09.10.2023
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Die Lage im Irak ist menschenrechtlich und humanitär besorgniserregend. Abschiebungen in das Land sind nicht zu verantworten. Foto: Levi Meir Clancy / Unsplash

Mit großer Sorge beobachten wir, dass sich die verschärfte Abschiebepolitik der Bundesregierung auch auf den Personenkreis der ausreisepflichtigen Iraker*innen ausgeweitet hat. Grund dafür scheint vor allem eine in den letzten Monaten gesteigerte Rücknahmebereitschaft des Irak zu sein.

Seit eini­gen Wochen erhal­ten wir in der Bera­tung von PRO ASYL eine zuneh­men­de Anzahl von Anfra­gen ver­un­si­cher­ter Iraker*innen, deren Dul­dun­gen nicht mehr ver­län­gert wer­den. Zudem haben wir ver­mehrt Kon­takt zu Per­so­nen in Abschie­be­haft, denen die Abschie­bung in den Irak droht.

(Update 07.02.) Hin­ter­grund die­ser Ent­wick­lung ist eine ver­stärk­te Koope­ra­ti­on zwi­schen Deutsch­land und dem Irak, die bereits in einer Absichts­er­klä­rung aus­for­mu­liert wur­de. Die Bun­des­re­gie­rung spricht wei­ter­hin von einem »ver­trags­lo­sen Ver­fah­ren« (BT-Drs. 20/8046), macht aber deut­lich, dass die nach­ge­wie­se­ne Staats­an­ge­hö­rig­keit den ira­ki­schen Behör­den für die Rück­nah­me ausreicht.

Ausstellung von Passersatzpapieren macht Abschiebungen möglich

Lan­ge Zeit wur­den auf­grund von Beschlüs­sen der Innen­mi­nis­ter­kon­fe­ren­zen 2006 und 2007 ledig­lich jene Per­so­nen abge­scho­ben, die in Deutsch­land wegen Straf­ta­ten ver­ur­teilt wur­den oder als Per­so­nen gal­ten, die die inne­re Sicher­heit gefähr­den. Berück­sich­tigt wur­den damals zudem Vor­aus­set­zun­gen hin­sicht­lich der sozia­len und wirt­schaft­li­chen Wie­der­ein­glie­de­rung, die der United Nati­ons High Com­mis­sio­ner for Refu­gees (UNHCR) auf­ge­stellt hat­te. Die­se Beschrän­kung bezog sich zunächst nur auf den Nord­irak und wur­de 2018 auch auf Zen­tral­irak erwei­tert. Trotz der wei­ter­hin schwie­ri­gen Lage im Irak ent­fal­len die­se Beschrän­kun­gen aktuell.

Dadurch wird deut­lich: Die Bemü­hun­gen der Bun­des­re­gie­rung gegen­über dem Irak tra­gen Früch­te und die Abschie­bungs­zah­len stei­gen seit eini­gen Jah­ren lang­sam an. Wäh­rend im Jahr 2021 noch 52 Staats­an­ge­hö­ri­ge in den Irak abge­scho­ben wur­den, stieg die Zahl der Abschie­bun­gen im Fol­ge­jahr 2022 bereits auf 77 Staats­an­ge­hö­ri­ge an, im ers­ten Halb­jahr die­ses Jah­res waren es sogar bereits 42.

Dass sich nun eine ganz neue Dyna­mik abzeich­net, erkennt man jedoch vor allem an der deut­li­chen Zunah­me aus­ge­stell­ter Pass­ersatz­do­ku­men­te, die es den deut­schen Behör­den ermög­li­chen, Per­so­nen in den Irak abzu­schie­ben. Dazu kom­men Vertreter*innen der ira­ki­schen Bot­schaft zu Sam­mel­an­hö­run­gen, um die Iden­ti­tät der vor­ge­führ­ten Per­so­nen zu prü­fen und dann Pass­ersatz­pa­pie­re aus­zu­stel­len. Wäh­rend die ira­ki­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen in den Jah­ren 2021 und 2022 nur um die 20 Pass­ersatz­pa­pie­re aus­ge­stellt haben, wur­den allein im ers­ten Halb­jahr 2023 bereits 135 Pass­ersatz­pa­pie­re erteilt (BT- Drs. 20/8046). Ange­sichts der Zahl der gedul­de­ten Iraker*innen in Deutsch­land ist das noch sehr gering. Für eine Grup­pe, die bis­her vor Abschie­bun­gen rela­tiv sicher war, ver­brei­tet sich durch die­se Ent­wick­lung ein Gefühl der Unsi­cher­heit. In Deutsch­land leben der­zeit ca. 28.000 gedul­de­te Iraker*innen, dar­un­ter auch Men­schen mit einer Aus­bil­dungs­dul­dung oder mit Dul­dung aus ande­ren recht­li­chen oder huma­ni­tä­ren Grün­den, die nicht abge­scho­ben wer­den können.

In Bay­ern beob­ach­ten wir bereits, dass in einem Hau­ruck-Ver­fah­ren und ohne aus­rei­chen­de Prü­fung des Ein­zel­falls, Abschie­bun­gen vor­be­rei­tet wer­den, in dem die Arbeits­er­laub­nis oder Dul­dung von Iraker*innen nicht ver­län­gert wird. Rei­sen Betrof­fe­ne nicht frei­wil­lig aus, lau­fen sie Gefahr, in Abschie­be­haft zu kom­men. Gibt es kei­nen ande­ren Grund mehr für die Ertei­lung einer Dul­dung, ist die Abschie­bung mög­lich, sobald ein Pass oder Pass­ersatz­do­ku­ment vor­liegt. Aus ande­ren Bun­des­län­dern haben wir nur ver­ein­zel­te Mel­dun­gen bekom­men. So sind etwa Ein­zel­fäl­le aus Hes­sen und Nord­rhein-West­fa­len bekannt, in denen Abschie­bun­gen vor­be­rei­tet wur­den. Bis­her sind uns erst weni­ge Ein­zel­fäl­le bekannt, in denen die Abschie­bung tat­säch­lich voll­zo­gen wur­de. In vie­len Fäl­len konn­te die Abschie­bung in letz­ter Sekun­de ver­hin­dert wer­den. Ange­sichts der Dyna­mik bei der Aus­stel­lung von Pass­ersatz­pa­pie­ren besteht jedoch Grund zur Sor­ge, dass die Abschie­bungs­zah­len noch in die­sem Jahr mas­siv stei­gen wer­den. Im aktu­ell von rechts getrie­be­nen Dis­kurs über Flucht und Migra­ti­on sind die gedul­de­ten Iraker*innen zum Spiel­ball geworden.

Im aktu­ell von rechts getrie­be­nen Dis­kurs über Flucht und Migra­ti­on sind die gedul­de­ten Iraker*innen zum Spiel­ball geworden.

Aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden

Iraker*innen soll­ten sich direkt nach der Ein­rei­se sorg­fäl­tig und am bes­ten per­sön­lich bei einer Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung auf die Anhö­rung im Asyl­ver­fah­ren vor­be­rei­ten. Auch nach einem erfolg­lo­sen Asyl­ver­fah­ren gibt es Mög­lich­kei­ten der Auf­ent­halts­si­che­rung, wenn bestimm­te Vor­auf­ent­halts­zei­ten und wei­te­re Vor­aus­set­zun­gen erfüllt sind. Zusam­men mit einer Bera­tungs­stel­le vor Ort oder spe­zia­li­sier­ten Anwält*innen kön­nen Betrof­fe­ne prü­fen, ob sie ihren Auf­ent­halt absi­chern kön­nen, bei­spiels­wei­se über das Chan­cen­auf­ent­halts­recht, die Aus­bil­dungs- und Beschäf­ti­gungs­dul­dung oder die Auf­ent­halts­er­laub­nis für gut inte­grier­te Jugend­li­che bzw. Erwach­se­ne. Hier kann auch die Mög­lich­keit eines Peti­ti­ons- oder Här­te­fall­an­trags oder – bei neu­en Flucht­grün­den – auch eines Fol­ge­an­trags geprüft werden.

Damit der Ein­zel­fall nicht unter die Räder gerät, ist es drin­gend erfor­der­lich, dass die zustän­di­gen Behör­den Abschie­be­hin­der­nis­se recht­zei­tig und gewis­sen­haft prü­fen und die auf­ent­halts­recht­li­chen Mög­lich­kei­ten bis zuletzt ausschöpfen.

Die aktuelle Rückkehrsituation im Irak

Für die Betrof­fe­nen bedeu­tet eine Abschie­bung die Rück­kehr in eine seit Jah­ren insta­bi­le und ange­spann­te Sicher­heits­la­ge. Erst vor kur­zem hat die Bun­des­re­gie­rung mit die­ser Begrün­dung die Ver­län­ge­rung des Bun­des­wehr­ein­sat­zes zur Bekämp­fung des soge­nann­ten Isla­mi­schen Staat (IS) und zur Sta­bi­li­sie­rung beschlos­sen (Mel­dung zum Geset­zes­vor­ha­ben, 13.09.23). Im Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes heißt es, dass staat­li­che Stel­len nach wie vor »für zahl­rei­che Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen ver­ant­wort­lich« sind (Lage­be­richt Irak Okto­ber 2022, zitiert von der Tages­schau). Im Jus­tiz­sys­tem sind Ver­stö­ße gegen Men­schen­rech­te weit ver­brei­tet: Es gibt Fol­ter zur Erzwin­gung von Geständ­nis­sen und will­kür­li­che Fest­nah­men. Sowohl ter­ro­ris­ti­sche Anschlä­ge als auch Ent­füh­run­gen sind an der Tagesordnung.

Zu die­ser pre­kä­ren Sicher­heits­la­ge kommt die Kli­ma­kri­se, die den Irak beson­ders hart trifft:

»Die Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels, dar­un­ter Dür­re­pe­ri­oden, Hit­ze­wel­len und Sand­stür­me, beein­träch­tig­ten 2022 das Leben von Mil­lio­nen Men­schen im Irak. Die Inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on berich­te­te, dass sich bis Sep­tem­ber mehr als 10.000 Fami­li­en in zehn Pro­vin­zen auf­grund von Dür­re, Boden­ver­schlech­te­rung und erhöh­tem Salz­ge­halt in Flüs­sen gezwun­gen sahen, ihre Hei­mat­or­te zu ver­las­sen« (Amnes­ty Inter­na­tio­nal Report 2022/23).

Die Was­ser­ver­sor­gung ist äußerst pre­kär, nur die Hälf­te der Bevöl­ke­rung hat Zugang zu sau­be­rem Was­ser. Das ver­gan­ge­ne Jahr war das tro­ckens­te Jahr seit 1930. Die Dür­ren füh­ren auch zu Ern­te­aus­fäl­len und erschwe­ren die Ver­sor­gungs­si­tua­ti­on ins­ge­samt. Rund 25 Pro­zent der Iraker*innen leben unter der Armuts­gren­ze. Auch die medi­zi­ni­sche Grund­ver­sor­gung kann nicht gewähr­leis­tet wer­den und die Medi­ka­men­ten­vor­rä­te sind knapp (Rei­se- und Sicher­heits­hin­wei­se des AA). Auch Kor­rup­ti­on ist im Irak weit ver­brei­tet (Rang 157 von 180 Staaten).

Die­se all­ge­mei­ne Lage betrifft alle Iraker*innen. Eini­ge Grup­pen sind bei einer Rück­kehr in den Irak einer beson­ders schwe­ren Exis­tenz- und Bedro­hungs­la­ge vor Ort aus­ge­setzt: Wer sich an Pro­tes­ten betei­ligt erfährt häu­fig Gewalt, erhält Todes­dro­hun­gen oder ver­schwin­det plötz­lich. Die­se Men­schen wer­den von Mili­zen­grup­pen bedroht und durch den Staat nicht geschützt. Die Pres­se­frei­heit hat sich in den letz­ten Jah­ren ste­tig wei­ter ver­schlech­tert (Irak nimmt im Ran­king den 172. Platz von ins­ge­samt 180 Län­dern ein).

Zudem erhal­ten Frau­en und Mäd­chen kei­nen wirk­sa­men Schutz vor geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt. Fast jedes vier­te Mäd­chen wird min­der­jäh­rig ver­hei­ra­tet und auch soge­nann­te Ehren­mor­de haben laut Amnes­ty im ver­gan­ge­nen Jahr zuge­nom­men (Amnes­ty Inter­na­tio­nal Report 2022/23).

LGBTIQ-Men­schen sind Dis­kri­mi­nie­rung und Aus­gren­zung aus­ge­setzt. Im gan­zen Land kommt es zu Über­grif­fen und der Staat bie­tet kei­nen Schutz (VG Leip­zig, Urteil vom 10.01.2023 – 8 K 575/22.A). Ganz im Gegen­teil nimmt die Dis­kri­mi­nie­rung auch Ein­zug in die Gesetz­ge­bung und Homo­se­xua­li­tät soll kri­mi­na­li­siert wer­den (Amnes­ty Inter­na­tio­nal Report 2022/23).

Der Völ­ker­mord des IS an den Jesid*innen wur­de im Janu­ar 2023 vom Bun­des­tag als Geno­zid aner­kannt (Ple­nar­pro­to­koll vom 19.01.2023). Es ver­steht sich von selbst, dass Mit­glie­der die­ser eth­ni­schen Grup­pe, die einen Völ­ker­mord über­lebt hat, von Deutsch­land nicht ins Täter­land abge­scho­ben wer­den dürfen.

Abschiebepolitik ist verantwortungslos

Ange­sichts der kri­sen­haf­ten Lage im Irak ist es höchst besorg­nis­er­re­gend, dass dem Abschie­bungs­druck nach­ge­ge­ben wur­de, ohne die Rück­kehr­si­tua­ti­on zu berück­sich­ti­gen und eine erneu­te Lage­be­trach­tung vor­zu­neh­men. Eini­ge Bun­des­län­der, beson­ders Bay­ern, haben ohne poli­ti­sche Debat­te ange­fan­gen abzu­schie­ben – ein­fach weil es durch die Pass­ersatz­pa­pie­re mög­lich gewor­den ist.

Auf­grund der kom­ple­xen, men­schen­recht­lich schwie­ri­gen und huma­ni­tär besorg­nis­er­re­gen­den Lage im Irak, die sich durch die Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels wei­ter ver­schär­fen wird, hält PRO ASYL es für ver­ant­wor­tungs­los, Abschie­bun­gen in den Irak zu for­cie­ren. Diver­se men­schen­recht­li­che Grün­de spre­chen gegen Abschie­bun­gen in den Irak und es besteht die Gefahr, dass der Ein­zel­fall auf der Stre­cke bleibt.

(sch, jb)