ist auf der rein rechtlichen Ebene kaum noch etwas zu erreichen. Das kann zwar von Einzelfall zu Einzelfall alles sehr unterschiedlich laufen, aber in manchen Fällen ist dann wirklich nichts mehr zu machen.
Wie teilt ihr jemandem am Telefon mit, dass in seinem Fall nichts mehr zu machen ist? Das stelle ich mir äußerst unangenehm vor.
In solchen Fällen bedeutet unsere Telefontätigkeit einen gewissen Schutz für uns als Beraterinnen und Berater. Es ist natürlich einfacher, den Hilfesuchenden die unangenehmen Dinge nicht direkt ins Gesicht sagen zu müssen, wie es ja bei Beratungsstellen vor Ort der Fall ist. Die Telefonberatung hat aber auch den Nachteil, dass es schwieriger sein kann, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Wobei ich sagen muss, dass uns das eigentlich überraschend gut gelingt und viele Anruferinnen und Anrufer in kurzer Zeit Vertrauen zu uns entwickeln und offen mit uns über alles reden.
Wie sieht denn ein erfolgreicher Arbeitstag bei euch aus? Wann gehst du gut gelaunt aus dem Büro und bist zufrieden, weil du etwas erreicht hast?
Ein Tag ist erfolgreich, wenn wir vielen Leuten – in welcher Form auch immer – weiterhelfen konnten. Das scheint uns auch ganz gut zu gelingen, denn wir bekommen häufig positives Feedback, auch wenn wir in manchen Fällen sagen müssen „Ihre Chancen stehen nicht gut“. Aber unser Bemühen, nach einer Lösung zu suchen, die Anruferinnen und Anrufer und ihre Probleme ernst zu nehmen und darüber aufzuklären, was möglich ist und was leider nicht, kommt anscheinend an. Allein dieses positive Feedback kann bewirken, dass ich gut gelaunt das Büro verlasse. Trotzdem würde ich das natürlich nicht als erfolgreichen Tag bezeichnen.
Wann dann?
Ich bewerte einen Tag als besonders erfolgreichen Arbeitstag, wenn wir erfahren, dass Fälle positiv ausgegangen sind. Beispielsweise wenn jemand durch unser Mittun eine Anerkennung als Flüchtling oder eine Aufenthaltserlaubnis bekommen hat oder unsere Aktivitäten eine Dublin-Abschiebung verhindern konnten und ein Asylverfahren jetzt in Deutschland stattfindet.
Wenn mir aus der Zusammenarbeit mit euch etwas besonders aufgefallen ist, dann die große Verbindlichkeit, die man bei eurer Telefonberatung antrifft. Die finde ich ungewöhnlich. Selbst in aussichtsloseren Fällen bekommt man immer einen Rückruf von euch und ihr zeigt auch ein Interesse daran, wie der Fall sich denn weiterentwickelt hat. Da werden sie geholfen…
Das ist auch unser Anspruch. Ob wir dem allerdings immer gerecht werden, möchte ich aber nicht beurteilen, das müssen andere tun. PRO ASYL hat auf seinen Publikationen den Slogan stehen: „Der Einzelfall zählt“ und genau das versuchen wir hier in der Beratung auch umzusetzen. Manchmal ist es aber unmöglich, konkret zu beraten und natürlich gibt es auch hier und da mal jemanden, der von uns enttäuscht ist. Schlussendlich hängt das damit zusammen, ob sich ein Problem klären lässt und ob wir genügend Kapazitäten haben, uns umfassend für einen Einzelfall einsetzen zu können. Letztendlich können wir uns natürlich nicht um jeden Fall konkret kümmern.
Wenn wir also wissen, in bestimmten Regionen gibt es gute Beratungsstellen oder eine gute Infrastruktur, dann macht es einfach Sinn, dorthin zu vermitteln. Zum einen, um sich nicht selbst zu überlasten und zum anderen auch aus Sicht der Betroffenen, weil Beratungsstellen vor Ort die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der Ausländerbehörde ihrer Stadt oder die entsprechenden Leute bei der Außenstelle des Bundesamts kennen und dadurch eventuell eine bessere Gesprächsbasis oder einen „schnelleren Draht“ haben.
Werdet ihr regelmäßig Ziel von Pöbel- und Schmähanrufen?
Pöbelanrufe kommen – zumindest bei uns in der Beratung – eigentlich eher selten vor. Häufiger sind Personen, die hier anrufen und eine andere Auffassung als wir vertreten und darüber diskutieren möchten. Per Telefon zu pöbeln, das trauen sich offenbar nur wenige. Gepöbelt wird vor allem und in Unmassen anonym per E‑Mail.
Magst Du uns mal ein Beispiel geben?
Die Beispiele sind sehr unterschiedlich, reichen aber bis hin zu massiven Drohungen. Nach dem Motto: Ihr gehört vergast oder ähnliches…
Haben Pöbeleien denn in der letzten Zeit zugenommen?
Ja, das kann man klar sagen. Pöbeleien hängen fast immer mit irgendwelchen konkreten Ereignissen zusammen. Zum Beispiel unmittelbar nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Erhöhung der Sozialleistungen für Asylsuchende. Dazu äußerte sich PRO ASYL positiv mit einer Presseerklärung und danach sind wir für einige natürlich die Bösen, die dafür sorgen, dass dem deutschen Steuerzahler vermeintlich ungerechtfertigt das Geld aus der Tasche gezogen wird.
Auch die Lampedusa-Katastrophe im Oktober 2013 hat diverse Pöbeleien nach sich gezogen. Wir haben zwar zum einen total viele Hilfs- und Unterstützungsangebote bekommen. Aber im selben Atemzug kamen auch Anfeindungen, nach dem Motto: „Das Boot ist voll, wir können nicht alle aufnehmen.“ Und das sind noch die harmloseren Aussagen hierzu gewesen… und angesichts des Ausmaßes dieser Katastrophe und der Bilder dazu selbst nach elf Jahren bei PRO ASYL mehr als schockierend für mich.
Und was ist eure Strategie, wenn dann doch eine Pöblerin oder ein Pöbler am Apparat ist?
Es gibt wie gesagt Leute, die eine andere Meinung vertreten als wir und diskutieren möchten, und das machen wir dann auch. Wenn wir jedoch beschimpft werden, dann beenden wir das Gespräch höflich und bestimmt.
Das Interview haben wir dem Magazin Hinterland (Nr. 25) entnommen. Es ist hier in leicht gekürzter Form wiedergegeben.
Syrien-Flüchtlinge: Aufnahme in Deutschland erleichtern! (28.02.14)