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Afghanistan: Abschiebepläne der EU für das gefährlichste Land der Welt
Vor vier Jahren schlossen die Bundesregierung und die EU jeweils Deals mit Afghanistan ab, um Abschiebungen in das Kriegsland zu forcieren. Im Gegenzug wurden dem Land Entwicklungsgelder zugesagt. Der EU-Deal »Joint Way Forward« wurde nun bis 31.12. verlängert, die EU will in den kommenden Wochen aber ein neues Abkommen zum Abschluss bringen.
Unmittelbar nach Abschluss des »Joint Way Forward« (JWF) und des bilateralen Abkommens zwischen Deutschland und Afghanistan am 2. Oktober 2016 begannen die ersten Sammelabschiebungsflüge in das von Gewalt und Kämpfen erschütterte Afghanistan.
Abschiebungsdeal der EU mit Afghanistan
Im Zentrum des EU-Papiers stand nicht etwa die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, sondern der Ausbau einer Abschiebungslogistik, um Rückführungen nach Afghanistan zu erleichtern, unter anderem durch die Einführung eines Passersatzpapiers, um Geflüchtete abschieben zu können und eines neuen, eigens für Rückführungen geschaffenen Terminals am Kabuler Flughafen. Auch sollten in den ersten sechs Monaten nicht mehr als 50 Personen pro Flug abgeschoben werden, die Zahl der Flüge wurde jedoch nicht limitiert. Das Abkommen wurde am EU-Parlament vorbei abgeschlossen und ist ohne rechtliche Bindung.
Zwischen 13. September 2016 und 30. März 2020 hat die EU mit 73 Frontex-Charterflügen 1.844 Afghan*innen rückgeführt (siehe Antwort der EU-Kommission vom 24. Juli 2020). Zusätzlich wurden auf Linienflügen zwischen 9. Mai 2019 und 30. März 2020 weitere 58 Afghan*innen mit Hilfe von Frontex rückgeführt; weitere mögliche Abschiebungen direkt aus den Mitgliedstaaten sind in der Antwort nicht enthalten.
Die EU schließt sogar Abschiebungen von jungen, unverheirateten Frauen sowie unbegleiteten Minderjährigen nicht aus (JWF, Seite 3) – und behält sich dies auch künftig vor. Bemühungen von afghanischer Seite in den Verhandlungen, diese Gruppen von Abschiebungen auszunehmen, blieben ohne Erfolg.
»Joint Way Forward« wurde inzwischen bis Jahresende 2020 verlängert. Für die Zeit danach verhandelt die EU mit Afghanistan derzeit an einem weiteren Rückführungsdeal, um Abschiebungen in das gefährlichste Land der Welt weiter durchzusetzen.
Auch Deutschland schiebt in das Kriegsland ab
Die Abschiebungen aus Deutschland hatte die Bundesregierung gegenüber Afghanistan mit einem eigenen Abkommen bilateral forciert. Ab Dezember 2016 starteten – bis auf wenige Ausnahmen – regelmäßig monatliche Sammelabschiebeflieger aus Deutschland Richtung Kabul, zuletzt im März 2020. Die Flüge sind seitdem pandemiebedingt auf Bitten der afghanischen Regierung ausgesetzt, die Bundesregierung macht aus ihrer Eile, sie wieder anlaufen zu lassen, jedoch keinen Hehl.
Lage für Abgeschobene gefährlich und prekär
Eine Beschränkung der Abschiebungen auf Personen, die von Behördenseite als Straftäter, Gefährder oder sogenannte »Identitätsverweigerer« eingestuft werden, hatte die Bundesregierung nur zeitweise unter dem Eindruck eines verheerenden Anschlags auf die deutsche Botschaft in Kabul Ende Mai 2018 eingeführt.
Seit Juni 2018 ist es den Bundesländern freigestellt, ob und, wenn ja, in welchem Umfang sie sich an den schändlichen Sammelabschiebungen beteiligen. Von dieser Möglichkeit machen die Bundesländer in unterschiedlichem Maße Gebrauch. Familien, Frauen und Kinder werden faktisch bisher zwar nicht abgeschoben. Anders als oftmals öffentlich behauptet, handelt es sich bei dem Großteil der Abgeschobenen jedoch um Männer, die sich nichts zu Schulden haben kommen lassen, ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hatten und teilweise noch nie in Afghanistan waren. Und auch vor der Abschiebung von kranken Menschen in das Bürgerkriegsland wird nicht zurückgeschreckt. Deutschland hat auf insgesamt 33 vom Bund organisierten Abschiebungsflügen 907 Menschen nach Afghanistan abgeschoben.
Eine Studie zur Situation von aus Deutschland abgeschobenen Afghanen aus 2019 belegt, dass die Betroffenen zumeist unmittelbar nach ihrer Ankunft Gewalt, Bedrohung und Elend ausgesetzt sind und sich in den meisten Fällen zur erneuten Flucht gezwungen sehen.
Hunderttausende Rückkehrer*innen und Binnenvertriebene
Afghanistan versinkt weiter im Chaos. Das Land ist kaum in der Lage, Hunderttausende Afghan*innen, die Iran und Pakistan zwangsweise verlassen mussten, zu versorgen. Allein seit Jahresbeginn 2020 bis 19. September waren dies laut UNHCR rund 550.000 Menschen.
Auch die Türkei schiebt massiv nach Afghanistan ab. Exakte Zahlen gibt es nicht, aber eine Größenordnung: 2019 waren laut OCHA mindestens 16.000 Afghan*innen davon betroffen, IOM vermeldete bis Mitte November 2019 sogar rund 24.000 Rückführungen von der Türkei nach Afghanistan. Die Türkei hatte die Abschiebung von 100.000 Afghan*innen in 2019 angedroht (Seite 28, OCHA-Bericht), die Lage afghanischer Geflüchteter im Land wird von Tag zu Tag prekärer.
Hinzu kommen weitere rund 185.000 Binnenvertriebene seit Jahresbeginn 2020 aufgrund von Konflikten und Gefechten in 30 von 34 Provinzen des Landes (Quelle: OCHA, Stand 27. September).
Gewalt in Afghanistan geht weiter
Laut Global Peace Index 2020 ist Afghanistan bereits das zweite Jahr in Folge das unsicherste Land der Welt – noch vor Syrien. Der Halbjahresbericht 2020 der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) zeigt, dass die Gewalt in Afghanistan weiter ungebrochen ist und tausende zivile Opfer fordert. Zwar sei die Zahl mit insgesamt 3.484 dokumentierten Toten und Verletzten im Vergleicht zum Vorjahreszeitraum leicht rückläufig; UNAMA schreibt diese Entwicklung dem Rückzug der US-Truppen und dem geringeren Anteil durch Anschläge und Gefechte mit Beteiligung des sogenannten Islamischen Staates (IS) zu.
Die Gewalt zwischen Taliban und den afghanischen Regierungskräften geht trotz innerafghanischer Verhandlungen seit 12. September in Doha jedoch unvermindert weiter (siehe Beispiele hier und hier). Dem Long War Journal zufolge sind 66 Prozent des Landes entweder in Taliban-Hand oder zwischen Taliban und den Regierungskräften umkämpft.
Corona-Pandemie verschärft die Lage
Noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie war laut Schätzungen von OCHA mehr als ein Viertel der Bevölkerung Afghanistans auf humanitäre Hilfe angewiesen (9.4 von rund 38 Millionen). Wie das kaum existierende Gesundheitssystem in Afghanistan den Ausbruch von Covid-19 bewältigen soll, ist unklar.
Nach Recherchen der Wissenschaftlerin Friederike Stahlmann standen im März im Afghan-Japan-Krankenhaus in Kabul, das zur nationalen Anlaufstelle für behandlungsbedürftige Corona-Patient*innen bestimmt wurde, lediglich 100 Betten zur Verfügung. Zudem sei es nur möglich, vier (!) Patient*innen gleichzeitig mit Sauerstoff zu versorgen.
Die afghanische Regierung hatte zur Eindämmung der Pandemie einen Lockdown bis einschließlich September beschlossen. Der Lockdown hat unter anderem zur Folge, dass auch NGOs und humanitäre Organisationen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind und daher ihre dringend benötigte Unterstützung nicht ankommt oder für die Betroffenen nicht erreichbar ist. In Folge der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus haben 2 Millionen Afghan*innen ihre Jobs verloren, der Arbeitsmarkt für Tagelöhner, auf die das BAMF und deutsche Gerichte afghanische Asylsuchende gerne verweisen, ist kaum existent. (Ausführliche Informationen über die Auswirkungen von Covid-19 in Afghanistan gibt es hier.)
Keine Abschiebungen nach Afghanistan!
PRO ASYL erneuert die Forderung nach einem Abschiebungsstopp nach Afghanistan. Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete darf es nicht geben. PRO ASYL unterstützt zudem das europaweite Statement des Europäischen Flüchtlingsrats (ECRE) gegen die Abschiebungspläne der EU für Afghanistan.
(akr/ame)