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Das »Leid an den Außengrenzen« mit Gewalt und Abschottung beenden?
Im Koalitionsvertrag wollte die Bundesregierung noch »die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden«. Stattdessen spielt Bundesinnenministerin Faeser jetzt Geflüchtete aus der Ukraine gegen andere Schutzsuchende aus und Politiker*innen fordern unisono mal wieder die »Schließung« der sogenannten Balkanroute.
Solidarität mit Ukrainer*innen – aber gegen andere Schutzsuchende
Traurig und irritierend ist, dass sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser zu folgendem Satz in bester Seehofer-Manier hinreißen lässt: »Wir sind gemeinsam in der Verantwortung, illegale Einreisen zu stoppen, damit wir weiter den Menschen helfen können, die dringend unsere Unterstützung brauchen«, schrieb sie auf Twitter. Faesers Forderung nach einem Stopp der »illegalen Migration« spielt die Solidarität mit Ukrainer*innen gegen die Abwehr von Schutzsuchenden aus anderen Herkunftsregionen aus.
Wirklich alarmierend ist aber, dass die Menschenrechte völlig ausgeblendet werden. Völkerrechtswidrige Zurückweisungen, die exzessive Gewalt an Europas Grenzen und das tägliche Sterben im Mittelmeer spielen keine Rolle in der überhitzen Debatte.
Asylanträge in Deutschland auf dem Stand von 2018
135.000 Erstasylanträge wurden in den ersten neun Monaten 2022 in Deutschland verzeichnet. Darunter sind auch knapp 20.000 hier geborenen Kinder von Eltern, die bereits in Deutschland leben. Das bedeutet: 115.000 neueingereiste Menschen haben bis 1. Oktober ein Schutzgesuch hier gestellt. Das sind etwa so viele wie im ganzen Jahr 2018.
Die bundesdeutsche Asylstatistik bietet also keine Grundlage für eine alarmistische und mit Ressentiments geladene Debatte.
Die bundesdeutsche Asylstatistik bietet also keine Grundlage für eine alarmistische und mit Ressentiments geladene Debatte. Die Hauptherkunftsländer von Asylerstantragstellenden in Deutschland sind auch in 2022 weiterhin Syrien und Afghanistan, danach folgen der Irak und die Türkei. Die Antragsteller*innen aus diesen Ländern machen (Stand Ende September) circa zwei Drittel der Erstanträge aus.
Nicht zu verwechseln: Ankunftszahlen in Europa und versuchte Grenzübertritte
Während also Deutschland gestiegene Asylantragszahlen auf dem Level von 2018 verzeichnet, sieht das Bild an den EU-Außengrenzen folgendermaßen aus: Im laufenden Jahr sind laut offiziellen Zahlen 1.711 Schutzsuchende auf ihrer Flucht nach Europa ums Leben gekommen. Bisher wurden im Jahr 2022 127.557 Ankünfte in der EU über die Mittelmeerregion verzeichnet.
Auf Griechenland entfallen dabei lediglich 13.043 registrierte Asylsuchende. Über Bulgarien erreichten im Laufe dieses Jahres nach Angaben des UNHCR circa 10.000 Schutzsuchende die EU. Zum Vergleich: 2015 lag die Zahl der Ankünfte über das Mittelmeer offiziell mit 1.032.408 Personen rund neunmal so hoch, 2016 waren es 373.652 Ankünfte.
In der Debatte werden regelmäßig zwei Zahlen verwechselt: die Anzahl an Grenzübertritten und an Menschen, die diese Grenzen überqueren. In Bezug auf die Balkanroute wird häufig Bezug genommen auf über 106.000 Grenzübertritte von Januar bis September 2022, eine Erhöhung von 170%. Frontex selbst hält hierzu fest, dass diese Zahl so hoch ist, weil dieselben Personen mehrere Versuche benötigen um eine Grenze zu überwinden. Es handelt sich dabei also nicht um die Anzahl von Menschen, die über diese Route in die EU eingereist sind, wie es selbst das Bundesinnenministerium behauptet.
Viele Schutzsuchende schon länger in Europa
Viele Schutzsuchende, die jetzt in Deutschland ankommen, befinden sich bereits seit Längerem in Europa. Sie haben in Bulgarien und Griechenland unter menschenunwürdigen Aufnahmebedingungen gelitten. Für sie stellt die Weiterflucht über die Balkanroute häufig die einzige Option dar. Auf gewisse Nachholeffekte, auch aufgrund der eingeschränkten Mobilität während der Corona-Pandemie, führt unter anderem das österreichische Bundesinnenministerium den Anstieg von Ankünften über die Balkanroute zurück.
Politiker*innen aus der EU und Deutschland machen die Visapolitik Serbiens für steigende Ankunftszahlen verantwortlich. Serbien hat als Nicht-EU-Mitglied andere Visa-Bestimmungen als die Mitgliedsstaaten der EU und des Schengen-Raums. So können Personen aus Ägypten, Burundi, Indien, Kuba, Tunesien und der Türkei visumsfrei nach Serbien reisen.
Ankünfte in Serbien hauptsächlich aus Afghanistan, Syrien, Pakistan und Irak
Die in Serbien Ankommenden stammen aber laut Zahlen des UNHCR in der ersten Jahreshälfte 2022 hauptsächlich aus Afghanistan, Syrien, Pakistan und Irak. Staatsangehörige dieser Länder haben aber keine Möglichkeit der legalen Einreise nach Serbien.
Der Anteil der Asylsuchenden aus den Herkunftsländern, die visumsfrei nach Serbien einreisen können, ist hingegen in Deutschland bis jetzt statistisch gesehen gering – mit Ausnahme der Türkei. Doch auch bei türkischen Staatsangehörigen ist völlig unklar, wie viele von ihnen tatsächlich per Visum und Flugzeug nach Serbien einreisen konnten und wie viele weiterhin auf die gefährlichen Fluchtrouten über Griechenland und Bulgarien ausweichen müssen, um in die EU einzureisen.
In Österreich hingegen stellten indische Asylantragsteller*innen im Juli 2022 die größte Gruppe von Asylsuchenden. Ein monokausaler Zusammenhang mit der visafreien Einreise von Inder*innen nach Serbien erscheint jedoch auch hier zu kurz gegriffen, denn indische Staatsangehörige können bereits seit August 2017 visafrei nach Serbien einreisen.
Einigkeit in der EU: Balkanroute soll noch weiter abgedichtet werden
Nancy Faeser bezeichnete Serbiens Visapolitik beim deutschen Flüchtlingsgipfel am 11. Oktober als »inakzeptabel«. Die Hardliner aus Österreich und Ungarn, Karl Nehammer und Viktor Orban, haben bereits Anfang Oktober den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić getroffen. Gemeinsam wollen sie Maßnahmen gegen die Transitroute über Serbien in die EU ergreifen. Die Grenze zwischen Serbien und Nordmazedonien soll stärker kontrolliert und Serbien bei Abschiebungen unterstützt werden.
Die EU wird außerdem den Einsatz von Frontex im Westbalkan erweitern. Am 13. Oktober haben die Innenminister*innen im Rat der EU eine Frontex-Operation in Nordmazedonien beschlossen. Am 26. Oktober 2022 unterzeichneten Ylva Johansson und der nordmazedonische Ministerpräsident Dimitar Kovačevski eine entsprechende Vereinbarung.
Auf Druck aus einzelnen EU-Mitgliedstaaten und der EU-Kommission beendet Serbien die visafreie Einreise für Burundi und Tunesien. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hatte zuvor gedroht, die visafreie Einreise serbischer Staatsangehörige in der EU einzuschränken. Bundesinnenministerin Faeser hatte Serbiens Status als EU-Beitrittskandidaten angeführt, um eine Anpassung des serbischen Visaregimes mit dem der EU zu fordern.
Blinder Fleck: Menschenrechtsverletzungen und Sterben an Europas Grenzen
Die lebensgefährliche Flucht wird an den EU-Außengrenzen durch systematische völkerrechtswidrige Zurückweisungen (sogenannte Pushbacks) weiter verschärft. Bulgarien und Griechenland halten mit diesem völkerrechtswidrigen Vorgehen Schutzsuchende davon ab, in der EU Schutz zu ersuchen. So zählte die bulgarische Menschenrechtsorganisation Bulgarian Helsinki Committee im Jahr 2021 genau 2.513 Pushback-Operationen durch die bulgarischen Behörden. Human Rights Watch berichtet von unmenschlicher Behandlung und extremer Polizeibrutalität gegen Schutzsuchende.
Und in Griechenland werden seit März 2020 Pushbacks in einer bisher ungekannten Systematik durchgeführt. Unterstützung erfährt Griechenland dabei auch von der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Immer wieder kommt es aufgrund von Pushback-Operationen und unterlassener Hilfeleistung durch die griechischen Behörden zu Todesfällen von Schutzsuchenden.
Balkanroute: Zone der Gewalt und Rechtsbrüche
In der EU wird ein Bild gezeichnet, demzufolge die Balkanroute für Schutzsuchende offen ist. Die Realität sieht vollkommen anders aus. Mit völkerrechtswidrigen Maßnahmen gehen die Behörden auf dem Balkan gegen Schutzsuchende vor. Geflüchtete sind zunehmend auf skrupellose Schleppernetzwerke angewiesen. Die Flucht über die Balkanroute bleibt für Schutzsuchende lebensgefährlich, wie auch die Berichte über Unfälle auf der Route erschreckend deutlich machen.
Rumänien: Die serbische Menschenrechtsorganisation KlikAktiv beschreibt in einem aktuellen Bericht die Lage an der serbisch-rumänischen Grenze. Aufgrund der Grenzabschottung Ungarns und Kroatiens weichen mehr Schutzsuchende auf die Route über Rumänien aus. KlikAktiv berichtet von Pushbacks durch die rumänischen Behörden nach Serbien.
Ungarn: Viktor Orban hat schon 2015 Grenzzäune zu Kroatien und Serbien errichten lassen. Das Asylrecht hat die Regierung de facto abgeschafft. Von Januar 2022 bis Ende September wurden in Ungarn laut der Menschenrechtsorganisation Ungarisches Helsinki Komitee über 114.881 illegale Zurückweisungen verzeichnet.
Kroatien: Die Einsatzkräfte sind wegen ihres extrem brutalen Vorgehens gegen Schutzsuchende während Zurückweisungsoperationen berüchtigt. Das Centre for Peace Studies und weitere Organisationen dokumentierten zehntausende Pushbacks durch die kroatischen Behörden.
Die Ampel muss Farbe bekennen
Im Rahmen des sogenannten »Berliner Prozesses«, an dem Vertreter*innen der Westbalkanländer teilnahmen, betonte Faeser zuletzt: »Wir wollen die Menschen schützen, die vor Kriegen und politischer Verfolgung zu uns fliehen. Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung«. Das bedeute für sie gleichzeitig ein entschiedenes Vorgehen gegen »illegale Migration«. Ein Wort zu Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende auf der Balkanroute verlor Faeser nicht.
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung hieß es noch, die Ampel wolle »die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden«. PRO ASYL wird die Ampel weiterhin an diesem Anspruch messen. Diesen hehren Ansprüchen müssen endlich Taten folgen. Dazu gehört auch eine völkerrechtliche Selbstverständlichkeit: Die Bundesinnenministerin und die rot- grün-gelbe Bundesregierung müssen gewährleisten, dass alle Menschen, die vor Krieg und Unterdrückung fliehen, Schutz bekommen – egal woher sie kommen.
(kk/dm)