News
Bedroht, verdrängt, misshandelt: »Die Taliban verweigern uns Frauen alle Menschenrechte«
Zum Internationalen Frauentag (8. März) fordern Frauen in der ganzen Welt Gleichberechtigung, politische Mitbestimmung und ein Leben ohne Gewalt. Auch die Frauen in Afghanistan. Doch sie erleiden das Gegenteil: In einem massiven Rollback drehen die Taliban das Rad der Geschichte zurück, entrechten, unterdrücken und misshandeln die Frauen.
Seit Monaten drängen die Taliban afghanische Frauen aus dem öffentlichen, sozialen und politischen Leben. Und sie bedrohen, verhaften, misshandeln und töten die Frauen, die sich zuvor für Frauen- und Menschenrechte engagiert hatten.
Dazu gehören auch 34 Frauen der Gruppe »United Voice of Women for Peace«, die sich in diesen Tagen mit dem eindringlichen Appell »Holt uns hier raus!« an die deutsche Bundesregierung gewandt haben.
»Taliban sehen eine Frau nur als Sexsklavin«
»Seit dem Zusammenbruch von Afghanistan und der Machtergreifung der Taliban lebe ich in Angst und Verzweiflung, so wie tausende afghanische Bürgerinnen und Bürger«, schreibt eine der Frauen und fährt fort: »Weil ich eine Frau bin, darf ich in Afghanistan nicht mehr arbeiten, nicht mehr in der Öffentlichkeit auftreten, nicht mehr reisen – die Taliban verweigern uns Frauen alle Menschenrechte. Die Taliban sehen eine Frau nur als Sexsklavin, die die Pflicht hat, die sexuellen Bedürfnisse eines Mannes zu befriedigen.«
Die Sorgen und Ängste sind berechtigt. Das zeigt ein Blick auf die erschreckenden Nachrichten in den vergangenen Wochen und Monaten aus allen Teilen des Landes. Ein paar Beispiele:
Mitte Februar 2022 wurde eine bekannte Gruppe von Frauenrechtler*innen aus einem Safehouse heraus von Taliban-Kämpfern verschleppt, inhaftiert und misshandelt. Inzwischen kursieren Videos, in denen die festgenommenen Frauen in eindeutig erzwungenen Statements zum Beispiel sagen, dass sie bei ihren Demonstrationen für die Rechte der Frauen aus dem Ausland gelenkt wurden.
»Weil ich eine Frau bin, darf ich in Afghanistan nicht mehr arbeiten, nicht mehr in der Öffentlichkeit auftreten, nicht mehr reisen
– die Taliban verweigern uns Frauen alle Menschenrechte.«
Proteste gewaltsam auseinandergetrieben
Alia Azizi, ehemalige Leiterin des Frauengefängnisses von Herat, ist seit Oktober 2022 verschwunden. Trotz mehrerer Bitten ihrer Familie an die Taliban, den Fall zu untersuchen, werden die Umstände ihres Verschwindens und ihr Aufenthaltsort noch immer geheim gehalten. Proteste von Frauen, die die Freilassung von Alia Azizi forderten, wurden im Januar brutal mit Elektroschockern und Pfefferspray auseinandergetrieben.
In der nordafghanischen Stadt Masar-i-Sharif sind im November 2021 vier Frauen getötet worden, unter ihnen eine Frauen- und Bürgerrechtsaktivistin. Nach deutschen Zeitungsberichten wollten die Frauen das Land verlassen und wurden möglicherweise in eine Falle gelockt.
Eine ehemalige Polizistin soll in der zentralafghanischen Provinz Ghor von den Taliban vor den Augen ihrer Familie getötet worden sein. Sie sei schwanger gewesen, heißt es in Presseberichten aus dem September 2021.
Am 13. Januar wurde eine junge Frau aus der Volksgruppe der Hazara an einem Checkpoint in Kabul erschossen, als sie von einer Hochzeit nach Hause in das Stadtviertel Dascht‑e Barchi zurückkehren wollte, in dem überwiegend Hazara leben.
Angriffe, akute Bedrohungen und Morde an Aktivist*innen mehren sich
Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 verschlechtert sich die politische Situation in Afghanistan rapide: Direkt nach der Machtübernahme durch die Taliban demonstrierten Afghan*innen mutig für ihre Rechte, sie gingen auf die Straße und forderten Brot, Arbeit und Freiheit. Aber inzwischen wurden sie festgenommen, gefoltert, gedemütigt und ermordet.
Angriffe, akute Bedrohungen und Morde an Aktivist*innen mehren sich. Schon Ende November hatte es Berichte gegeben, wonach mehr als 100 ehemalige afghanische Sicherheitskräfte, andere Militärangehörige, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter nach Angaben der Vereinten Nationen seit der Machtübernahme der Taliban getötet worden waren. In mindestens 72 Fällen seien die Taten von der radikalislamistischen Gruppe verübt worden, sagte die stellvertretende Hochkommissarin für Menschenrechte, Nada Al-Nashif, in Genf.
»Auf dem Höhepunkt von Angst
und Verzweiflung mussten wir schließlich fliehen.«
Frauen wurden aus allen politischen und juristischen Posten gedrängt
Frauen wurden aus allen politischen und juristischen Posten gedrängt, in der De-facto-Taliban-Regierung gibt es keine einzige Frau. Ehemalige Politikerinnen und Juristinnen sind besonders gefährdet.
»Die Taliban bedrohten uns und suchten auf alle möglichen Weisen nach uns, wir konnten unser Haus in unserer Provinz nicht mehr verlassen, waren dort eingesperrt und bedroht. Auf dem Höhepunkt von Angst und Verzweiflung mussten wir schließlich fliehen. Nun lebe ich ohne Zukunft und ohne Hoffnung in Pakistan unter erbärmlichen Bedingungen«, schreibt eine Frau aus der Gruppe »United Voice of Women for Peace« Ende Februar 2022.
Frauen dürfen sich kaum eigenständig auf den Straßen bewegen
Das bisherige Frauenministerium wurde abgeschafft, stattdessen schufen die Taliban das »Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters«. Dieses Ministerium ist für die frauenfeindlichen Bestimmungen zuständig. Auch dafür, dass das alltägliche Leben aller Frauen in Afghanistan seit Monaten immer weiter eingeschränkt wird.
So dürfen Frauen sich kaum noch eigenständig auf den Straßen bewegen und auch öffentliche Verkehrsmittel nicht allein nutzen. Sie dürfen nur noch in bestimmten Bereichen, zum Beispiel im medizinischen, außerhalb des Hauses arbeiten – und dann von Männern getrennt. In manchen Fällen dürfen sie nur mit einem männlichen Verwandten (mahram) zur Arbeit kommen. Zudem gibt es diverse Kleidungsvorschriften, zum Beispiel für den Besuch von Behörden und Ministerien.
Mädchen dürfen nur noch bis zur 7. Klasse die Schule besuchen. Studentinnen dürfen die Universitäten nur noch betreten, wenn sie einen Hidschab tragen, zudem werden Frauen und Männer getrennt unterrichtet.
Es gab eine moderne Verfassung
All das passiert in krassem Gegensatz zu dem, was sich seit 2004 in Afghanistan entwickelt hatte. Vor der Machtübernahme durch den Taliban schufen die afghanische Regierung und die Zivilgesellschaft mit internationaler Unterstützung eine moderne Verfassung, die Ende 2004 verabschiedet wurde. Sie beinhaltete im zweiten Kapitel alle bürgerlichen und politischen Rechte. Artikel 22 garantierte die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Mit der Umsetzung der Verfassung wurden staatliche, juristische und menschenrechtliche Institutionen betraut wie etwa die neu gegründete »Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC)«.
Zudem gründete der afghanische Staat eine eigene Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Sie konnte unter anderem auf das Gesetz gegen die Diskriminierung von Frauen zurückgreifen, das zum Beispiel sogenannte Ehrenmorde unter Strafe stellte. Zudem gingen die Juristinnen vor gegen grausame Strafen gegen Frauen, die die Taliban und andere Extremisten ausübten: Dazu gehörte, dass Frauen verprügelt, zu Tode gesteinigt oder verbrannt wurden.
Männer rächen sich an Richterinnen
Und tatsächlich klagten Staatsanwältinnen Tausende Männer wegen Vergewaltigung, Mord, Folter, Entführung und anderer Verbrechen an Frauen an. Richterinnen und Richter verurteilten die Männer und sperrten sie ein. Unter den Verurteilten waren auch Terroristen des sogenannten Islamischen Staates. Doch nach der Machtübernahme öffneten die Taliban sofort die Türen der Gefängnisse, Staatsanwältinnen und Richterinnen erhielten Morddrohungen.
Eine Richterin berichtete dem ARD-Studio Neu-Delhi an einem geheimen Ort: »Als die Taliban am 15. August 2021 die Macht in Afghanistan übernahmen, ließen sie alle Gefangenen ohne jegliche Auflagen frei. Ich habe viele Kriminelle wegen Verbrechen an Frauen verurteilt und sie ins Gefängnis gebracht. Jetzt versuchen diese Männer, sich zu rächen und uns ausfindig zu machen. Sie kamen zu mir nach Hause und brachten ein Schreiben der Polizei mit. In dem wurde die Herausgabe von Gerichtsakten verlangt.« Sie musste fliehen und sich verstecken.
Verfassung: Zustimmung und Widerstand
Ein großer Teil der Zivilgesellschaft, besonders in den Städten, stand hinter dieser Verfassung und den damit einhergehenden Freiheitsrechten. Doch sie stieß auch von Anfang an auf den Widerstand von Gegner*innen der Demokratisierung wie Warlords und Taliban, so dass Frauenrechtler*innen schon damals Drohungen und Gewalt erlebten – aber dennoch ihre Arbeit fortsetzten.
Tatsächlich sei sie auch zur Zeit der Republik Afghanistan bedroht worden, nicht nur in der Provinz, schreibt die Frau: „Auch in der Hauptstadt wurde ich immer wieder bedroht, aber wegen der damaligen Ordnung und Verfassung konnten extremistische Gruppen ihre Drohungen gegen mich nicht umsetzen und mich nicht ermorden.«
»United Voice of Women for Peace« in Gefahr
In großer Gefahr befinden sich sie und die anderen Mitglieder der Gruppe »United Voice of Women for Peace« , die im Jahre 2019, nach der Gründung des afghanischen Friedensministeriums, ins Leben gerufen wurde. Sie waren in allen 34 Provinzen Afghanistans, im Friedensministerium und im Raum Kabul aktiv und sind daher landesweit bekannt. Ihre Aufgabe für das Friedensministerium bestand darin, das für die Friedensverhandlungen zuständige Team der afghanischen Regierung zu beraten und mit Konzepten der Friedensstrategie zu unterstützen. Ebenso waren die Mitglieder der Gruppe sowohl bei den Friedensaktivitäten in ihren eigenen Provinzen, als auch in Regierungsstellen ihrer jeweiligen Provinzen aktiv. Unter den Mitgliedern der Gruppe sind auch Leiter*innen verschiedener NGOs und aktive Mitarbeiter*innen des Friedensministeriums.
Nach der Machübernahme durch die Taliban mussten sämtliche Mitglieder der Gruppe ihre jeweiligen Provinzen verlassen und nach Kabul fliehen. Auch dort sind sie einem unerträglichen Verfolgungsdruck durch die Taliban ausgesetzt, von denen sie fortwährend Drohungen in Form von SMS-Nachrichten und Briefen erhalten.
(wr/aa)