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»Asylbewerberleistungsgesetz nicht fortentwickeln, sondern abschaffen«
Leistungskürzungen für alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete im AsylbLG sind verfassungswidrig. Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ein Interview mit der prozessbeteiligten Rechtsanwältin Eva Steffen.
Dass die Leistungen für alleinstehende und alleinerziehende Asylsuchende und Geduldete in Sammelunterkünften seit 2019 um zehn Prozent gekürzt werden, ist verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht heute bekannt gegeben. Geklagt hat ein geduldeter Mann aus Sri Lanka, PRO ASYL hat das Verfahren unterstützt. Vertreten wurde der Mann von Rechtsanwältin Eva Steffen aus Minden, Sozialrechtsexpertin und langjährige Streiterin für menschenwürdige Sozialleistungen. Sie hat mit uns darüber gesprochen, was der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.2022 bedeutet.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Leistungskürzung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für Alleinstehende und Alleinerziehende in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt. Worum genau ging es in dem Verfahren?
Der Gesetzgeber hatte von den in Sammelunterkünften untergebrachten Menschen verlangt, wie in einer Ehe oder Partnerschaft füreinander einzustehen, gemeinsam zu wirtschaften und dadurch Ausgaben einsparen. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klargestellt, dass der Gesetzgeber zwar verlangen kann, alle erforderlichen und zumutbaren Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Hilfebedürftigkeit zu vermindern. Eine pauschale Absenkung existenzieller Leistungen kann jedoch nur verlangt werden, wenn diese Pflichten tatsächlich erfüllbar sind und der Bedarf auch nachweisbar gedeckt wird. Leistungen dürfen nicht auf der Grundlage einer reinen Vermutung von Einspareffekten abgesenkt werden, ohne dies für die konkreten Verhältnisse hinreichend tragfähig zu belegen. Es liegen aber keinerlei Erkenntnisse vor, wonach alleinstehende Bedürftige in den Sammelunterkünften gemeinsam wirtschaften und dadurch relevante Einsparungen erzielen. Dies kann auch nicht von ihnen erwartet werden.
Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber schon im Juli 2012 genaue Vorgaben an die Bemessung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gemacht. Diese Vorgaben hat der Gesetzgeber nicht nur mit der heute für verfassungswidrig erklärten Regelung eindeutig und offenkundig ignoriert.
Die Bundesregierung hat zur Einführung der Regelung 2019 geschätzt, dass die Kosten um rund 40 Millionen Euro sinken würden. Der Gesetzgeber hat hier ersichtlich seinen Gestaltungs – und Beurteilungsspielraum missbraucht, um Geld zu sparen.
»Der Gesetzgeber hat hier ersichtlich seinen Gestaltungs – und Beurteilungsspielraum missbraucht, um Geld zu sparen.«
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist also ein wichtiger Erfolg. Was haben die Betroffenen von der Entscheidung und wie geht es deinem Mandanten jetzt?
Die Betroffenen werden künftig wieder die ungekürzten Leistungen in Höhe von 100 % statt nur 90 % der Leistungen erhalten. Dies gilt sogar rückwirkend ab September 2019, aber nur für diejenigen Zeiträume, die zum Datum der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 19.10.2022 noch nicht bestandskräftig waren. Mein Mandant und diejenigen, die Rechtsmittel gegen die Gewährung der Leistungen eingelegt haben – also noch laufende Widerspruchs- oder Klageverfahren haben –, erhalten daher eine Nachzahlung. Sofern es noch rechtsmittelfähige leistungsrechtliche Entscheidungen gibt, z.B. weil die Leistungen ohne einen schriftlichen Bescheid gewährt wurden, können diese Zeiträume unter Umständen auch heute noch wirksam angefochten werden. Hierzu sollten die Menschen anwaltlichen Rat einholen.
Mein Mandant bezieht inzwischen keine Leistungen mehr nach dem AsylbLG mehr. Er lebt zwar noch in einer Sammelunterkunft, hat aber inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis und erhält neben seinem Minijob aufstockende Hartz-IV Leistungen. Ich habe ihn kurz telefonisch von dem Ausgang des Verfahrens informiert. Er hat sich sehr gefreut.
(Hier ein Interview der GFF mit Kamalraj G., der vom PSZ Düsseldorf begleitet wurde.)
Die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betrifft alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete, die in Sammelunterkünften untergebracht sind – aber nicht alle.
Richtig. Die Entscheidung betrifft zunächst »nur« den Kreis der Leistungsberechtigten nach § 2 AsylbLG, also Menschen, die sich schon länger als 18 Monate hier aufhalten und höhere AsylbLG-Leistungen beziehen. Aber auch für den ersten Zeitraum des Aufenthalts gibt es im AsylbLG eine nahezu identische Kürzungsregelung in § 3 a AsylbLG für die sogenannten ohnehin schon herabgesenkten Grundleistungen. Sie bilden den weitaus größeren Kreis der Leistungsempfänger. Die für sie geltende Kürzungsregelung war aber leider (noch) nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Natürlich bedeutet die heutige Entscheidung des Verfassungsgerichts aber, dass die entsprechende Kürzungs-Regelung in § 3 / 3 a AsylbLG ebenfalls verfassungswidrig ist.
Können dann auch Grundleistungsempfänger*innen von der Entscheidung profitieren?
Die Bundesregierung ist aufgefordert, sofort tätig zu werden und die Kürzung, die das Bundesverfassungsgericht bei § 2 AsylbLG für verfassungswidrig erklärt hat, auch für Grundleistungsempfänger:innen nach § 3 / 3 a AsylbLG zu streichen. Wenn die Verantwortlichen hier nicht umgehend tätig werden, halten sie sehenden Auges eine verfassungswidrige Regelung weiter aufrecht. Die Betroffenen sollten unbedingt, sofern sie das nicht schon getan haben, Widerspruch und Klage gegen die gekürzten Leistungen einlegen.
Das gilt übrigens für fast alle AsylbLG-Bezieher:innen – auch wenn es nicht um die konkrete Regelung für Alleinstehende geht: Es gibt noch weitere durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken an bestehenden Regelungen des AsylbLG – wie auch überhaupt an dem gesamten Gesetz. Überdies ist eine erhebliche Anzahl der Bescheide schon nach geltendem Recht fehlerhaft. Deshalb ist nahezu jeder und jedem zu raten, Rechtsmittel gegen die Gewährung dieser Leistungen einzulegen. Kompetente Sozialrechtsanwältinnen können häufig helfen – und auch ohne Kosten zu verursachen, weil es in sozialrechtlichen Verfahren Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe gibt.
Vor mehr als zehn Jahren, 2012, hast du bereits einmal eine für sehr viele Menschen wichtige Entscheidung zum AsylbLG vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten. Heute stand »nur« eine relativ neue Kürzung auf dem Prüfstand – und wieder hast du Recht bekommen. Wie fühlt sich der langjährige juristische Kampf gegen das AsylbLG aus heutiger Perspektive an?
Natürlich ist es ein großartiger Erfolg, dass in verhältnismäßig kurzer Zeit auf der Grundlage der Vorlage des Sozialgerichts Düsseldorf aus April 2021 bereits im November 2022 eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt. Dies ist aber ein Erfolg aller daran Beteiligter vor allem auch der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V, die eine sogenannte Richtervorlage verfasst haben, aber auch der Verbände wie u.a. Pro Asyl, der Diakonie, dem Deutschen Institut für Menschenrechte, Amnesty oder dem EKG, aber auch den Flüchtlingsräten und weiteren unermüdlichen kritischen Stimmen, die damit Gehör gefunden haben.
Bundesarbeitsminister Heil, der damals wie heute verantwortlicher Minister war, hatte gegenüber dem Verfassungsgericht angekündigt, »noch in diesem Kalenderjahr entsprechend der Koalitionsvereinbarung das Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fortzuentwickeln«. Abgesehen, davon, dass er dieses Zeitfenster wohl kaum einhalten kann, ist zu hoffen, dass diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu verhilft, das AsylbLG nicht fortzuentwickeln, sondern abzuschaffen.
Das Interview führte Andrea Kothen