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Albtraum Moria
Während Deutschland und Europa den Deal mit dem autoritären Präsidenten Erdogan im wahrsten Sinne des Wortes um jeden Preis erhalten wollen, erinnern wir mit unserer Partnerorganisation RSA an die menschenverachtenden Auswirkungen des Deals in Griechenland. Der Bericht »Albtraum Moria« dokumentiert die Abgründe europäischer Flüchtlingspolitik.
Auf Lesbos befinden sich derzeit über 21.000 Schutzsuchende. Nach Angaben des UNHCR stammt die Mehrheit von ihnen aus Afghanistan (70%), Syrien (13%), der Demokratischen Republik Kongo (4%) und Somalia (4%). Allesamt Herkunftsländer mit einer hohen Schutzquote. In und um den EU-Hotspot Moria harren 19.200 Schutzsuchende unter desaströsen Bedingungen aus. Mehr als 40% der Schutzsuchenden auf Lesbos sind Kinder.
Schreckliche Bedingungen
Diese Kinder sind schrecklichen Bedingungen, Unsicherheit und Gewalt ausgesetzt. Die »Sicherheitszone« innerhalb des Hotspots (mit einer Kapazität für 66 unbegleitete Minderjährige) ist völlig überfüllt.
Die Mehrheit der Kinder muss zusammen mit Erwachsenen unter extrem prekären Bedingungen leben. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks schlief die Hälfte der 1.150 unbegleiteten Kinder, die im November 2019 in Moria lebten, in Großzelten oder musste sich selbst einen Schlafplatz suchen.
Tausende Flüchtlingskinder sind schrecklichen Bedingungen und Gefahren ausgesetzt
Im letzten Jahr verloren drei Kinder in Moria ihr Leben. Im August 2019 starb ein 15-jähriger unbegleiteter Junge nach einem Konflikt in der »Sicherheitszone«.
Die Zustände in Moria können bei Kindern schwere psychische Schäden verursachen bis hin zu Suizidversuchen. Bezeichnend ist der Fall eines neunjährigen afghanischen Kindes mit Behinderung. Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen, die im August im Hotspot stattfanden, entwickelte es das seltene »Resignationssyndrom«. Das Kind hörte plötzlich auf zu sprechen und zu kommunizieren. Es befindet sich seitdem in einem permanenten katatonischen Zustand und wird mit Hilfe anderer gefüttert.
Für die Psychotherapeutin von RSA, Konstantina Kranou, stellen die Zustände in Moria neue traumatisierende Erfahrungen für die Kinder dar: »Leider markiert die lang erwartete Ankunft in Europa für diese Kinder nun den Beginn einer schmerzhaften Periode, die wahrscheinlich als die traumatischste erlebt wird. Noch in den Herkunftsländern oder auf der Flucht waren die Schwierigkeiten zweifellos vielfältig. Aber es bestand die Hoffnung, dass sie sich in einem Land wiederfinden würden, in dem sie sicher leben können. Nun scheint es, als würden sie genau die Hoffnung verlieren, die die treibende Kraft war.«
Tausende von Flüchtlingen dem Winter ausgesetzt
Etwa drei Viertel der Flüchtlinge lebt rund um den EU- Hotspot Moria in Zelten und Behelfsunterkünften. Die Bedingungen innerhalb und außerhalb des Hotspots sind nicht unmenschlich und gefährlich, sie sind einfach unbeschreiblich.
Unter den Tausenden von Flüchtlingen, die sich in der Nähe des Hotspots aufhalten, gibt es viele besonders Schutzbedürftige, wie Menschen mit Behinderungen und Frauen, die erst kürzlich entbunden haben. Im vergangenen Dezember identifizierten RSA-Mitarbeiter in Zelten außerhalb des Hotspots acht Personen mit Sehbehinderungen und eine Familie von Menschen mit einer Hörbehinderung, für die keine Versorgung erfolgt ist.
Eine afghanische Frau, die wenige Tage vor dem Gespräch mit der RSA entbunden hat, fragt: »Ich weiß nicht, wie ich mit meinem neugeborenen Baby an diesem Ort leben kann. Wie sollen wir beide die Kälte und die Bedingungen ertragen?«. Die Mutter und ihr Kind leben in einem Zelt im sogenannten »Olivenhain«, der informellen Erweiterung des Lagers mit Zelten und selbstgebauten Behausungen, außerhalb vom Hotspot Moria.
Eine Toilette für 200 Personen
Im Inneren des Hotspots gibt es derzeit 90 Toiletten und 90 Duschen. Das heißt, auf 200 Personen kommt eine Toilette und eine Dusche. In Teilen des »Olivenhains« teilen sich bis zu 500 Personen eine Dusche. Für die grundlegendsten Bedürfnisse, eingeschlossen die Essensausgabe, müssen die Menschen in Moria jeden Tag stundenlang Schlange stehen.
Leben in permanenter Unsicherheit
Mangelnde Beleuchtung und eine unzureichende Anzahl von Polizisten, die das Gebiet überwachen, verstärken das Gefühl der Unsicherheit, vor allem bei Frauen. Es herrscht ständige Angst vor Kriminalität und Gewalt. Letzte Woche starben zwei junge Männer – einer aus dem Jemen und einer aus dem Kongo. Sie wurden erstochen.
»Unser ganzes Eigentum sind unsere Decken und einige warme Kleider. Die Angst vor dem Verlust selbst dieser Dinge hält uns den ganzen Tag im Zelt«
Parwana* ist ein 15-jähriges Mädchen aus Afghanistan, das bis vor kurzem mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einem Zelt außerhalb des Hotspots lebte:
»Wir leben unter Stress und Unsicherheit, wir befinden uns in einer Situation des permanenten Schocks. Wir erleben täglich Panik… Unser ganzes Eigentum sind unsere Decken und einige warme Kleider. Die Angst vor dem Verlust selbst dieser Dinge hält uns den ganzen Tag im Zelt«, sagt Parwana.
Drei Ärzte für knapp 20.000 Menschen
Nach Angaben der Nationalen Organisation für Öffentliche Gesundheit gibt es in Moria drei Ärzte, acht Krankenschwestern, acht Psychologen, vier Sozialarbeiter, zwei Hebammen, einen Rettungssanitäter, sieben Dolmetscher (einen für Farsi, drei für Arabisch, zwei für Urdu und einen für Französisch) und einen Krankenwagenfahrer. Die Arbeitszeiten sind zwischen 8:00 und 21:00 Uhr. NGOs und Freiwillige versuchen, die Lücken in der Gesundheitsversorgung zu schließen, sind jedoch nicht in der Lage sind, den massiven Bedarf zu decken.
Mitte November 2019 starb im Lager Moria ein neun Monate altes Baby aus dem Kongo. Dies ist der siebte bestätigte Todesfall in Moria im Zeitraum von September 2019 bis Januar 2020.
»Das Lager befindet sich täglich in einer Notsituation«, stellte Médecins Sans Frontières (MSF) nach dem Tod des neun Monate alten Babys fest. Die Hilfsorganisation hat in ihrer Kinderklinik zwischen März 2019 und heute mehr als 250 Kinder mit chronischen und komplexen Gesundheitsproblemen wie Epilepsie, Diabetes, Kardiopathie, Asthma etc. aufgenommen.
»Das Krankenhaus ist jeden Tag voll von Flüchtlingskindern, die aufgrund der Bedingungen und weil sie der Kälte und dem Regen ausgesetzt sind, an Husten, Fieber und Magen-Darm-Problemen leiden.«
»Sie alle benötigen dringend eine regelmäßige pharmazeutische Versorgung, Tests und Überwachung, aber die öffentlichen Krankenhäuser und Kliniken sind nicht in der Lage, eine angemessene Versorgung anzubieten. Sie verfügen einfach nicht über das erforderliche, medizinisch spezialisierte Personal«, berichtet MSF.
Ein afghanischer Familienvater musste sich einer schweren Knie-Operation unterziehen. Parwana*, seine 15-jährige Tochter, beschreibt die Schwierigkeiten ihres Vaters: »Meine beiden Brüder müssen ihn tragen, damit er auf die Toilette oder auch nur für eine Weile aus dem Zelt gehen kann. Jede weitere Stunde an diesem Ort ist für uns eine Folter.« Nachdem sie drei Monate lang in einem Zelt außerhalb des Lagers in Moria gelebt hatten, wurde die Familie wegen des ernsten Gesundheitszustands des Vaters schließlich in ein Lager auf dem Festland verlegt.
Mohammadi Naiem, Sozialarbeiter und Dolmetscher von RSA, der täglich seine Dienste im Krankenhaus Vostaneio in Mytilene leistet, berichtet: »Das Krankenhaus ist jeden Tag voll von Flüchtlingskindern, die aufgrund der Bedingungen und weil sie der Kälte und dem Regen ausgesetzt sind, an Husten, Fieber und Magen-Darm-Problemen leiden.«
PRO ASYL und RSA fordern
RSA und PRO ASYL fordern ein groß angelegtes Flüchtlingsaufnahmeprogramm aus Griechenland: die Hotspots müssen geräumt werden, Schutzsuchende auf das griechische Festland gebracht werden. Dort müssen sie menschenwürdig untergebracht und schnellstmöglich in andere EU-Mitgliedstaaten überstellt werden.
In Anbetracht der mittlerweile katastrophalen Unterbringungssituation auf dem Festland muss mit Unterstützung der EU alles Mögliche unternommen werden, um die Aufnahmebedingungen zu verbessern. RSA und PRO ASYL fordern die griechische Regierung auf, die Pläne zur Inhaftierung tausender Schutzsuchender zu verwerfen.
PRO ASYL und RSA fordern: Hotspots schließen, unbürokratische Familienzusammenführung und ein Flüchtlingsaufnahmeprogramm
RSA und PRO ASYL fordern die zügige Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen durch Deutschland und anderen EU-Staaten. Die Dublin – Verordnung bietet auch die Möglichkeit, humanitäre Aufnahmen von Flüchtlingskindern aus Griechenland zu realisieren.
Unter den katastrophalen Lebensbedingungen in griechischen Hotspots wird der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt. Eltern und Kinder haben dort nur geringe Chancen, ihr Recht auf Familieneinheit einzufordern. Deutschland lehnt systematisch Anfragen zur Familienzusammenführung mit Verweis auf abgelaufene Fristen ab. RSA und PRO ASYL fordern schnelle und unbürokratische Familienzusammenführungen von Schutzsuchenden in Griechenland mit ihren Verwandten in Deutschland.
Zum vollständigen Bericht (Englisch) von RSA und PRO ASYL geht es hier.
(rsa / kk)