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Bürokratiemonster ohne humanitäre Flexibilität: Zur Reform der Dublin-Verordnung
Reform des Dublin-Systems: PRO ASYL analysiert die Vorschläge des EU-Parlaments
Bereits im Mai 2016 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für die Neuregelung des Dublin-Systems gemacht. Damit eine neue Dublin-IV-Verordnung in Kraft treten kann, müssen sich sowohl das EU-Parlament als auch der Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten der EU vertreten sind, auf die Ausgestaltung einer solchen Regelung verständigen. Ob es überhaupt zu einer Einigung kommen wird, ist noch unklar, da sich die europäischen Regierungen bislang auf keine gemeinsame Linie verständigen konnten. Manche Mitgliedstaaten, wie etwa Ungarn, lehnen eine Aufnahme von Asylsuchenden in ihrem Land generell ab.
Das Europäische Parlament hat dementgegen seit dieser Woche eine eigenständige Verhandlungsposition für eine künftige Dublin-IV-Verordnung. Der entsprechende Bericht des LIBE-Ausschusses passierte ohne Widerspruch das Plenum des Parlaments. PRO ASYL sieht die Vorstöße des EU-Parlaments – trotz der erkennbaren Bemühungen um Rechtstaatlichkeit – in zentralen Punkten als realitätsfremd an. Die Einführung eines Verteilungsschlüssels würde aus dem Dublin-System ein allumfassendes Bürokratiemonster machen. Kritisch zu bewerten ist zudem, dass das Parlament nur in Teilen der rechtstaats- und menschenrechtswidrigen Vorstöße der Kommission entgegen tritt. Positiv ist dagegen, dass der effektive Rechtsschutz erhalten bleiben soll. Auf der anderen Seite stellt sich das Parlament nicht dem Ansinnen entgegen, dass die einmal festgestellte Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für alle Ewigkeit erhalten bleiben soll, auch wenn sich der Asylbewerber dort nie aufgehalten hat. Damit werden Tür und Tor für das Phänomen der »refugees in orbit« geöffnet, d.h. Schutzsuchende würden in dem Staat, in dem sie sich aufhalten, keinen Zugang zum Asylverfahren mehr erhalten.
Nachfolgend wird die Parlaments-Position in ihren Grundzügen dargestellt, um anschließend die praktischen Konsequenzen zu analysieren.
Grundzüge des Parlaments-Entwurfs
Das EU-Parlament schlägt eine grundlegende Veränderung der Zuständigkeitsbestimmung für die Asylverfahren in der EU vor. Zu Beginn des Verfahrens sollen alle Asylbewerber ein Sicherheits-Screening im Ersteinreisestaat durchlaufen. Zugleich soll eine Einschätzung vorgenommen werden, ob der Asylantrag dem ersten Anschein nach (prima facie) Aussicht auf Erfolg hat (Art. 9). Wenn dies nicht der Fall ist, soll der Asylbewerber nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden, sondern sein Asylverfahren im Erstaufnahmestaat erhalten.
Statt des bisherigen Systems will das EU-Parlament einen Verteilungsschlüssel zur Anwendung bringen (Art. 15). Hat ein neu eingereister Asylbewerber bereits Familienangehörige in einem Mitgliedstaat, kommt der Verteilungsmechanismus nicht zur Anwendung. Dies gilt auch, wenn der Asylsuchende einen Bildungsabschluss aus einem bestimmten Mitgliedstaat hat – dann wird er dorthin umverteilt. Darüber hinaus soll bei bestimmten Anknüpfungspunkten eines Asylbewerbers zu einem Staat – wie das Vorhandensein von entfernteren Verwandten, kulturelle oder soziale Bezüge oder Sprachkenntnisse – die Möglichkeit bestehen, dass ein Mitgliedstaat auf freiwilliger Basis die Zuständigkeit übernimmt. Die einseitige Inanspruchnahme der EU-Staaten an den Außengrenzen will das EU-Parlament vermeiden, indem das Zuständigkeitskriterium der »illegalen Einreise« abgeschafft werden soll.
Bei der Anwendung des Verteilungsschlüssels ist Folgendes vorgesehen: Die neu einreisenden Asylbewerber sollen sich unter vier Mitgliedstaaten aussuchen können, wohin sie umverteilt werden sollen. Dabei sollen immer die vier Staaten herangezogen werden, die bislang proportional am wenigsten Asylbewerber aufgenommen haben (Art. 36 III). Asylbewerber, die eigenmächtig in einen zweiten Mitgliedstaat weitergewandert sind, sollen keine Wahlmöglichkeit haben. Sie müssen in den Mitgliedstaat, der bislang proportional am wenigsten Flüchtlinge aufgenommen hat (Art. 15 II/Art. 24c).
Dagegen will das EU-Parlament eine Weiterwanderung nicht durch den Entzug der Sozialleistungen sanktionieren – dies hatte die Kommission vorgeschlagen. Die schärfste Sanktion der Sekundärmigration im Konzept des EU-Parlaments liegt darin, dass es keine Korrektur von Zuständigkeiten durch Verfristung mehr geben soll. Bislang geht die Zuständigkeit auf den Aufenthaltsstaat über, wenn er die Überstellungsfrist von sechs Monaten nicht beachtet.
Zu den praktischen Auswirkungen des Vorschlags
Wenn die Ersteinreisestaaten für die Prüfung der Chancen im Asylverfahren zuständig sein sollen, bevor es zu einer Weiterleitung der Asylbewerber kommt, wird dies zu einer Nadelöhr-Situation an den Außengrenzen führen. Denn um die Asylgründe einschätzen zu können – und sei es auch nur prima facie – muss eine Anhörung eines jeden einzelnen Asylbewerbers stattfinden. Eine schnelle Umverteilung ist damit ausgeschlossen. Die Folge wird sein, dass es zu einer Internierung aller eingereisten Asylbewerber kommen wird. Die katastrophalen Zustände in den Hotspots wie aktuell in Griechenland würden fortgesetzt.
Positiv ist, dass Familienangehörige innerhalb der EU zusammengeführt werden sollen.
Die Installation eines Verteilungsschlüssels in der beschriebenen Form dürfte einen enormen bürokratischen Aufwand bedeuten. Insbesondere wenn der Zuständigkeitswechsel durch Ablauf der Überstellungsfrist abgeschafft werden soll, wird es keine flexiblen Lösungen für eine zeitnahe Klärung von Zuständigkeiten geben. Das System setzt darauf, dass jede Verteilungsentscheidung vollzogen wird. Dies bedeutet im Zweifel die Zunahme der Inhaftierung von Asylsuchenden und von begleiteten Abschiebungen.
Wenn sich der Asylbewerber nicht in den Mitgliedstaat begibt, dem er zugewiesen wurde, bleibt es für immer bei der einmal getroffenen Zuständigkeit. Denn anders als im bisherigen Dublin-System soll es keine zeitliche Begrenzung für das Dublin-Verfahren geben. Wenn bei unterbleibender Überstellung dennoch kein Zuständigkeitswechsel mehr erfolgt, führt dies dazu, dass der Aufenthaltsstaat sich nicht beeilen muss, für eine Überstellung in den zuständigen Staat zu sorgen. Dessen Zuständigkeit unterliegt einer Ewigkeitsgarantie. Auch nach Jahren können also die Betroffenen in den zuständigen Staat abgeschoben werden. Im Klartext heißt dies: Die Sanktion von Sekundärmigration heißt im Zweifel der Ausschluss vom Asylverfahren. Da die Interessen der Asylbewerber nur für wenige Fallgruppen berücksichtigt werden, ist damit zu rechnen, dass sich viele Asylbewerber nicht in dem für sie zuständigen Mitgliedstaat aufhalten werden – die Folge: »refugees in orbit« als Massenphänomen, da die Betroffenen im unzuständigen Staat keinen Zugang zum Asylverfahren erhalten.
Das EU-Parlament will eine ganze Reihe von Angriffen auf den Rechtstaat, die der Vorstoß der Kommission enthält, abwehren. Die Einschränkung des Rechtsschutzes sowie von Verfahrensgarantien macht das Parlament nicht mit. Positiv ist auch, dass das Selbsteintrittsrecht erhalten bleiben soll. Allerdings birgt das Konzept des Parlaments die Gefahr, dass es völlig an den praktischen Realitäten vorbei konstruiert ist: Um es umzusetzen braucht es gigantische bürokratische Ressourcen. Das Festhalten an den ursprünglichen Zuständigkeiten um jeden Preis wird zu einem Massenphänomen »refugees in orbit« führen.
Zum Bericht des LIBE Ausschuss des Parlaments, der diese Woche vom Plenum akzeptiert wurde.
mp