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Bundesverwaltungsgericht entscheidet: Kein »Flüchtigsein« im offenen Kirchenasyl!
In einer wichtigen Entscheidung im Juni hat das BVerwG festgestellt, dass eine Person im Kirchenasyl nicht als »flüchtig« im Sinne der Dublin-Verordnung gilt. Im Gegensatz zur aktuellen Praxis des BAMF, darf somit die Überstellungsfrist nicht auf 18 Monate verlängert werden! Eine wichtige Entscheidung, die jetzt entsprechend umgesetzt werden muss.
Das sogenannte Kirchenasyl ist ein wichtiges humanitäre Korrektiv zur rigorosen Abschiebungspraxis Deutschlands. Im Rahmen des Kirchenasyls entscheiden Gemeinden, dass sie schutzsuchenden Menschen den Schutz bieten, den Deutschland ihnen zu dem Zeitpunkt verweigert. Zum Beispiel um eine Eritreerin vor Obdachlosigkeit bei einer Dublin-Rückführung nach Italien zu schützen oder die Dublin-Abschiebung einer traumatisierten und an Aids erkrankten Nigerianerin zu verhindern. In 325 von aktuell 354 aktiven Kirchenasylen in Deutschland geht es um Dublin-Abschiebungen, um die Menschen vor Elend in anderen EU-Mitgliedstaaten zu schützen.
In Dublin-Verfahren gilt grundsätzlich eine sechsmonatige Frist zur Überstellung in den nach den Dublin-Regeln ursprünglich zur Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat. Regelmäßig ist dies jener Mitgliedstaat, dessen Boden Geflüchtete als erstes betreten. Nach Ablauf dieser Frist wird Deutschland für das Asylverfahren kraft Gesetzes zuständig.
Das heißt für ein Kirchenasyl, dass der/die Schutzsuchende nach Ablauf von sechs Monaten (die Frist startet, nachdem der ursprünglich zuständige Mitgliedstaat die (Wieder-)Aufnahme des oder der Betroffenen akzeptiert hat) in Deutschland ein Asylverfahren bekommt und das Kirchenasyl verlassen kann.
Sind Schutzsuchende »flüchtig«, kann die Überstellungsfrist aber auf bis zu 18 Monate verlängert werden und es geht erst nach Ablauf dieser verlängerten Frist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf Deutschland über.
Beschluss der Innenministerkonferenz vom Juni 2018
Gemäß einem Beschluss der Innenministerkonferenz von Juni 2018, sollen seit August 2018 Personen im Kirchenasyl in bestimmten Fallkonstellationen als »flüchtig« im Sinne der Dublin-Verordnung behandelt werden. Dies ist u.a. dann der Fall, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in einer Prüfung zu der Auffassung gelangt, dass kein Härtefall vorliegt, das BAMF den Fall also nicht noch einmal überprüfen will und die betroffene Person das Kirchenasyl nicht verlässt. Das soll selbst dann gelten, wenn es sich um ein sogenanntes »offenes« Kirchenasyl handelt, d.h., wenn der Aufenthaltsort der betroffenen Person dem BAMF und der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde bekannt ist.
In zahlreichen straf- und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen wurde aber schon vor August 2018 entschieden, dass Personen im offenen Kirchenasyl nicht als »flüchtig« im Sinne der Dublin-Verordnung behandelt werden können (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof vom 16.05.2018; Oberlandesgericht München vom 03.05.2018). Das wird damit begründet, dass infolge des bekannten Aufenthaltsorts kein rechtliches oder tatsächliches Hindernis für Überstellungen im Dublin-Verfahren besteht, sondern der Staat in diesen Fällen vielmehr bewusst auf deren Durchführung verzichtet.
Urteil des EuGH in der Rechtssache »Jawo«
Auch nach dem Beschluss der Innenministerkonferenz vom Juni 2018 hat sich die Rechtsprechung in Fällen des offenen Kirchenasyl überwiegend gegen ein »Flüchtigsein« im Sinne der Dublin-Verordnung ausgesprochen (vgl. Verwaltungsgericht Aachen vom 19.11.2018).
In jüngerer Zeit haben sich Gerichte hierbei vor allem auch auf ein Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 19.03.2019 in der Rechtssache »Jawo« berufen, in dem dieser entschieden hat, dass ein »Flüchtigsein« nur vorliegt, wenn eine Überstellung nicht vorgenommen werden kann, weil sich ein Antragsteller gezielt entzieht, um eine Überstellung zu vereiteln. Dies könne angenommen werden,
»wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren […]«.
Zutreffend erkennen nationale Gerichte im offenen Kirchenasyl keine derartige Kausalität zwischen dem Verlassen der zugewiesenen Wohnung und der Nichtdurchführbarkeit der Dublin-Überstellung.
Zutreffend erkennen nationale Gerichte im offenen Kirchenasyl keine derartige Kausalität zwischen dem Verlassen der zugewiesenen Wohnung und der Nichtdurchführbarkeit der Dublin-Überstellung, da Betroffene durch die Bekanntgabe der ladungsfähigen Anschrift im Kirchenasyl nicht untergetaucht, sondern jederzeit erreichbar und auffindbar sind (vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrheinwestfalen vom 29.08.2019, Bayerischer Verwaltungsgerichtshof vom 12.02.2020).
Positionierung des Bundesverwaltungsgerichts
In einem Beschluss vom 08.06.2020 hat sich das Bundesverwaltungsgericht nun unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH ebenfalls auf den Standpunkt gestellt, dass Personen im offenen Kirchenasyl nicht »flüchtig« sind. Mit diesem Beschluss hat das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde des BAMF gegen die Nichtzulassung der Revision betreffend das oben genannte Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes zurückgewiesen.
In dem Verfahren hatte das BAMF die Frage aufgeworfen,
»ob sich daran, dass die rechtliche Möglichkeit einer Überstellung durch ‚den Staat´ einem ‚Flüchtigsein´ des Asylbewerbers im offenen Kirchenasyl entgegensteht, dadurch etwas ändert, dass in einem föderativ strukturierten Mitgliedstaat die behördlichen Zuständigkeiten für die Durchführung des Asyl- bzw. Dublin-Verfahrens einerseits und für die Durchführung der Überstellung andererseits auseinanderfallen und der erstgenannten Behörde bzw. dem Bund als ihrem Rechtsträger nur eingeschränkte Weisungsbefugnisse gegenüber den letztgenannten, den Ländern zuzurechnenden Behörden zustehen«.
Mit anderen Worten wollte das BAMF geltend machen, es habe selbst keine rechtliche Möglichkeit zur Dublin-Überstellung in dieser Konstellation, weil es nur für die Dublin-Entscheidung, nicht aber für deren Vollzug zuständig ist, der den Ausländerbehörden obliegt.
Zu Recht hat das Bundesverwaltungsgericht in dem genannten Beschluss betont, dass diese Besonderheiten der deutschen Verwaltungsorganisation im Bereich des Dublin-Verfahrens die seitens des EuGH vorgenommene verbindliche Auslegung des unionsrechtlichen Rechtsbegriffs »flüchtig« nicht beeinflussen können. Der ersuchende Mitgliedstaat – hier also die Bundesrepublik Deutschland – sei vielmehr als Ganzes in den Blick zu nehmen, auf seine auf seinem föderalen Staatsaufbau folgende Verwaltungsbinnenorganisation könne es aus Sicht der einheitlich auszulegenden unionsrechtlichen Regelungen nicht ankommen:
Die Evangelische Kirche in Deutschland verlangt vor diesem Hintergrund, dass das BAMF seine – jetzt offenkundig – rechtswidrige Praxis einstellen muss.
»Das Verhalten der für die Durchführung der Überstellung zuständigen Landesbehörden fällt deshalb in diesem Zusammenhang offensichtlich nicht in die Verantwortungssphäre des Asylbewerbers oder des zuständigen Mitgliedstaats, sondern in die der staatlich verfassten öffentlichen Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt und ist damit auch der Beklagten zuzurechnen«.
Verlängerung der Dublin-Fristen bei Kirchenasyl muss der Vergangenheit angehören
Ein Auseinanderfallen der Zuständigkeit für die Durchführung des Asyl- bzw. Dublin-Verfahrens einerseits und dem Vollzug der auf einem Dublin-Bescheid basierenden Abschiebung andererseits kann ergo nichts daran ändern, dass eine Person im offenen Kirchenasyl entsprechend der oben zitierten Rechtsprechung des EuGH nicht »flüchtig« ist. Das gilt nach dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts selbst dann, wenn das BAMF eine zwangsweise Durchsetzung der Überstellung aus dem Kirchenasyl gegenüber der jeweils für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde befürwortet.
Es ist davon auszugehen, dass sich auch jene Gerichte, die bislang noch von einem »Flüchtigsein« in Fällen von offenem Kirchenasyl ausgegangen sind, nunmehr an der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts orientieren. Damit sollte die Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate nun der Vergangenheit angehören.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) verlangt vor diesem Hintergrund, dass das BAMF seine – jetzt offenkundig – rechtswidrige Praxis einstellen muss. PRO ASYL schließt sich dieser Forderung an.
UPDATE: Am 13.01.2021 hat das BAMF der Forderung von PRO ASYL entsprechend endlich erklärt, in Fällen des offenen Kirchenasyls künftig nicht mehr regelmäßig von einer Verlängerung der Überstellungsfrist von 6 auf 18 Monate auszugehen.
(pva)