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Bundesregierung forciert heimlich Abschiebungen in den Irak
Mit großer Sorge beobachten wir, dass sich die verschärfte Abschiebepolitik der Bundesregierung auch auf den Personenkreis der ausreisepflichtigen Iraker*innen ausgeweitet hat. Grund dafür scheint vor allem eine in den letzten Monaten gesteigerte Rücknahmebereitschaft des Irak zu sein.
Seit einigen Wochen erhalten wir in der Beratung von PRO ASYL eine zunehmende Anzahl von Anfragen verunsicherter Iraker*innen, deren Duldungen nicht mehr verlängert werden. Zudem haben wir vermehrt Kontakt zu Personen in Abschiebehaft, denen die Abschiebung in den Irak droht.
(Update 07.02.) Hintergrund dieser Entwicklung ist eine verstärkte Kooperation zwischen Deutschland und dem Irak, die bereits in einer Absichtserklärung ausformuliert wurde. Die Bundesregierung spricht weiterhin von einem »vertragslosen Verfahren« (BT-Drs. 20/8046), macht aber deutlich, dass die nachgewiesene Staatsangehörigkeit den irakischen Behörden für die Rücknahme ausreicht.
Ausstellung von Passersatzpapieren macht Abschiebungen möglich
Lange Zeit wurden aufgrund von Beschlüssen der Innenministerkonferenzen 2006 und 2007 lediglich jene Personen abgeschoben, die in Deutschland wegen Straftaten verurteilt wurden oder als Personen galten, die die innere Sicherheit gefährden. Berücksichtigt wurden damals zudem Voraussetzungen hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Wiedereingliederung, die der United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) aufgestellt hatte. Diese Beschränkung bezog sich zunächst nur auf den Nordirak und wurde 2018 auch auf Zentralirak erweitert. Trotz der weiterhin schwierigen Lage im Irak entfallen diese Beschränkungen aktuell.
Dadurch wird deutlich: Die Bemühungen der Bundesregierung gegenüber dem Irak tragen Früchte und die Abschiebungszahlen steigen seit einigen Jahren langsam an. Während im Jahr 2021 noch 52 Staatsangehörige in den Irak abgeschoben wurden, stieg die Zahl der Abschiebungen im Folgejahr 2022 bereits auf 77 Staatsangehörige an, im ersten Halbjahr dieses Jahres waren es sogar bereits 42.
Dass sich nun eine ganz neue Dynamik abzeichnet, erkennt man jedoch vor allem an der deutlichen Zunahme ausgestellter Passersatzdokumente, die es den deutschen Behörden ermöglichen, Personen in den Irak abzuschieben. Dazu kommen Vertreter*innen der irakischen Botschaft zu Sammelanhörungen, um die Identität der vorgeführten Personen zu prüfen und dann Passersatzpapiere auszustellen. Während die irakischen Auslandsvertretungen in den Jahren 2021 und 2022 nur um die 20 Passersatzpapiere ausgestellt haben, wurden allein im ersten Halbjahr 2023 bereits 135 Passersatzpapiere erteilt (BT- Drs. 20/8046). Angesichts der Zahl der geduldeten Iraker*innen in Deutschland ist das noch sehr gering. Für eine Gruppe, die bisher vor Abschiebungen relativ sicher war, verbreitet sich durch diese Entwicklung ein Gefühl der Unsicherheit. In Deutschland leben derzeit ca. 28.000 geduldete Iraker*innen, darunter auch Menschen mit einer Ausbildungsduldung oder mit Duldung aus anderen rechtlichen oder humanitären Gründen, die nicht abgeschoben werden können.
In Bayern beobachten wir bereits, dass in einem Hauruck-Verfahren und ohne ausreichende Prüfung des Einzelfalls, Abschiebungen vorbereitet werden, in dem die Arbeitserlaubnis oder Duldung von Iraker*innen nicht verlängert wird. Reisen Betroffene nicht freiwillig aus, laufen sie Gefahr, in Abschiebehaft zu kommen. Gibt es keinen anderen Grund mehr für die Erteilung einer Duldung, ist die Abschiebung möglich, sobald ein Pass oder Passersatzdokument vorliegt. Aus anderen Bundesländern haben wir nur vereinzelte Meldungen bekommen. So sind etwa Einzelfälle aus Hessen und Nordrhein-Westfalen bekannt, in denen Abschiebungen vorbereitet wurden. Bisher sind uns erst wenige Einzelfälle bekannt, in denen die Abschiebung tatsächlich vollzogen wurde. In vielen Fällen konnte die Abschiebung in letzter Sekunde verhindert werden. Angesichts der Dynamik bei der Ausstellung von Passersatzpapieren besteht jedoch Grund zur Sorge, dass die Abschiebungszahlen noch in diesem Jahr massiv steigen werden. Im aktuell von rechts getriebenen Diskurs über Flucht und Migration sind die geduldeten Iraker*innen zum Spielball geworden.
Im aktuell von rechts getriebenen Diskurs über Flucht und Migration sind die geduldeten Iraker*innen zum Spielball geworden.
Aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden
Iraker*innen sollten sich direkt nach der Einreise sorgfältig und am besten persönlich bei einer Asylverfahrensberatung auf die Anhörung im Asylverfahren vorbereiten. Auch nach einem erfolglosen Asylverfahren gibt es Möglichkeiten der Aufenthaltssicherung, wenn bestimmte Voraufenthaltszeiten und weitere Voraussetzungen erfüllt sind. Zusammen mit einer Beratungsstelle vor Ort oder spezialisierten Anwält*innen können Betroffene prüfen, ob sie ihren Aufenthalt absichern können, beispielsweise über das Chancenaufenthaltsrecht, die Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung oder die Aufenthaltserlaubnis für gut integrierte Jugendliche bzw. Erwachsene. Hier kann auch die Möglichkeit eines Petitions- oder Härtefallantrags oder – bei neuen Fluchtgründen – auch eines Folgeantrags geprüft werden.
Damit der Einzelfall nicht unter die Räder gerät, ist es dringend erforderlich, dass die zuständigen Behörden Abschiebehindernisse rechtzeitig und gewissenhaft prüfen und die aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten bis zuletzt ausschöpfen.
Die aktuelle Rückkehrsituation im Irak
Für die Betroffenen bedeutet eine Abschiebung die Rückkehr in eine seit Jahren instabile und angespannte Sicherheitslage. Erst vor kurzem hat die Bundesregierung mit dieser Begründung die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes zur Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staat (IS) und zur Stabilisierung beschlossen (Meldung zum Gesetzesvorhaben, 13.09.23). Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes heißt es, dass staatliche Stellen nach wie vor »für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich« sind (Lagebericht Irak Oktober 2022, zitiert von der Tagesschau). Im Justizsystem sind Verstöße gegen Menschenrechte weit verbreitet: Es gibt Folter zur Erzwingung von Geständnissen und willkürliche Festnahmen. Sowohl terroristische Anschläge als auch Entführungen sind an der Tagesordnung.
Zu dieser prekären Sicherheitslage kommt die Klimakrise, die den Irak besonders hart trifft:
»Die Auswirkungen des Klimawandels, darunter Dürreperioden, Hitzewellen und Sandstürme, beeinträchtigten 2022 das Leben von Millionen Menschen im Irak. Die Internationale Organisation für Migration berichtete, dass sich bis September mehr als 10.000 Familien in zehn Provinzen aufgrund von Dürre, Bodenverschlechterung und erhöhtem Salzgehalt in Flüssen gezwungen sahen, ihre Heimatorte zu verlassen« (Amnesty International Report 2022/23).
Die Wasserversorgung ist äußerst prekär, nur die Hälfte der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Wasser. Das vergangene Jahr war das trockenste Jahr seit 1930. Die Dürren führen auch zu Ernteausfällen und erschweren die Versorgungssituation insgesamt. Rund 25 Prozent der Iraker*innen leben unter der Armutsgrenze. Auch die medizinische Grundversorgung kann nicht gewährleistet werden und die Medikamentenvorräte sind knapp (Reise- und Sicherheitshinweise des AA). Auch Korruption ist im Irak weit verbreitet (Rang 157 von 180 Staaten).
Diese allgemeine Lage betrifft alle Iraker*innen. Einige Gruppen sind bei einer Rückkehr in den Irak einer besonders schweren Existenz- und Bedrohungslage vor Ort ausgesetzt: Wer sich an Protesten beteiligt erfährt häufig Gewalt, erhält Todesdrohungen oder verschwindet plötzlich. Diese Menschen werden von Milizengruppen bedroht und durch den Staat nicht geschützt. Die Pressefreiheit hat sich in den letzten Jahren stetig weiter verschlechtert (Irak nimmt im Ranking den 172. Platz von insgesamt 180 Ländern ein).
Zudem erhalten Frauen und Mädchen keinen wirksamen Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Fast jedes vierte Mädchen wird minderjährig verheiratet und auch sogenannte Ehrenmorde haben laut Amnesty im vergangenen Jahr zugenommen (Amnesty International Report 2022/23).
LGBTIQ-Menschen sind Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt. Im ganzen Land kommt es zu Übergriffen und der Staat bietet keinen Schutz (VG Leipzig, Urteil vom 10.01.2023 – 8 K 575/22.A). Ganz im Gegenteil nimmt die Diskriminierung auch Einzug in die Gesetzgebung und Homosexualität soll kriminalisiert werden (Amnesty International Report 2022/23).
Der Völkermord des IS an den Jesid*innen wurde im Januar 2023 vom Bundestag als Genozid anerkannt (Plenarprotokoll vom 19.01.2023). Es versteht sich von selbst, dass Mitglieder dieser ethnischen Gruppe, die einen Völkermord überlebt hat, von Deutschland nicht ins Täterland abgeschoben werden dürfen.
Abschiebepolitik ist verantwortungslos
Angesichts der krisenhaften Lage im Irak ist es höchst besorgniserregend, dass dem Abschiebungsdruck nachgegeben wurde, ohne die Rückkehrsituation zu berücksichtigen und eine erneute Lagebetrachtung vorzunehmen. Einige Bundesländer, besonders Bayern, haben ohne politische Debatte angefangen abzuschieben – einfach weil es durch die Passersatzpapiere möglich geworden ist.
Aufgrund der komplexen, menschenrechtlich schwierigen und humanitär besorgniserregenden Lage im Irak, die sich durch die Auswirkungen des Klimawandels weiter verschärfen wird, hält PRO ASYL es für verantwortungslos, Abschiebungen in den Irak zu forcieren. Diverse menschenrechtliche Gründe sprechen gegen Abschiebungen in den Irak und es besteht die Gefahr, dass der Einzelfall auf der Strecke bleibt.
(sch, jb)