30.08.2023
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Ein Trauerzug für Kemal Altun mit mehreren tausend Teilnehmer*innen zieht am 04.09.1983 durch Berlin-Kreuzberg zum Friedhof. Foto: picture alliance / Chris Hoffmann

Am 30.08.1983 sprang Cemal Kemal Altun aus dem Fenster eines Berliner Gerichts und setzte dem Tauziehen um seine Auslieferung in die Türkei ein erschütterndes Ende. Ein Tiefpunkt in der deutschen Asylpolitik. PRO ASYL gedenkt seinem 40. Todestag und blickt mit Sorge auf die aktuelle Situation von politisch Verfolgten aus der Türkei in Deutschland.

Vor 40 Jah­ren, am Mor­gen des 30. August 1983, stürz­te sich Cemal Kemal Alt­un (geb. 13.04.1960) aus Angst vor sei­ner dro­hen­den Aus­lie­fe­rung in die Tür­kei aus dem sechs­ten Stock eines Ber­li­ner Gerichts. Zuvor wur­de der 23-jäh­ri­ge Stu­dent aus der Tür­kei 13 Mona­te teils in Ein­zel­haft in der Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt Berlin/Moabit inhaf­tiert und hat­te bereits einen Abschie­be­ver­such, der in letz­ter Sekun­de schei­ter­te, durch­lebt. Er soll­te in einen Fol­ter­staat abge­scho­ben wer­den. Cemal Kemal Alt­un blieb Schutz versagt.

Flucht vor der türkischen Militärdiktatur 

Cemal Alt­un wur­de in Engiz nahe der Groß­stadt Sam­sun am Schwar­zen Meer gebo­ren. Schon früh war er, wie sein älte­rer Bru­der, par­tei­po­li­tisch und genos­sen­schaft­lich orga­ni­siert. Im Janu­ar 1981 floh Alt­un vor dem Mili­tär­putsch in der Tür­kei nach West-Ber­lin. Zuvor wur­den zahl­rei­che sei­ner Weggefährt*innen inhaf­tiert, teils droh­te die Todes­stra­fe. Das dama­li­ge Regime in der Tür­kei war bekannt für die sys­te­ma­ti­sche Anwen­dung von Fol­ter in Gefan­gen­schaft, unter ande­rem um Geständ­nis­se oder belas­ten­de Aus­sa­gen zu erzwin­gen, betrof­fen waren auch Kinder.

Im Sep­tem­ber 1981 stell­te Alt­un einen Antrag auf Asyl, nach­dem der poli­tisch akti­ve Stu­dent aus tür­ki­schen Medi­en erfah­ren hat­te, dass er in der Tür­kei im Zusam­men­hang mit dem Mord eines hoch­ran­gi­gen Poli­ti­kers gesucht wur­de. Noch bevor das damals zustän­di­ge Bun­des­amt für die Aner­ken­nung aus­län­di­scher Flücht­lin­ge den Asyl­an­trag inhalt­lich bear­bei­te­te, wur­de der Staats­schutz über Alt­uns Fall infor­miert. Über Inter­pol frag­te die Bun­des­re­pu­blik die Jun­ta in der Tür­kei an, ob ein Aus­lie­fe­rungs­an­trag gestellt wer­den wür­de. Wenig spä­ter, im Juli 1982, wur­de Cemal Kemal Alt­un auf­grund des Ersu­chens der Tür­kei in Aus­lie­fe­rungs­haft genom­men. Das Tau­zie­hen um sein Leben nahm sei­nen Lauf. Mit den Wor­ten »Es geht ab nach Frank­furt« hol­ten Beamt*innen Alt­un am 15. März 1983 für einen ers­ten Abschie­be­ver­such aus sei­ner Zel­le, der nur durch eine inter­na­tio­na­le Pro­test­wel­le in letz­ter Sekun­de gestoppt wer­den konn­te (sie­he »Aus­ge­lie­fert. Cemal Alt­un und ande­re«, Rowohlt Taschen­buch Ver­lag GmbH, Dezem­ber 1983; sie­he auch die Bro­schü­re »Zuflucht gesucht – den Tod gefun­den«, hier online abruf­bar).

Sprung in den Tod statt Schutz in Deutschland

Dann der Hoff­nungs­schim­mer: Die euro­päi­sche Kom­mis­si­on für Men­schen­rech­te (Vor­läu­fer des heu­ti­gen Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te) nahm die Beschwer­de Alt­uns an. Kur­ze Zeit spä­ter, am 06. Juni 1983, erkann­te außer­dem das dama­li­ge Bun­des­amt Alt­un als asyl­be­rech­tigt an. Doch Alt­un blieb in Haft. Der Bun­des­be­auf­trag­te für Asyl­an­ge­le­gen­hei­ten erhob Kla­ge gegen die Asyl­an­er­ken­nung von Alt­un. Par­al­lel kam es wei­ter­hin zu hoch­ran­gi­gen poli­ti­schen Tref­fen zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik und der Tür­kei, bei denen Alt­uns Aus­lie­fe­rung The­ma war. Am 25. August 1983 begann dann die Ver­hand­lung zur Kla­ge des Bun­des­be­auf­trag­ten vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin. Der 30. August 1983 war der zwei­te Ver­hand­lungs­tag in der Sache und es soll­te der letz­te blei­ben: Aus pani­scher Angst vor einer Aus­lie­fe­rung sprang Cemal Kemal Alt­un noch im Gerichts­saal aus einem Fens­ter in den Tod.

In einer Todes­an­zei­ge  hieß es:

»Die Igno­ranz der Jus­tiz und der Oppor­tu­nis­mus der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land waren stär­ker als sein Durch­hal­te­ver­mö­gen und unser Engagement.«

Der Tod von Alt­un führ­te zu gro­ßem Auf­se­hen. Nach­dem die Bun­des­re­gie­rung dar­in ver­sag­te, den poli­ti­schen Flücht­ling im Sin­ne des Grund­ge­set­zes zu schüt­zen, ver­schrie­ben sich zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen die­ser Auf­ga­be. Weni­ge Wochen nach Alt­uns Tod kam es zum ers­ten Kir­chen­asyl in Ber­lin, etwas spä­ter wur­de die Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Asyl in der Kir­che gegrün­det. Auch PRO ASYL ging u.a. aus den Reak­tio­nen auf das Ver­sa­gen im Fall Alt­un hervor.

Zum 20. Jah­res­ta­ge von Alt­uns Tods im Jahr 2003 stell­te PRO ASYL-Mit­be­grün­der Hei­ko Kauff­mann aller­dings fest, dass ein Umden­ken in der Asyl­po­li­tik aus­blieb. Das bit­te­re Resü­mee ist heu­te wei­te­re zwan­zig Jah­re spä­ter lei­der wei­ter­hin aktu­ell, wie heu­ti­ge Dis­kus­sio­nen um Abschie­bungs­haft und »Rück­füh­rungs­of­fen­si­ven« zeigen.

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Wieder müssen viele Menschen aus der Türkei fliehen

Seit dem geschei­ter­ten Putsch­ver­such von 2016, beson­ders aber inner­halb der letz­ten zwei Jah­re, steigt die Zahl der Men­schen, die aus der Tür­kei flie­hen und in Deutsch­land Schutz suchen stark an. Die Tür­kei gehört zu den drei Haupt­her­kunfts­län­dern von Asy­l­erst­an­trag­stel­len­den in Deutsch­land: Bis Juni 2023 stell­ten bereits 19.208 tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge erst­mals einen Asyl­an­trag. Im gesam­ten Jahr 2022 wur­den 24.000 Erst­an­trä­ge tür­ki­scher Staatsbürger*innen registriert.

Die Flucht­be­we­gung spricht Bän­de über die men­schen­recht­li­che Situa­ti­on in der Tür­kei: Seit mehr als 20 Jah­ren wird die Tür­kei durch die von Recep Tayyip Erdoğan gegrün­de­te AKP (»Par­tei für Gerech­tig­keit und Auf­schwung«) regiert. In die­ser Zeit wur­den rechts­staat­li­che Insti­tu­tio­nen abge­baut und der Staats­ap­pa­rat zuguns­ten des natio­na­lis­tisch-reli­giö­sen Gesell­schafts­ent­wurfs umge­baut. Nach der Wie­der­wahl des umstrit­te­nen Prä­si­den­ten im Mai die­ses Jahr sind wei­te­re Flucht­be­we­gun­gen, ins­be­son­de­re von demo­kra­ti­schen Kräf­ten und der sozia­len Grup­pe der LGBTIQA+, zu erwar­ten. Denn vie­le haben die Hoff­nung auf bal­di­ge Bes­se­rung der men­schen­recht­li­chen Lage in dem Land verloren.

Deutschland verkennt politische Verfolgung durch die türkische Justiz

Trotz des bekann­ten Ver­fol­gungs­drucks bekom­men nur weni­ge Asyl­su­chen­de aus der Tür­kei in Deutsch­land Schutz. Die berei­nig­te Schutz­quo­te für die Tür­kei als Her­kunfts­land ist in den ver­gan­ge­nen Jah­ren rapi­de gesun­ken und lag im Juni 2023 nur noch bei rund 21,9 % und damit unter­halb des EU-Durch­schnitts von 31 %. Dies ist sta­tis­tisch auf einen stei­gen­den Anteil kur­di­scher Antrags­stel­len­den zurück­zu­füh­ren, deren berei­nig­te Schutz­quo­te 2022 bei ledig­lich 11 % lag.

PRO ASYL sieht immer wie­der Ent­schei­dun­gen vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) und von Gerich­ten, in denen die Rechts­staats­kri­se der Tür­kei ver­kannt wird und Schutz­su­chen­de auf ein angeb­li­ches fai­res Straf­ver­fah­ren in der Tür­kei ver­wie­sen wer­den. Dabei wer­den Straf­ver­fah­ren bekann­ter­ma­ßen gezielt poli­tisch ein­ge­setzt. Allei­ne zwi­schen 2016 und 2020 wur­den wegen Ter­ror­vor­wür­fen Ver­fah­ren gegen über 1,5 Mil­lio­nen Men­schen ein­ge­lei­tet. Beson­ders betrof­fen sind dabei (ver­meint­li­che) Anhänger*innen der soge­nann­ten Gülen-Bewe­gung sowie Per­so­nen, die sich aktiv oder ver­meint­lich in der kur­di­schen Frei­heits-/Bür­ger­rechts­be­we­gung einbringen.

Alt­un konn­te sich nicht auf das Grund­recht auf Asyl ver­las­sen. Deut­sche Gerich­te schütz­ten die­ses nicht effek­tiv. Er wur­de behan­delt und weg­ge­sperrt wie ein Verbrecher.

Obwohl das Rechts­staat­lich­keits­de­fi­zit der Tür­kei gera­de in poli­tisch moti­vier­ten Ver­fah­ren bekannt ist – ins­be­son­de­re seit dem geschei­ter­ten Putsch­ver­such sind die Straf­ver­fol­gun­gen und Gerichts­ur­tei­le nicht unab­hän­gig von poli­ti­scher Ein­fluss­nah­me und die geführ­ten Ver­fah­ren wei­sen gro­ße Defi­zi­te auf – wer­den in deut­schen Asyl­ver­fah­ren poli­ti­sche Tat­vor­wür­fe der tür­ki­schen Jus­tiz unkri­tisch über­nom­men. Beson­ders skur­ril erscheint dabei die enor­me Bedeu­tung, die das BAMF und deut­sche Ver­wal­tungs­ge­rich­te dem UYAP-Sys­tem, einem Online-Por­tal der tür­ki­schen Jus­tiz, bei­mes­sen, wobei die prak­ti­schen Mög­lich­kei­ten des Por­tals sowie die Will­kür der straf­recht­li­chen Ver­fol­gung in der Tür­kei ver­kannt werden.

345

Men­schen wur­den 2023 bereits in die Tür­kei abgeschoben.

Steigende Abschiebungszahlen in die Türkei

Im Jahr 2022 wur­den 515 Men­schen in die Tür­kei abge­scho­ben. Für 2023 ist mit einer Stei­ge­rung zu rech­nen, denn bereits im ers­ten Halb­jahr 2023 wur­den schon 345 Men­schen in die Tür­kei abge­scho­ben. Über ihren Ver­bleib ist wenig bekannt. Immer wie­der wer­den aber Fäl­le öffent­lich, in denen es nach Abschie­bun­gen aus der EU zu Inhaf­tie­run­gen in der Tür­kei gekom­men ist, wie zuletzt beim wei­ter­hin inhaf­tier­ten Krebs­pa­ti­en­ten Mah­mut Tat, der im Dezem­ber 2022 aus Schwe­den abge­scho­ben wur­de. Dem war gro­ßer poli­ti­scher Druck auf die Aus­lie­fe­rung tür­ki­scher Staatsbürger*innen durch die Tür­kei im Rah­men der NATO-Bei­tritts­ver­hand­lun­gen Schwe­dens vor­aus­ge­gan­gen. Die­se Abschie­bungs­po­li­tik kom­met zu einer Zeit, in der tür­ki­sche Men­schen­rechts­ver­bän­de und Schutz­su­chen­de aus der Tür­kei in Deutsch­land die Zunah­me von Fol­ter und Miss­hand­lun­gen in Haft­si­tua­ti­on anpran­gern: »Das gan­ze Land ist zu einem Ort der Fol­ter gewor­den«, stell­ten drei Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen in dem gemein­sa­men Bericht »Wir ver­tei­di­gen die Men­schen­rech­te und sagen Nein zu Fol­ter« jüngst fest. Den Grund für die Zunah­me an Fol­ter seit 2016 sehen die tür­ki­schen Menschenrechtler*innen im wach­sen­den Autoritarismus.

Der Tod Altuns mahnt die Verteidigung des individuellen Rechts auf Asyl an

Alt­un konn­te sich nicht auf das Grund­recht auf Asyl ver­las­sen. Deut­sche Gerich­te schütz­ten die­ses nicht effek­tiv. Er wur­de behan­delt und weg­ge­sperrt wie ein Ver­bre­cher. Die dama­li­ge Bun­des­re­gie­rung bewer­te­te die Unter­hal­tung guter Bezie­hun­gen zur Tür­kei höher­ran­gi­ger, als den Schutz von Cemal Kemal Alt­uns Leben. Sie mach­te sich zum Hand­lan­ger eines Ver­fol­ger­staats. Alt­uns Schick­sal zeigt, was pas­siert, wenn das Grund­recht auf Asyl zur Wort­hül­se verkommt.