24.11.2022
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Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat entschieden: Menschenwürdiges Existenzminimum gilt für alle Menschen gleich in Deutschland. Foto: berlin producers Media/ Michael Gügerl/ Walid Habash

Leistungskürzungen für alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete im AsylbLG sind verfassungswidrig. Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ein Interview mit der prozessbeteiligten Rechtsanwältin Eva Steffen.

Dass die Leis­tun­gen für allein­ste­hen­de und allein­er­zie­hen­de Asyl­su­chen­de und Gedul­de­te in Sam­mel­un­ter­künf­ten seit 2019 um zehn Pro­zent gekürzt wer­den, ist ver­fas­sungs­wid­rig. Das hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt heu­te bekannt gege­ben. Geklagt hat ein gedul­de­ter Mann aus Sri Lan­ka, PRO ASYL hat das Ver­fah­ren unter­stützt. Ver­tre­ten wur­de der Mann von Rechts­an­wäl­tin Eva Stef­fen aus Min­den, Sozi­al­rechts­exper­tin und lang­jäh­ri­ge Strei­te­rin für men­schen­wür­di­ge Sozi­al­leis­tun­gen. Sie hat mit uns dar­über gespro­chen, was der Beschluss des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 19.10.2022 bedeutet.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat eine Leis­tungs­kür­zung nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz für Allein­ste­hen­de und Allein­er­zie­hen­de in Sam­mel­un­ter­künf­ten für ver­fas­sungs­wid­rig erklärt. Wor­um genau ging es in dem Verfahren?

Der Gesetz­ge­ber hat­te von den in Sam­mel­un­ter­künf­ten unter­ge­brach­ten Men­schen ver­langt, wie in einer Ehe oder Part­ner­schaft für­ein­an­der ein­zu­ste­hen, gemein­sam zu wirt­schaf­ten und dadurch Aus­ga­ben ein­spa­ren. Hier­zu hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt unmiss­ver­ständ­lich klar­ge­stellt, dass der Gesetz­ge­ber zwar ver­lan­gen kann, alle erfor­der­li­chen und zumut­ba­ren Mög­lich­kei­ten zu ergrei­fen, um eine Hil­fe­be­dürf­tig­keit zu ver­min­dern. Eine pau­scha­le Absen­kung exis­ten­zi­el­ler Leis­tun­gen kann jedoch nur ver­langt wer­den, wenn die­se Pflich­ten tat­säch­lich erfüll­bar sind und der Bedarf auch nach­weis­bar gedeckt wird. Leis­tun­gen dür­fen nicht auf der Grund­la­ge einer rei­nen Ver­mu­tung von Ein­spar­ef­fek­ten abge­senkt wer­den, ohne dies für die kon­kre­ten Ver­hält­nis­se hin­rei­chend trag­fä­hig zu bele­gen. Es lie­gen aber kei­ner­lei Erkennt­nis­se vor, wonach allein­ste­hen­de Bedürf­ti­ge in den Sam­mel­un­ter­künf­ten gemein­sam wirt­schaf­ten und dadurch rele­van­te Ein­spa­run­gen erzie­len. Dies kann auch nicht von ihnen erwar­tet werden.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat­te dem Gesetz­ge­ber schon im Juli 2012 genaue Vor­ga­ben an die Bemes­sung der Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz gemacht. Die­se Vor­ga­ben hat der Gesetz­ge­ber nicht nur mit der heu­te für ver­fas­sungs­wid­rig erklär­ten Rege­lung ein­deu­tig und offen­kun­dig ignoriert.

Die Bun­des­re­gie­rung hat zur Ein­füh­rung der Rege­lung 2019 geschätzt, dass die Kos­ten um rund 40 Mil­lio­nen Euro sin­ken wür­den. Der Gesetz­ge­ber hat hier ersicht­lich sei­nen Gestal­tungs – und Beur­tei­lungs­spiel­raum miss­braucht, um Geld zu sparen.

»Der Gesetz­ge­ber hat hier ersicht­lich sei­nen Gestal­tungs – und Beur­tei­lungs­spiel­raum miss­braucht, um Geld zu sparen.«

Rechts­an­wäl­tin Eva Steffen

Die Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ist also ein wich­ti­ger Erfolg. Was haben die Betrof­fe­nen von der Ent­schei­dung und wie geht es dei­nem Man­dan­ten jetzt?

Die Betrof­fe­nen wer­den künf­tig wie­der die unge­kürz­ten Leis­tun­gen in Höhe von 100 % statt nur 90 % der Leis­tun­gen erhal­ten. Dies gilt sogar rück­wir­kend ab Sep­tem­ber 2019, aber nur für die­je­ni­gen Zeit­räu­me, die zum Datum der Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts am 19.10.2022 noch nicht bestands­kräf­tig waren. Mein Man­dant und die­je­ni­gen, die Rechts­mit­tel gegen die Gewäh­rung der Leis­tun­gen ein­ge­legt haben – also noch lau­fen­de Wider­spruchs- oder Kla­ge­ver­fah­ren haben –, erhal­ten daher eine Nach­zah­lung. Sofern es noch rechts­mit­tel­fä­hi­ge leis­tungs­recht­li­che Ent­schei­dun­gen gibt, z.B. weil die Leis­tun­gen ohne einen schrift­li­chen Bescheid gewährt wur­den, kön­nen die­se Zeit­räu­me unter Umstän­den auch heu­te noch wirk­sam ange­foch­ten wer­den. Hier­zu soll­ten die Men­schen anwalt­li­chen Rat einholen.

Mein Man­dant bezieht inzwi­schen kei­ne Leis­tun­gen mehr nach dem Asyl­bLG mehr. Er lebt zwar noch in einer Sam­mel­un­ter­kunft, hat aber inzwi­schen eine Auf­ent­halts­er­laub­nis und erhält neben sei­nem Mini­job auf­sto­cken­de Hartz-IV Leis­tun­gen. Ich habe ihn kurz tele­fo­nisch von dem Aus­gang des Ver­fah­rens infor­miert. Er hat sich sehr gefreut.
(Hier ein Inter­view der GFF mit Kamal­raj G., der vom PSZ Düs­sel­dorf beglei­tet wurde.)

Die heu­ti­ge Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts betrifft allein­ste­hen­de und allein­er­zie­hen­de Geflüch­te­te, die in Sam­mel­un­ter­künf­ten unter­ge­bracht sind – aber nicht alle.

Rich­tig. Die Ent­schei­dung betrifft zunächst »nur« den Kreis der Leis­tungs­be­rech­tig­ten nach § 2 Asyl­bLG, also Men­schen, die sich schon län­ger als 18 Mona­te hier auf­hal­ten und höhe­re Asyl­bLG-Leis­tun­gen bezie­hen. Aber auch für den ers­ten Zeit­raum des Auf­ent­halts gibt es im Asyl­bLG eine nahe­zu iden­ti­sche Kür­zungs­re­ge­lung in § 3 a Asyl­bLG für die soge­nann­ten ohne­hin schon her­ab­ge­senk­ten Grund­leis­tun­gen. Sie bil­den den weit­aus grö­ße­ren Kreis der Leis­tungs­emp­fän­ger. Die für sie gel­ten­de Kür­zungs­re­ge­lung war aber lei­der (noch) nicht Gegen­stand des Ver­fah­rens vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt. Natür­lich bedeu­tet die heu­ti­ge Ent­schei­dung des Ver­fas­sungs­ge­richts aber, dass die ent­spre­chen­de Kür­zungs-Rege­lung in § 3 / 3 a Asyl­bLG eben­falls ver­fas­sungs­wid­rig ist.

Kön­nen dann auch Grundleistungsempfänger*innen von der Ent­schei­dung profitieren?

Die Bun­des­re­gie­rung ist auf­ge­for­dert, sofort tätig zu wer­den und die Kür­zung, die das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt bei § 2 Asyl­bLG für ver­fas­sungs­wid­rig erklärt hat, auch für Grundleistungsempfänger:innen nach § 3 / 3 a Asyl­bLG zu strei­chen. Wenn die Ver­ant­wort­li­chen hier nicht umge­hend tätig wer­den, hal­ten sie sehen­den Auges eine ver­fas­sungs­wid­ri­ge Rege­lung wei­ter auf­recht. Die Betrof­fe­nen soll­ten unbe­dingt, sofern sie das nicht schon getan haben, Wider­spruch und Kla­ge gegen die gekürz­ten Leis­tun­gen einlegen.

Das gilt übri­gens für fast alle AsylbLG-Bezieher:innen – auch wenn es nicht um die kon­kre­te Rege­lung für Allein­ste­hen­de geht: Es gibt noch wei­te­re durch­grei­fen­de ver­fas­sungs­recht­li­che Beden­ken an bestehen­den Rege­lun­gen des Asyl­bLG – wie auch über­haupt an dem gesam­ten Gesetz. Über­dies ist eine erheb­li­che Anzahl der Beschei­de schon nach gel­ten­dem Recht feh­ler­haft. Des­halb ist nahe­zu jeder und jedem zu raten, Rechts­mit­tel gegen die Gewäh­rung die­ser Leis­tun­gen ein­zu­le­gen. Kom­pe­ten­te Sozi­al­rechts­an­wäl­tin­nen kön­nen häu­fig hel­fen – und auch ohne Kos­ten zu ver­ur­sa­chen, weil es in sozi­al­recht­li­chen Ver­fah­ren Bera­tungs­hil­fe und Pro­zess­kos­ten­hil­fe gibt.

Vor mehr als zehn Jah­ren, 2012, hast du bereits ein­mal eine für sehr vie­le Men­schen wich­ti­ge Ent­schei­dung zum Asyl­bLG vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt erstrit­ten. Heu­te stand »nur« eine rela­tiv neue Kür­zung auf dem Prüf­stand – und wie­der hast du Recht bekom­men. Wie fühlt sich der lang­jäh­ri­ge juris­ti­sche Kampf gegen das Asyl­bLG aus heu­ti­ger Per­spek­ti­ve an?

Natür­lich ist es ein groß­ar­ti­ger Erfolg, dass in ver­hält­nis­mä­ßig kur­zer Zeit auf der Grund­la­ge der Vor­la­ge des Sozi­al­ge­richts Düs­sel­dorf aus April 2021 bereits im Novem­ber 2022 eine Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vor­liegt. Dies ist aber ein Erfolg aller dar­an Betei­lig­ter vor allem auch der Gesell­schaft für Frei­heits­rech­te e.V, die eine soge­nann­te Rich­ter­vor­la­ge ver­fasst haben, aber auch der Ver­bän­de wie u.a. Pro Asyl, der Dia­ko­nie, dem Deut­schen Insti­tut für Men­schen­rech­te, Amnes­ty oder dem EKG, aber auch den Flücht­lings­rä­ten und wei­te­ren uner­müd­li­chen kri­ti­schen Stim­men, die damit Gehör gefun­den haben.

Bun­des­ar­beits­mi­nis­ter Heil, der damals wie heu­te ver­ant­wort­li­cher Minis­ter war, hat­te gegen­über dem Ver­fas­sungs­ge­richt ange­kün­digt, »noch in die­sem Kalen­der­jahr ent­spre­chend der Koali­ti­ons­ver­ein­ba­rung das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz im Lich­te der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts fort­zu­ent­wi­ckeln«. Abge­se­hen, davon, dass er die­ses Zeit­fens­ter wohl kaum ein­hal­ten kann, ist zu hof­fen, dass die­se Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts dazu ver­hilft, das Asyl­bLG nicht fort­zu­ent­wi­ckeln, son­dern abzuschaffen.

Das Inter­view führ­te Andrea Kothen