02.10.2023
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Foto: Jonas Bickmann / PRO ASYL

Über zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban harren immer noch zahlreiche Ortskräfte in Afghanistan aus, stets in Sorge, dass von den Taliban an ihnen und ihren Familien Rache verübt wird. Klagen mehrerer GIZ-Ortskräfte vor dem Verwaltungsgericht Berlin ziehen sich aufgrund mangelnder Mitwirkung der Bundesregierung am Verfahren in die Länge.

Vor der erneu­ten Macht­über­nah­me der Tali­ban unter­hielt die halb­staat­li­che Gesell­schaft für Inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit (GIZ) gemein­sam mit dem dama­li­gen afgha­ni­schen Innen­mi­nis­te­ri­um ein Pro­jekt zur Aus­bil­dung afgha­ni­scher Polizeianwärter*innen namens Poli­ce Coope­ra­ti­on Pro­ject (PCP). Des­sen Lehr­per­so­nal, bestehend aus ca. 3.000 Per­so­nen, war damit beauf­tragt, die ange­hen­den Polizist*innen so weit wie nötig zu alpha­be­ti­sie­ren und ihnen lesen und schrei­ben bei­zu­brin­gen. Außer­dem stand die Unter­rich­tung in Men­schen­rechts­fra­gen auf dem Lehrplan.

Große Versprechen der Politik für afghanische Ortskräfte

Nach­dem die Tali­ban die Kon­trol­le über das Land errun­gen hat­ten, ver­sprach die dama­li­ge Bun­des­re­gie­rung, Orts­kräf­te, die für deut­sche Behör­den und Orga­ni­sa­tio­nen tätig waren, in Sicher­heit zu brin­gen und in Deutsch­land auf­zu­neh­men. Dafür wur­de – gestützt auf § 22 Satz 2 des Auf­ent­halts­ge­set­zes – ein Orts­kräf­te­ver­fah­ren instal­liert, mit dem das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um die Auf­nah­me der Orts­kräf­te »zur Wah­rung poli­ti­scher Inter­es­sen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land« erklä­ren kann.

»Wir wer­den unse­re Ver­bün­de­ten nicht zurück­las­sen. Wir wol­len die­je­ni­gen beson­ders schüt­zen, die der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land im Aus­land als Part­ner zur Sei­te standen.«

(Lee­res) Ver­spre­chen im Koalitionsvertrag

Der dama­li­ge Außen­mi­nis­ter Hei­ko Maas ver­sprach: »Unse­re Arbeit geht so lan­ge wei­ter, bis alle in Sicher­heit sind, für die wir in Afgha­ni­stan Ver­ant­wor­tung tra­gen« und auch die ehe­ma­li­ge Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rin Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er ver­si­cher­te, sie wer­de »alles dar­an­set­zen«, die Orts­kräf­te aus Afgha­ni­stan her­aus­zu­ho­len. Die jet­zi­ge Bun­des­re­gie­rung bekräf­ti­ge die­se Ver­spre­chen. So heißt es im Koali­ti­ons­ver­trag:

»Wir wer­den unse­re Ver­bün­de­ten nicht zurück­las­sen. Wir wol­len die­je­ni­gen beson­ders schüt­zen, die der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land im Aus­land als Part­ner zur Sei­te stan­den und sich für Demo­kra­tie und gesell­schaft­li­che Wei­ter­ent­wick­lung ein­ge­setzt haben. Des­we­gen wer­den wir das Orts­kräf­te­ver­fah­ren so refor­mie­ren, dass gefähr­de­te Orts­kräf­te und ihre engs­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen durch unbü­ro­kra­ti­sche Ver­fah­ren in Sicher­heit kom­men«.

Auch zahl­rei­che PCP-Lehr­kräf­te zeig­ten in Fol­ge des Orts­kräf­te­pro­gramms und im Ver­trau­en auf die Ver­spre­chun­gen der dama­li­gen und heu­ti­gen Bun­des­re­gie­rung ihre Gefähr­dung gegen­über der GIZ an. Doch ihre Anträ­ge wur­den vom Aus­wär­ti­gen Amt samt und son­ders abge­lehnt, nach­dem das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um die not­wen­di­ge Erklä­rung einer Auf­nah­me­zu­sa­ge ver­wei­gert hat.

Aufnahme kommt auf Art des Vertrags an

Die lapi­da­re Begrün­dung: Die PCP-Lehr­kräf­te waren nicht auf der Basis von Arbeits­ver­trä­gen, son­dern auf der Grund­la­ge von Werk­ver­trä­gen für die GIZ tätig und sei­en damit nicht in glei­chem Maße gefähr­det, wie Arbeitnehmer*innen. Bei der Ein­füh­rung des Orts­kräf­te­ver­fah­rens haben die Res­sorts ver­ein­bart, dass nur in beson­ders begrün­de­ten Aus­nah­me­fäl­len eine Auf­nah­me von Per­so­nal mit Werk­ver­trag erfol­gen kann. Etwa, wenn die indi­vi­du­el­le Gefähr­dung expli­zit auf das Ver­trags­ver­hält­nis mit der deut­schen Orga­ni­sa­ti­on oder Behör­de zurück­zu­füh­ren ist. Dies sei bei den PCP-Orts­kräf­ten aller­dings nicht der Fall.

PRO ASYL unterstützt Klage gegen Deutschland

Eini­ge der Betrof­fe­nen und ihre Ange­hö­ri­gen erho­ben beim Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin und mit Hil­fe von Rechts­an­wäl­tin Susan­ne Gies­ler und Rechts­an­walt Mat­thi­as Leh­nert unter finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung durch PRO ASYL Kla­ge gegen die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Zu drei der von Mat­thi­as Leh­nert geführ­ten Ver­fah­ren fan­den am 15. Sep­tem­ber 2023 münd­li­che Ver­hand­lun­gen vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin statt.

Zur Begrün­dung der Kla­gen stell­te der auf Migra­ti­ons­recht spe­zia­li­sier­te Rechts­an­walt dar­auf ab, dass die Bun­des­re­gie­rung eine Schutz­pflicht für all jene tref­fe, die in ihrem Auf­trag tätig waren – unab­hän­gig von der kon­kre­ten ver­trag­li­chen Grund­la­ge. Die Bun­des­re­gie­rung kön­ne sich mit­hin nicht auf den Stand­punkt zurück­zie­hen, dass sie nur jenen gegen­über zum Schutz ver­pflich­tet sei, die in einem Arbeits­ver­hält­nis zu einer deut­schen Behör­de oder Orga­ni­sa­ti­on standen.

Zudem sei­en gera­de die Mitarbeiter*innen des Poli­zei­pro­jek­tes beson­ders gefähr­det, da sie im Sicher­heits­sek­tor tätig, im Rah­men ihrer Tätig­keit mit zahl­rei­chen Men­schen in Kon­takt und über­dies mit der Ver­mitt­lung von Men­schen­rech­ten betraut waren – wel­che die Tali­ban mit Ver­west­li­chung in Ver­bin­dung bräch­ten. Die Tali­ban hät­ten die PCP-Mitarbeiter*innen damit beson­ders im Visier und wür­den ihrer­seits dabei selbst­re­dend nicht zwi­schen ver­schie­de­nen Ver­trags­for­men unterscheiden.

Die Tali­ban unter­schei­den nicht nach Vertragsformen!

Die Rechts­auf­fas­sung einer sei­tens der Bun­des­re­gie­rung gegen­über den afgha­ni­schen Orts­kräf­ten bestehen­den Schutz­pflicht, die sich aus Arti­kel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grund­ge­set­zes (»Jeder hat das Recht auf kör­per­li­che Unver­sehrt­heit«), aber auch aus der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on sowie aus dem Inter­na­tio­na­len Pakt über bür­ger­li­che Rech­te und Pflich­ten ergibt, wird auch von ande­ren Jurist*innen geteilt. Bei­spiels­wei­se in einem Bei­trag des Juris­ten Gabri­el Noll im Ver­fas­sungs­blog, einer Expert Opi­ni­on der Human Rights Cli­nic der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen Nürn­berg, die in Koope­ra­ti­on mit PRO ASYL ent­stan­den ist oder in einer juris­ti­schen Ana­ly­se des Deut­schen Insti­tuts für Men­schen­rech­te. Auch dass die­se grund- und men­schen­recht­li­che Schutz­pflicht unab­hän­gig von der ver­trag­li­chen Grund­la­ge der Zusam­men­ar­beit mit deut­schen Behör­den und Orga­ni­sa­tio­nen gilt, wird in der letzt­ge­nann­ten Ana­ly­se deut­lich betont:

»Die Tali­ban wer­den auch nicht danach unter­schei­den, ob eine sol­che Tätig­keit im Innen­ver­hält­nis auf der Grund­la­ge eines unmit­tel­ba­ren Anstel­lungs­ver­hält­nis­ses, eines Werk­ver­tra­ges oder auf Grund­la­ge eines Sub­un­ter­neh­mer­ver­tra­ges erfolg­te. Eine sol­che Unter­schei­dung wäre daher mit Blick auf die beson­de­re Gefähr­dung und den damit ein­her­ge­hen­den grund- und men­schen­rechts­re­le­van­ten Schutz­be­darf der Men­schen, um den es vor­lie­gend geht, nicht sach­ge­recht«.

Die Gefahr ist konkret: Einer der Kläger wurde inhaftiert und verprügelt

Bei einem der von Rechts­an­walt Leh­nert ver­tre­te­nen PCP-Mit­ar­bei­tern hat sich die Gefähr­dung bereits in furcht­ba­rer Wei­se rea­li­siert: In den letz­ten Mona­ten fan­den bei ihm – der sich an einem ande­ren Ort vor den Tali­ban ver­steckt hielt – immer wie­der Durch­su­chun­gen sei­nes alten Hau­ses statt. Die Tali­ban bezeich­ne­ten ihn dabei als Spi­on der Deut­schen. Der Klä­ger wur­de schließ­lich doch von den Tali­ban fest­ge­nom­men, für etwa drei Wochen in Haft gehal­ten und immer wie­der mit einem Schlag­stock ver­prü­gelt. Nach Zah­lung einer Kau­ti­on wur­de er vor­erst auf frei­en Fuß gesetzt.

Davon, dass ins­be­son­de­re PCP-Mitarbeiter*innen in Afgha­ni­stan in hoher Gefahr sind, berich­tet auch eine aus­führ­li­che und gut recher­chier­te Repor­ta­ge in der Süd­deut­schen Zei­tung aus. Die­se Repor­ta­ge ist ein Gemein­schafts­pro­jekt des Inves­ti­ga­tiv­bü­ros Light­house Report, der Süd­deut­schen Zei­tung, des WDR und NDR, in der 20 Fäl­le von GIZ-Orts­kräf­ten detail­liert unter­sucht wur­den. Dar­in wird unter ande­rem von dem Lei­ter des PCP in einer afgha­ni­schen Pro­vinz berich­tet, der sich seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban in einem Ver­steck auf­hal­ten muss. Auch er wand­te sich zunächst an die GIZ. Doch auch sein Antrag wur­de in knap­pen Wor­ten abge­lehnt: »Wir bedau­ern es, Ihnen mit­tei­len zu müs­sen, dass Ihr Auf­nah­me­an­trag im Orts­kräf­te­ver­fah­ren final abge­lehnt wur­de«. Und dies, obwohl die Tali­ban sei­nen Vater ent­führt und ver­hört hat­ten, um sei­ner hab­haft zu wer­den und, obwohl Prü­fer der GIZ selbst auf die hohe Gefähr­dungs­la­ge und Expo­niert­heit hin­ge­wie­sen hat­ten. Auch in den ande­ren von dem Recher­che­team unter­such­ten Fäl­len kam es zu Droh­an­ru­fen, Vor­la­dun­gen und Haus­durch­su­chun­gen durch die Tali­ban, in eini­gen Fäl­len sogar zu Fest­nah­men und Folterungen.

Vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin wird den­noch wei­ter­hin über die wider­sin­ni­ge Fra­ge gestrit­ten, ob Men­schen, die in Afgha­ni­stan mit Werk­ver­trag für deut­sche Insti­tu­tio­nen tätig waren, weni­ger gefähr­det sind, als Per­so­nen mit Arbeits­ver­trag und ob des­halb die Ent­schei­dung der Bun­des­re­gie­rung, ers­te­re nicht über das Orts­kräf­te­ver­fah­ren auf­zu­neh­men, gerecht­fer­tigt ist. Wie die Bun­des­re­gie­rung auf die­se Ungleich­be­hand­lung gekom­men ist, bleibt indes­sen wei­ter­hin unklar.

Prozessvertreter der Bundesregierung ist unvorbereitet

Selbst bei der münd­li­chen Ver­hand­lung, die am 15. Sep­tem­ber 2023 statt­fand und auch von PRO ASYL vor Ort ver­folgt wur­de, ver­moch­te der Ver­tre­ter der Bun­des­re­gie­rung die ein­fa­che Fra­ge des Bevoll­mäch­ti­gen der Kläger*innen, auf wel­cher Grund­la­ge die­se Ein­schät­zung zustan­de gekom­men sei, nicht zu beant­wor­ten. Auch die Richter*innen zeig­ten sich ob die­ser gänz­lich feh­len­den Vor­be­rei­tung des Pro­zess­ver­tre­ters der Bun­des­re­gie­rung erstaunt.

Sie gaben nun der Bun­des­re­gie­rung auf, die Fra­ge schrift­lich zu beant­wor­ten. Erst dann kön­ne das Ver­fah­ren wei­ter­ge­führt wer­den. Das ist vor dem Hin­ter­grund zu ver­ste­hen, dass die Richter*innen über die Ent­schei­dung der Bun­des­re­gie­rung nur eine soge­nann­te Will­kür­kon­trol­le vor­neh­men kön­nen – wofür sie wie­der­um auf die von der Bun­des­re­gie­rung ange­stell­ten Erwä­gun­gen ange­wie­sen sind. Wenn sich im Ergeb­nis erwar­tungs­ge­mäß her­aus­stel­len soll­te, dass Arbeitnehmer*innen und Per­so­nen mit Werk­ver­trä­gen im Wesent­li­chen glei­cher­ma­ßen gefähr­det sind und den­noch ungleich behan­delt wer­den, läge eine will­kür­li­che Ungleich­be­hand­lung und damit ein Ver­stoß gegen den all­ge­mei­nen Gleich­heits­satz des Arti­kel 3 Absatz 1 des Grund­ge­set­zes vor.

Nach der Beant­wor­tung der ent­schei­den­den Fra­ge durch die Bun­des­re­gie­rung wird vor­aus­sicht­lich Anfang 2024 eine zwei­te münd­li­che Ver­hand­lung ange­setzt. Die Kläger*innen und ihre Fami­li­en sind der­weil wei­ter der jeder­zeit dro­hen­den Rache durch die Tali­ban ausgesetzt.

(pva)