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Ein Plakat mit der Aufschrift «Never Underestimate The Power of Women» bei einer Demonstration für die Rechte von Frauen. Foto: Unsplash /Gayatri Malhotra

Es gibt Lebensgeschichten, die eignen sich als Drehbuch für einen Kinofilm. Die von Umida*, Mariam und Zarifa aus Afghanistan zählt dazu. Die eine war Soldatin, die andere Menschenrechtlerin, die dritte Sportlerin. Die Machtübernahme der Taliban hat die drei Schwestern auseinandergerissen. Zum Weltfrauentag lassen wir sie zu Wort kommen.

Mari­am floh nach Deutsch­land, weil sie zwangs­ver­hei­ra­tet wer­den soll­te, Umi­da dien­te in der afgha­ni­schen Armee, und Zarifa war in ihrer Hei­mat eine bekann­te Sport­le­rin. PRO ASYL steht in engem Aus­tausch mit den Frau­en und hat sie bei ihrer Odys­see unter­stützt. Bei einem Tele­fo­nat im Febru­ar (noch vor dem rus­si­schen Angriffs­krieg auf die Ukrai­ne) haben Mari­am und Umi­da, die mitt­ler­wei­le bei­de in Deutsch­land leben, uns ihre Lebens­ge­schich­te erzählt. Ihre Schwes­ter Zarifa steck­te mona­te­lang in Islam­abad fest und war­te­te auf eine Auf­nah­me­zu­sa­ge der Bun­des­re­gie­rung. Vor weni­gen Tagen erreich­te sie die freu­di­ge Nach­richt, dass sie nach Spa­ni­en kom­men dür­fe. Die Schwes­tern sind somit zwar immer noch nicht ver­eint, aber wenigs­tens etwas näher bei­ein­an­der. Ihre Flucht­ge­schich­ten ste­hen stell­ver­tre­tend für vie­le ande­re Afghan*innen, die PRO ASYL unter­stützt – mit dem Unter­schied, dass tau­sen­de Män­ner, Frau­en und Kin­der noch immer fest­sit­zen und ihre Hoff­nung auf eine Eva­ku­ie­rung nach Deutsch­land von Tag zu Tag schwindet.

Ich habe mei­ne Arbeit geliebt. Ich habe alles hin­ter mir gelas­sen, als ich mich 2015 zur Flucht ent­schlos­sen habe. Aber ich hat­te kei­ne ande­re Wahl. In Afgha­ni­stan habe ich für eine inter­na­tio­na­le  Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on  gear­bei­tet. In mei­nem kon­ser­va­ti­ven Umfeld war das ein gro­ßes The­ma. Eine Frau hat nicht zu arbei­ten. Mei­ne Ver­wand­ten sag­ten zu mir: »Kei­ner wird dich hei­ra­ten, wenn du außer­halb des Hau­ses arbei­test. Gute Mäd­chen sind Haus­frau­en.« Mein Vater war stolz auf mich, aber der Druck durch die Fami­lie wur­de zu groß und er muss­te sich dem beu­gen. Also soll­te ich einen Cou­sin hei­ra­ten. Ich konn­te mir ein­fach nicht vor­stel­len, einen unge­bil­de­ten Mann zu hei­ra­ten, der über mein Leben ent­schei­den wür­de. Ich habe Ehr­geiz, ich habe Träu­me! Aber wir wur­den ver­lobt und ich begriff, dass es mei­ne ein­zi­ge Chan­ce war, zu fliehen.

»Ich habe Ehr­geiz, ich habe Träu­me! Aber wir wur­den ver­lobt und ich begriff, dass es mei­ne ein­zi­ge Chan­ce war, zu fliehen.«

Der Schlep­per warn­te mich: »Du bist allei­ne, und die Flucht ist sehr gefähr­lich. Du könn­test ster­ben.« Das war mir bewusst. Aber mei­ne Schwes­ter Umi­da sag­te zu mir: »Wenn du hier­bleibst und hei­ra­test, wirst du jeden Tag ster­ben.« Ich wuss­te, dass sie Recht hat­te, und so bin ich gegan­gen. Mei­nen Eltern habe ich erzählt, dass ich eine Dienst­rei­se machen wür­de. Es hat mir das Herz gebro­chen, mich von ihnen zu ver­ab­schie­den. Als mein Vater her­aus­fand, dass ich für immer gegan­gen bin, war er erst­mal sehr sau­er. Er war eine respek­tier­te Per­sön­lich­keit und dadurch, dass ich abge­hau­en bin und die Hoch­zeit mit mei­nem Cou­sin geplatzt ist, hat er an Anse­hen ver­lo­ren. Aber dann war er froh über mei­ne Ent­schei­dung. Ein­mal hat er mich ange­ru­fen und mir auf­ge­tra­gen, dass ich mich um mei­ne Schwes­tern küm­mern soll. Denn mei­ne Brü­der sind eifer­süch­tig auf uns, weil wir bes­ser gebil­det sind als sie. »Hilf dei­nen Schwes­tern! Sonst wer­den eure Brü­der sie ver­hei­ra­ten, wenn ich ein­mal nicht mehr lebe«, hat er zu mir gesagt. Vor fünf Jah­ren ist er gestorben.

Mein Vater hat sich ver­än­dert über die Jah­re. 2001 war es hart für uns Mäd­chen. Er war sehr radi­kal in sei­nen Ansich­ten. Aber ich habe nicht auf­ge­ge­ben. Ich bin eine Kämp­fe­rin. Ich erin­ne­re mich an einen Mor­gen, als wir alle beim Früh­stück saßen und ich mei­ne Mut­ter bat, mei­nen Vater zu über­re­den, dass ich zur Schu­le gehen dürf­te. Er war dage­gen. Mei­ne älte­re Schwes­ter hat mich dar­auf­hin heim­lich mit in die Schu­le genom­men und ich habe mich hin­ter sei­nem Rücken ange­mel­det. Als er es her­aus­fand, war er wütend und sag­te: »Ich wer­de nicht für Lap­tops oder irgend­et­was ande­res für euch zah­len.« Aber ich hat­te den Schul­be­such durch­ge­setzt, auch für mei­ne jün­ge­ren Schwes­tern. Wir zähl­ten zu den Bes­ten unse­res Jahr­gangs. Als mein Vater rea­li­sier­te, dass wir hart arbei­te­ten und intel­li­gen­te Schü­le­rin­nen waren, änder­te er sei­ne Mei­nung. Er war stolz auf uns Mäd­chen und hat uns das auch gesagt. Er hat­te Freu­de dar­an, uns zuzu­hö­ren, wenn wir mit­ein­an­der eng­lisch spra­chen, auch wenn er nichts ver­stan­den hat.

Bevor ich Afgha­ni­stan ver­ließ, habe ich mein Tes­ta­ment geschrie­ben und dar­in ver­fügt, dass mei­ne Schwes­tern mein noch aus­ste­hen­des Gehalt erhal­ten, für den Fall, dass ich die Flucht nicht über­le­be. Dann bin ich los, über den Iran, die Tür­kei und Maze­do­ni­en, bis ich schließ­lich in Deutsch­land war. 43 Tage war ich unter­wegs, zusam­men mit ande­ren Flücht­lin­gen. 2015 waren ja sehr vie­le Men­schen auf dem Weg. Wir waren im Wald, wir hat­ten nichts zu essen, haben Salz­was­ser getrun­ken und uns tage­lang von Oli­ven ernährt. Ich habe jeden Tag geweint, aber ich habe die Hoff­nung nie auf­ge­ge­ben. Als ich in Euro­pa ankam, hat­te ich das ers­te Mal im Leben das Gefühl, frei zu sein. In Afgha­ni­stan hieß es immer, nur in mus­li­mi­schen Län­dern sei­en wir sicher. Aber ich habe in Euro­pa das Gegen­teil erfah­ren. In Maze­do­ni­en haben uns die Men­schen will­kom­men gehei­ßen und mit Kaf­fee und Milch begrüßt. Da wuss­te ich, dass ich end­lich in Sicher­heit bin.

Als ich in Deutsch­land ankam, war ich fast depri­miert, als ich sah, wie frei die Frau­en hier leben, weil  ich dach­te: War­um bin ich erst jetzt gekom­men? Wie­so habe ich 25 Jah­re mei­nes Lebens ver­geu­det? In Afgha­ni­stan habe ich mich gefühlt wie in einem Käfig. Ich habe ver­dammt viel ver­passt. Mitt­ler­wei­le lebe ich seit sechs Jah­ren in Nord­deutsch­land und bin mit einem deut­schen Mann zusam­men.  Ich habe eine Aus­bil­dung zur Kauf­frau gemacht und die­se 2020 abge­schlos­sen. Jetzt arbei­te ich für ein gro­ßes Unter­neh­men. Sobald mei­ne Schwes­tern finan­zi­ell auf eige­nen Bei­nen ste­hen, möch­te ich eine Wei­ter­bil­dung begin­nen und dann ger­ne Finanz­buch­hal­tung stu­die­ren. In Afgha­ni­stan war ich im zwei­ten Semes­ter mei­nes Wirt­schafts­stu­di­ums, aber als ich nach Deutsch­land kam, konn­te ich es mir nicht leis­ten, das Abitur nach­zu­ho­len, ich muss­te und muss Geld verdienen.

Der Som­mer 2021 war eine sehr emo­tio­na­le Zeit für mich. Ich habe mir so vie­le Gedan­ken gemacht um mei­ne Fami­lie in Afgha­ni­stan und so viel Geld wie mög­lich nach Hau­se geschickt. Als mei­ne Schwes­ter mir schrieb, dass unser Haus von einer Rake­te getrof­fen wor­den sei, konn­te ich nicht auf­hö­ren zu wei­nen. Aber noch schlim­mer war es, als ich erfuhr, dass die Tali­ban allein­ste­hen­de Mäd­chen an Tali­ban-Kämp­fer ver­hei­ra­te­ten. Ich hat­te sol­che Angst um mei­ne Schwes­tern Umi­da und Zarifa! Ich habe alles ver­sucht, um dafür zu sor­gen, dass sie eva­ku­iert wer­den, aber es war zu viel für mich. In die­ser schwie­ri­gen Zeit hat PRO ASYL mir Hoff­nung gege­ben. Ich brauch­te jeman­den, der mir sag­te, dass ich nicht allei­ne sei. Und das hat PRO ASYL getan. All die Mona­te haben Sie sich dafür ein­ge­setzt, dass mei­ne Schwes­tern nach Deutsch­land kom­men dür­fen. PRO ASYL war für uns da, an guten und an schlech­ten Tagen. Wir wer­den das nie vergessen.

Ein­mal hat eine Deut­sche zu mir gesagt: »Wenn alle jun­gen, gut aus­ge­bil­de­ten Afgha­nen das Land ver­las­sen, wer bleibt dann noch, um es auf­zu­bau­en?« Ich habe ihr vor­ge­schla­gen, dass sie ja hin­ge­hen und es pro­bie­ren könn­te. Ich habe es jah­re­lang ver­sucht. Aber ich habe nur ein ein­zi­ges Leben. Als ich gebo­ren wur­de, hat mich nie­mand gefragt, in wel­chem Land ich auf die Welt kom­men möch­te. Ich hät­te sicher nicht Afgha­ni­stan gewählt. War­um soll ich mich auf­op­fern für die­ses Land und ein Leben lang lei­den? Ich möch­te leben!

Ich woll­te mei­nem Land und mei­nem Volk die­nen und habe mich nach mei­nem Stu­di­um der Poli­tik­wis­sen­schaf­ten um eine Lauf­bahn in der Armee bewor­ben. Mäd­chen und Frau­en hat­ten gute Chan­cen, denn die obe­ren Posi­tio­nen waren von Ame­ri­ka­nern oder Deut­schen besetzt und die haben uns Frau­en ermu­tigt, zu arbei­ten, unab­hän­gig zu sein, unser eige­nes Geld zu ver­die­nen. Ich war stolz, eine Uni­form zu tra­gen. Schon als Kind, wenn ich Kriegs­fil­me gese­hen habe, in denen Frau­en als Offi­zie­re vor­ka­men, fand ich das toll und woll­te das auch mal wer­den. Ich hat­te einen wich­ti­gen Pos­ten in der afgha­ni­schen Armee. Ein­fach war das nie, denn vie­le afgha­ni­sche Män­ner hat­ten Pro­ble­me damit, dass eine Frau sie befeh­ligt. Sie muss­ten mir gehor­chen, sie hat­ten kei­ne ande­re Wahl. Aber ich habe fast jeden Tag Dis­kus­sio­nen geführt, irgend­wer kam immer, der zu mir sag­te, ich sol­le doch lie­ber zuhau­se blei­ben, hei­ra­ten und Kin­der krie­gen. Ich habe ver­sucht, sie zu über­zeu­gen, dass Afgha­ni­stan auch uns Frau­en braucht.

»Ich habe ver­sucht, sie zu über­zeu­gen, dass Afgha­ni­stan auch uns Frau­en braucht.«

In mei­ner Fami­lie gab es erstaun­lich wenig Wider­stand gegen mei­ne Kar­rie­re. Frü­her war mein Vater sehr eng­stir­nig, aber im Lau­fe der Jah­re hat er sich ver­än­dert. Mei­ne älte­ren Schwes­tern haben mir den Weg frei­ge­macht, und als ich mei­nem Vater mit­teil­te, dass ich zur Armee gehen wür­de, sag­te er, das sei kein Pro­blem. Leicht war es für ihn aber nicht, sei­ne Ein­stel­lung zu ändern. Wenn Freun­de, Nach­barn und Ver­wand­te dir sagen, dei­ne Töch­ter sei­en eine Schan­de für dich, musst du erst­mal damit umge­hen können.

Es war mein Traum, als Gene­ral zu arbei­ten, aber dar­aus wur­de nichts. Die Tali­ban haben mich mehr­mals bedroht, und nach­dem ich im Juli letz­ten Jah­res eine erns­te Todes­dro­hung erhal­ten habe, war es unmög­lich für mich, in Afgha­ni­stan zu blei­ben. Mein Ober­be­fehls­ha­ber sag­te mir: »Wir kön­nen nichts für dich tun.« Da hat auch mei­ne Fami­lie mich dazu gedrängt, das Land zu ver­las­sen. Ich bin erst­mal nach Indi­en gegan­gen, am 15. Juli, einen Monat vor der Macht­er­grei­fung der Tali­ban. Dort habe ich fünf Mona­te ver­bracht. PRO ASYL hat mich sehr unter­stützt und mir gehol­fen, dass ich nach Deutsch­land zu mei­ner Schwes­ter Mari­am kom­men durf­te. Dafür bin ich so dankbar!

Die Sze­ne, als ich mich von mei­ner Fami­lie ver­ab­schie­de­te, hat sich mir ein­ge­brannt. Es hat so weh­ge­tan, sie zu umar­men, ohne zu wis­sen, ob ich sie je wie­der­se­hen wer­de. Und dann mein letz­ter Blick auf unser Haus, der letz­te Blick auf mein Bett, der letz­te Blick auf den Raum, in dem wir immer zusam­men geses­sen und geges­sen haben. Ich ver­mis­se das alles unend­lich. Jeden Tag den­ke ich an mei­ne Fami­lie, an mein Zuhau­se, an die­ses Land, in dem ich gebo­ren wur­de, und an all die Klei­nig­kei­ten des All­tags. Das Lokal, in dem ich öfter mit Freun­din­nen war, die Stra­ße auf dem Weg zu mei­ner Arbeit, das Café um die Ecke. Ich ver­mis­se jeden Winkel!

Nun bin ich seit drei Mona­ten in Deutsch­land und alles ist neu für mich. Es ist eine kom­plett ande­re Welt. In Afgha­ni­stan bin ich auf­ge­wach­sen mit den Tali­ban, Daesh (Anmer­kung: der Ter­ror­mi­liz IS) und ande­ren kri­mi­nel­len Grup­pen. Frie­den gab es nur in unse­ren Träu­men. Der größ­te Unter­schied zwi­schen Deut­schen und Afgha­nen? Die Deut­schen haben kei­ne Ahnung, wie es ist, in einer Welt des Krie­ges zu leben. Und die Afgha­nen kön­nen sich nicht vor­stel­len, wie ein Leben in Frie­den aus­sieht. In Deutsch­land haben die Men­schen alles. War­um sind wir Afgha­nen davon aus­ge­schlos­sen? Sind wir nicht auch Men­schen? Es schmerzt mich sehr, die­se kras­sen Unter­schie­de zu erleben.

»In Deutsch­land haben die Men­schen alles. War­um sind wir Afgha­nen davon aus­ge­schlos­sen? Sind wir nicht auch Menschen?«

Ich ver­su­che, deutsch zu ler­nen, aber im Moment ist es schwie­rig, mit Deut­schen in Kon­takt zu kom­men, auch wegen der Pan­de­mie. Sobald ich die Spra­che rich­tig kann, wer­de ich mir Arbeit suchen. Irgend­ei­ne Arbeit, Haupt­sa­che ich ver­die­ne erst­mal Geld, um mei­ne Schwes­ter Mari­am zu ent­las­ten und selbst für mich sor­gen zu kön­nen. Dann wür­de ich ger­ne mei­nen Mas­ter machen.

Als ich ein­mal aus Afgha­ni­stan Mari­am anrief, die zu dem Zeit­punkt schon in Deutsch­land leb­te, erzähl­te sie mir, dass sie jetzt in den Wald Jog­gen gehen wür­de. Ich war so nei­disch! So etwas ist bei uns unvor­stell­bar. »Glaubst du, dass der Tag kom­men wird, an dem ich mit dir zusam­men jog­gen gehe?« habe ich sie gefragt. Und dann ist es tat­säch­lich so gekom­men. Ich bin an einem Frei­tag im Dezem­ber letz­ten Jah­res ange­kom­men, auch dank der Hil­fe von PRO ASYL. Und am nächs­ten Tag sind wir zusam­men lau­fen gegan­gen. Nun fehlt nur noch unse­re Schwes­ter Zarifa. Ich ver­mis­se sie und ihren Humor. Sie will auch mit uns jog­gen gehen und hat schon lachend gesagt, dass sie dann aber die­se Uhr braucht, die die Schrit­te zählt. Wenn wir end­lich wie­der zu Dritt sind, wer­den wir so glück­lich sein!

Natür­lich träu­me ich davon, eines Tages nach Afgha­ni­stan zurück­zu­keh­ren. Das­sel­be Gefühl, das ich für mei­ne Mut­ter habe, habe ich auch für mein Land: Ich lie­be bei­de. Aber Vor­aus­set­zung dafür, dass wir zurück­ge­hen, ist, dass sich die Sicht­wei­se der Men­schen ändert. Dass Frau­en in Afgha­ni­stan als selbst­ver­ständ­li­cher Teil der Gesell­schaft wahr­ge­nom­men wer­den. Dass es kei­nen Krieg mehr gibt. Dass das Land sich wandelt.

Ich ste­he immer noch ein biss­chen neben mir. Nach sie­ben lan­gen Mona­ten in Paki­stan, wohin ich von Afgha­ni­stan aus geflo­hen war, ging plötz­lich alles ganz schnell: Ich bekam eine Auf­nah­me­zu­sa­ge von Spa­ni­en, und vor ein paar Tagen bin ich in Madrid gelan­det. Ist das wirk­lich wahr? Es kommt mir vor wie in einem Traum. End­lich ist mein Alb­traum zu Ende!

In Afgha­ni­stan habe ich in einem Minis­te­ri­um gear­bei­tet. Außer­dem habe ich ver­schie­de­ne Mäd­chen-Mann­schaf­ten trai­niert. Und ich war selbst im Team einer bekann­ten Frau­en­sport­mann­schaft*. Ich lie­be es, Sport zu trei­ben. Es ist ein­fach meins. Und es gibt mir das Gefühl von Frei­heit. Als die Tali­ban in Afgha­ni­stan immer stär­ker wur­den, habe ich viel geweint. Im Som­mer letz­tes Jahr wur­de ich von zwei Unbe­kann­ten bedroht. Ich war auf dem Weg zur Arbeit. Plötz­lich hat ein Auto neben mir auf der Stra­ße ange­hal­ten. Ich habe gehört, dass der Auto­fah­rer zu dem Bei­fah­rer sag­te: »Erschie­ße sie jetzt!« Ich bin schrei­end weg­ge­lau­fen und ihnen ent­kom­men. Im August habe ich eine Woche am Flug­ha­fen in Kabul ver­bracht in der Hoff­nung, eva­ku­iert zu werden.

Schließ­lich bin ich nach Paki­stan geflo­hen, mit dem Bus, vor­bei an 17 Check­points der Tali­ban. In Paki­stan ist es bes­ser als in Afgha­ni­stan, aber es ist eben­falls gefähr­lich. Auch dort gibt es Tali­ban. Und man ist als Frau nicht frei. Wenn ich einen Kaf­fee trin­ken oder ein­fach spa­zie­ren gehen woll­te, brauch­te ich immer einen Mann an mei­ner Sei­te. Als unver­hei­ra­te­te Frau ist das schwer. Eini­ge aus mei­ner Sports­mann­schaft sind nach Alba­ni­en gebracht wor­den, ande­re nach Kana­da. Ich habe lan­ge gewar­tet, dass ich nach Deutsch­land kom­men darf zu mei­ner Schwes­ter Mari­am. PRO ASYL hat sich sehr für mich ein­ge­setzt. Aber es hat nicht geklappt. Es war furcht­bar, jeden Tag zu war­ten. Dar­auf, dass dich irgend­je­mand auf­nimmt. Dass irgend­ein Land dich will. Erst hieß es, ich dürf­te nach Ecua­dor und von dort in die USA. Dann doch nicht. Ich bin fast depres­siv gewor­den. Um mich abzu­len­ken, habe ich ande­ren, neu ankom­men­den Afgha­nin­nen und Afgha­nen gehol­fen, sich in Paki­stan zurecht­zu­fin­den. Dabei habe ich auch mit einer Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on zusam­men­ge­ar­bei­tet, ich habe die Logis­tik und die Finan­zen im Blick behal­ten, ich habe viel gema­nagt. Aber die Unsi­cher­heit, wie es wei­ter­geht in mei­nem Leben, hat mich fer­tig gemacht.

Zum Glück wur­de ich von ver­schie­de­nen Sei­ten unter­stützt, zum Bei­spiel von gro­ßen spa­ni­schen Sport­ver­ei­nen. Und so bin ich nun in Spa­ni­en gelan­det. An mei­nem ers­ten Tag dort habe ich gese­hen, wie eini­ge Teen­ager in einem Park Bas­ket­ball spie­len. Ich habe sie gefragt, ob  ich mit­spie­len darf – was für ein tol­les Gefühl! Wir haben uns ange­freun­det, sie haben mir sogar etwas zum Anzie­hen geschenkt. In Paki­stan konn­te ich kei­nen Sport machen, da habe ich mich mit Fit­ness-Übun­gen in mei­nem Zim­mer begnügt.

Mit mei­ner Sport­mann­schaft bin ich viel gereist, wir hat­ten Tur­nie­re in Indi­en und Paki­stan, in Turk­me­ni­stan und Tadschi­ki­stan, auch in Bhu­tan und im Iran war ich. Aber jetzt bin ich das ers­te Mal in Euro­pa. Ob ich in Spa­ni­en blei­ben wer­de oder zu mei­nen bei­den Schwes­tern nach Deutsch­land zie­he, weiß ich noch nicht. Die Haupt­sa­che ist, dass ich in Sicher­heit bin. Das ist so ein Geschenk! Ich hof­fe, dass ich wie­der Sport machen kann, viel­leicht sogar in der spa­ni­schen Natio­nal­mann­schaft. Und ich möch­te wei­ter stu­die­ren. In Afgha­ni­stan war ich im sieb­ten Semes­ter Eng­li­sche Lite­ra­tur, ein Semes­ter fehlt mir noch zu mei­nem Abschluss. Aber was das Wich­tigs­te ist: Ich bin jetzt frei. Nie­mand wird mich davon abhal­ten, mei­ne Zie­le zu errei­chen. Und hier ist nie­mand, der mich töten will.

»Ich wün­sche mir, dass alle afgha­ni­schen Mäd­chen und Frau­en ihre Träu­me ver­wirk­li­chen können.«

Ich hof­fe, dass die Tali­ban nicht lan­ge an der Macht blei­ben wer­den. Ich wün­sche mir, dass alle afgha­ni­schen Mäd­chen und Frau­en ihre Träu­me ver­wirk­li­chen kön­nen. An die Frau­en in Euro­pa habe ich zum Welt­frau­en­tag eine Bot­schaft: Ihr könnt euch so glück­lich schät­zen, dass ihr in Frei­heit und Sicher­heit lebt. Dass ihr von Kind­heit an ohne all die Pro­ble­me auf­wachst, die wir afgha­ni­schen Frau­en haben. Ihr habt so, so viel Glück!

(er)

*Alle Namen wur­den aus Sicher­heits­grün­den anony­mi­siert. Die drei Schwes­tern haben noch Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge in Afgha­ni­stan, die durch eine Bericht­erstat­tung, wel­che sie iden­ti­fi­zier­bar macht, Gefahr lau­fen, von den Tali­ban ver­folgt zu wer­den. Aus die­sem Grund wer­den auch ein­zel­ne Details wie die Sport­art, die Zarifa aus­übt, nicht näher genannt. 

PRO ASYL setzt sich dafür ein, dass die drei muti­gen jun­gen Frau­en in Sicher­heit zusam­men leben kön­nen. Dank unse­rer Hil­fe gelang die Auf­nah­me von Umi­da in Deutsch­land. Wir haben uns seit Okto­ber dar­um bemüht, dass auch Zarifa kom­men darf.  Dies schei­ter­te an der eng­her­zi­gen Aus­le­gung der deut­schen Geset­ze durch das Aus­wär­ti­ge Amt und das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um. Zwar ist eine Auf­nah­me nach §22 Auf­ent­halts­ge­setz aus drin­gen­den huma­ni­tä­ren Grün­den mög­lich. Die knall­har­te Aus­le­gung der alten Regie­rung bestimmt jedoch auch heu­te noch das Han­deln der Ver­wal­tung. Indi­vi­du­el­le Anträ­ge auf Auf­nah­me nach §22 Auf­ent­halts­ge­setz wer­den mit dem Argu­ment nicht bewil­ligt, dies sei »kein sin­gu­lä­res Ein­zel­schick­sal, das sich ganz erheb­lich von der Gefähr­dungs­si­tua­ti­on ande­rer Per­so­nen in Afgha­ni­stan« unter­schei­de. Zudem müs­se der Fall von  »beson­de­rer Bedeu­tung für die poli­ti­schen Inter­es­sen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land« sein.