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Abschiebungen in Zeiten flüchtlingsfeindlicher Debatten – Rechtsstaatlichkeit adé?
Die Rufe nach mehr Abschiebungen werden in der Politik immer lauter. Sie werden als »die Lösung« für überlastete Verwaltungsstrukturen dargestellt. Nun fordert das Bundesinnenministerium in einem Gesetzesentwurf weitere Verschärfungen der ohnehin brutalen Abschiebepraxis. Wir geben einen Überblick über bestehende und geplante Regelungen.
Realitätsferne Debatte um Ausreisepflichtige
Der Diskurs um mehr Abschiebungen und die vorgesehenen Verschärfungen im aktuellen Gesetzentwurf des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) sind angesichts der aktuell geringen Zahl an Ausreisepflichtigen sowie der bereits bestehenden harten Abschiebepraxis nicht nur völlig losgelöst von der Realität. Sie gehen auch an den tatsächlichen Bedarfen von Kommunen und Asylbewerber*innen und somit an echten Lösungen für bestehende Herausforderungen vorbei.
Aktuell werden mehr als 70 Prozent der Schutzsuchenden, die in Deutschland ein Asylverfahren durchlaufen, anerkannt. Für sie braucht es langfristig durchdachte politische Strategien, damit der Zugang zu bezahlbaren Wohnungen sowie zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt sichergestellt wird. Das wären Lösungen, die den tatsächlichen Problemen gerecht werden, die den Menschen ein würdiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen und die den rechten Parolen langfristig den Wind aus den Segeln nehmen.
Politiker*innen konzentrieren sich derweil aber lieber auf eine viel kleinere Gruppe der Geflüchteten, nämlich auf die Ausreisepflichtigen. Dabei bestätigen die aktuellen Zahlen die langjährigen Forderungen von PRO ASYL: Nicht die ständig herbeigerufene Abschiebungsoffensive, sondern nur eine konsequente und großzügige Anwendung des Chancen-Aufenthaltsrechts und anderer Bleiberechtsregelungen senken die Zahl der Ausreisepflichtigen und Geduldeten wirksam. So ist die Zahl der Geduldeten innerhalb der ersten acht Monate dieses Jahres um 15 Prozent gesunken, was insbesondere auf rund 37.000 erteilte Aufenthaltstitel nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht zurückzuführen ist.
Weitere Verschärfungen unverhältnismäßig
Lediglich neun Prozent der aktuell rund 211.000 geduldeten Menschen wird vorgeworfen, ihre eigene Abschiebung zu verhindern, sie erhalten die »Duldung light«. Viele der restlichen 91 Prozent können aus durch das Gesetz geschützten Gründen, wie zum Beispiel aus humanitären Gründen, nicht abgeschoben werden.
Zudem ist die Anzahl der Ausreisepflichtigen nach Jahren des Anstiegs erstmals um 25.000 (8,3 Prozent) gesunken. Von ihnen sind bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2023 knapp 8.000 Menschen abgeschoben worden. Diese Zahl ließe sich selbst durch die restriktivsten neuen Abschieberegeln lediglich um wenige Hunderte Abschiebungen erhöhen, was somit in keinem Verhältnis zu den damit einhergehenden Rechtsverletzungen steht.
Die Zahl der Abschiebungenl ließe sich selbst durch die restriktivsten neuen Abschieberegeln lediglich um wenige Hundert erhöhen, was somit in keinem Verhältnis zu den damit einhergehenden Rechtsverletzungen steht.
Nachdem die Coronapandemie zunächst zu einem kleinen Einbruch der Abschiebungen führte, wurden im Jahr 2022 bereits wieder 13.000 Personen abgeschoben. Im ersten Halbjahr 2023 gab es mit 7.861 Abschiebungen wiederum einen Anstieg von 26,8 Prozent verglichen mit dem gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Rechtlich fragwürdige Gesetzesvorschläge
In einem Antrag der CDU/CSU kopiert die Fraktion rechtspopulistische Forderungen. Das Ministerium von Nancy Faeser (SPD) greift diese auf und legte am 12.10.2023 einen Gesetzesentwurf zur »Verbesserung der Rückführung« vor. Darin sind zum Thema Abschiebungen viele rechtlich fragwürdige Ansätze enthalten, darunter massive Grundrechtseinschränkungen, neue Straftatbestände für Geflüchtete und erweiterte Kompetenzen der Polizei. PRO ASYL hat die geplanten Verschärfungen genauer in den Blick genommen:
Geplante Verschärfungen
Zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität in Deutschland schlägt Innenministerin Faeser vor, dass es künftig möglich sein soll, Personen auszuweisen, wenn »Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen«, dass sie Angehörige einer kriminellen Vereinigung im Sinne des § 129 StGB sind oder waren. Bislang bedurfte es für eine Ausweisung einer strafrechtlichen Verurteilung. Sollte der Gesetzentwurf beschlossen werden, ist eine rechtskräftige Verurteilung nicht mehr für die Ausweisung nötig. Dann sollen die auf Tatsachen gestützten Schlussfolgerungen ausreichen, um festzustellen, dass eine Person einer kriminellen Vereinigung angehört. Es ist zu befürchten, dass die Tatsachen, die für eine Ausweisung seitens der Ausländerbehörden angeführt werden, gänzlich unzureichend sein werden. So reicht beispielsweise im Falle des Verdachts von sogenannter Clan-Kriminalität die gleiche Familienzugehörigkeit, Heirat, ein ähnlicher Familienname oder derselbe Wohnort für eine Ausweisung aus. Diese Regelung schränkt die Rechte der betroffenen Personen erheblich ein und bringt sie in eine Situation der Pauschalverdächtigung. Darüber hinaus wird bereits der Begriff der »Clan-Kriminalität« nur mit diffusen Merkmalen wie »Ethnie« oder »ethnisch abgeschottete Subkulturen« bzw. neuerdings dem »gemeinsamen Abstammungsverständnis« beschrieben. Dies basiert auf Annahmen über »kulturelle Eigenheiten« bzw. einem »Gefahrenpotenzial bestimmter Ethnien«, die in keiner Weise wissenschaftlich fundiert sind.
Ausreisepflichtige sollen nach dem Entwurf häufiger in Abschiebehaft genommen werden können, etwa bereits bei dem Vorwurf der Verletzung von Mitwirkungspflichten.
Nach der bisherigen Rechtslage konnte die Sicherungshaft nur angeordnet werden, wenn die betroffene Person nach einer sogenannten unerlaubten Einreise ausreisepflichtig wird, Fluchtgefahr besteht oder gegen die betroffene Person eine Abschiebungsanordnung aufgrund einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen wurde. Diese Regelung soll nun auf Fälle erweitert werden, in denen Personen entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet eingereist sind oder nach einer erlaubten Einreise ausreisepflichtig werden. Damit könnte faktisch jede Person, die ausreisepflichtig ist, in Sicherungshaft genommen werden. Dies ist in Anbetracht des massiven Eingriffes in die Privatsphäre eines Menschen und des Instrumentes der Inhaftierung als letztes Mittel im Strafrecht völlig unverhältnismäßig.
Zudem soll die mögliche Dauer der Sicherungshaft von drei auf sechs Monate verlängert werden, wenn die Ausreise der Personen nicht durchführbar ist – etwa weil der Zielstaat sich weigert, die ausreisepflichtige Person wieder aufzunehmen. Bisher wird die Sicherungshaft dann beendet, wenn der Zielstaat die Aufnahme in den nächsten drei Monaten verweigert. Künftig soll die Sicherungshaft auch dann möglich sein, wenn die Verweigerung des Zielstaates in den nächsten sechs Monaten vermutlich wegfallen wird. Somit wird auch hier das Mittel der Haft unverhältnismäßig angewendet und die Dauer der Inhaftierung der geflüchteten Person von der Staatspolitik des Herkunftslandes abhängig gemacht.
Die Mitwirkungshaft kann bereits dann angeordnet werden, wenn die Behörden der Ansicht sind, dass eine geflüchtete Person einer Aufforderung zur Klärung ihrer Identität nicht nachkommt. Völlig außer Acht gelassen wird die Tatsache, dass viele geflüchtete Personen sehr intensiv versuchen, ihre Identität zu klären, jedoch trotz Bemühungen keinen Pass von ihrer Botschaft erhalten können. Diese Bemühungen sollten von den Behörden anerkannt werden, anstatt den Menschen fehlende Mitwirkung zu unterstellen. Würden zudem die Ausländerbehörden statt des Nationalpasses auch andere Identitätsnachweise anerkennen oder die Identität per eidesstattlicher Versicherung final klären lassen, gäbe es den Tatbestand der »ungeklärten Identität« so gut wie nicht mehr.
Das BMI will damit erneut die Rahmenbedingungen der Abschiebung verschärfen und lässt dabei jegliche Verhältnismäßigkeit vermissen. Jetzt schon sind die Hälfte der sich in Abschiebehaft befindlichen Menschen zu lange oder zu Unrecht in Haft.
Neben der Abschiebehaft sieht das Aufenthaltsgesetz die Möglichkeit der Ausdehnung des Ausreisegewahrsams zur Erleichterung der Durchführung der Abschiebung vor. Gegen das bereits bestehende Ausreisegewahrsam wurden seit seiner Einführung im Jahre 2015 verfassungs- und europarechtliche Bedenken geäußert, weil es gänzlich unabhängig vom Vorliegen eines Haftgrundes die faktische Inhaftierung ermöglicht. Dennoch soll es nun auch noch ausgedehnt werden.
Bislang durften Personen maximal zehn Tage in Gewahrsam genommen werden, und das auch nur in Grenznähe. Nun soll diese faktische Inhaftierung bis zu 28 Tage und in jeder geeigneten Einrichtung im Bundesgebiet möglich gemacht werden. Die fast dreifache Verlängerung wird damit begründet, dass die bisherigen zehn Tage in der Praxis häufig zu kurz seien, um die Abschiebung durchzuführen. Es sind aber rechtliche und tatsächliche Gründe, die den meisten Abschiebungen entgegenstehen, nicht fehlende Zeit. Es darf nicht vergessen werden, dass es hier um Menschen geht, die ohne Straftatbestand de facto inhaftiert werden.
Nach den Vorschlägen des BMI soll ein Asylverfahren nicht mehr der Abschiebungshaft entgegenstehen. Bisher wird durch die Stellung eines Asylgesuchs die Haft beendet und den Asylsuchenden zur Durchführung des Asylverfahrens eine Aufenthaltsgestattung erteilt. Diese Neuregelung stellt eine eklatante Erweiterung der Möglichkeit von Abschiebehaft dar, lässt jegliche Verhältnismäßigkeit vermissen, verdächtigt pauschal jede*n Asylantragstellende*n eines sogenannten Missbrauchs des Asylverfahrens und ist im Kern auch europarechtswidrig. Nach den europarechtlichen Bestimmungen kann die Haft von Asylsuchenden nur bei Erfordernissen von Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung angeordnet werden. Diese Neuregelung bedient sich dem Narrativ, dass Geflüchtete eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit seien, auch wenn sie zulässige Gründe eines Asylgesuchs haben.
Das Befugnis für Polizei und Behörden, eine Wohnung zu betreten um Personen zur Abschiebung abzuholen, soll erweitert werden. Bisher darf die Wohnung, bzw. der Wohnraum in der Gemeinschaftsunterkunft, nur betreten werden, »wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass sich die Person dort befindet«. Bereits dieses Eindringen in Privaträume, für das sonst nach Artikel 13 Grundgesetz eigentlich zwingend ein Durchsuchungsbeschluss notwendig ist, ist rechtlich stark umstritten. Da Abschiebungsversuche oft nachts stattfinden, werden so sämtliche Bewohner*innen aus dem Schlaf gerissen, was nachweislich hochgradig traumatisierend und verängstigend wirkt, insbesondere für Kinder.
Zudem soll der Begriff der »Wohnung« nach der Neuregelung auch Wohnungen in der Gemeinschaftsunterkunft und sonstige Räumlichkeiten von Dritten umfassen. Dadurch wird die Befugnis der Behörden auf das »Betreten« jeglicher Räumlichkeiten erweitert, wenn diese annehmen, dass sich die gesuchte Person dort befinden könnte. Diese Neuregelung ohne Erfordernis einer richterlichen Genehmigung stellt einen eklatanten Grundrechtseingriff gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung dar.
Bisher war eine einwöchige Ankündigung der Abschiebung nötig, wenn sich die ausreisepflichtige Person auf richterliche Anordnung in Haft oder sonstigem öffentlichen Gewahrsam befunden hat. Künftig soll diese Ankündigung (mit Ausnahme von Familien mit Kindern unter 12 Jahren) wegfallen; als Begründung wird die Entlastung der Ausländerbehörden genannt. Die enorme psychische Belastung der geflüchteten Menschen, die in alltäglicher Angst vor der Abschiebung leben müssen, wird vollkommen außer Acht gelassen.
Bereits jetzt bestehende Rechtsverletzungen bei Abschiebungen
Abschiebungen werden von der Politik häufig nicht nur als Lösung für soziale Probleme und überlastete Strukturen dargestellt, sondern auch als notwendiges Instrument für die Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit. Jedoch finden innerhalb dieses Feldes etliche Rechtsverletzungen statt, die nun mit dem neuen Gesetzesentwurf noch ausgeweitet werden könnten.
Dabei widersprechen nicht nur die neuen Ideen von BMI und CDU/CSU in Teilen dem deutschen Grundgesetz oder auch der europäischen Rechtsprechung. Sie reihen sich zudem in die bestehende häufig rechtswidrige Abschiebepraxis ein. Diese lässt sich schwer im Nachgang juristisch aufarbeiten, weil der Kontakt zu Abgeschobenen schwer aufrechtzuerhalten ist, den Betroffenen finanzielle Mittel für Gerichtsprozesse fehlen und Zeug*innen nicht aussagen wollen oder können. Einige Rechtsverletzungen finden jedoch keineswegs im Verborgenen statt und werden von Politik und Polizei auch nicht abgestritten. Im Folgenden haben wir einige dieser bestehenden Rechtsverletzungen ausgeführt:
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Abholungen zur Nachtzeit
Auch wenn im § 58 (7) des Aufenthaltsgesetzes klar geregelt ist, dass Abholungen zum Zwecke der Abschiebung zur Nachtzeit nur in Ausnahmefällen erlaubt sind, und die Organisation einer Abschiebung keinen Rechtfertigungsgrund darstellt, Erwachsene und Kinder aus dem Schlaf zu reißen und abzuschieben, ist dies jedoch die Regel. Meist werden dafür organisatorische Gründe angegeben, die eigentlich gesetzlich ausgeschlossen sind: Flugzeiten, vorgeschriebene Ankommenszeiten in den Herkunftsländern oder der Transport der Menschen zu Flughäfen in anderen Bundesländern.
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Betreten statt Durchsuchen
Art. 13 des Grundgesetzes schützt die private Wohnung vor willkürlichem Eindringen privater Dritter, aber auch staatlicher Behörden. Deshalb ist im Grundgesetz festgelegt, dass nur im Ausnahmefall die Wohnung ohne richterlichen Beschluss durchsucht werden kann.
Für Geflüchtete gilt jedoch das Grundgesetz an dieser Stelle nicht. Für ein polizeiliches Eindringen in die private Wohnung zum Zwecke der Abschiebung wurde im Jahr 2019 im zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht die Definition des »Betretens« statt des »Durchsuchens« eingeführt. So können die Vorgaben des Grundgesetzes umgangen werden. Dies soll nun noch auf Nebenwohnräume in Unterkünften ausgeweitet werden, wie oben beschrieben.
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Handyabnahme
Das Grundgesetz regelt in Artikel 19 Absatz 5 den Zugang eines jeden Menschen zu effektivem Rechtsschutz. Bei Abschiebungen wird jedoch regelmäßig zu Beginn der Abschiebemaßnahme das Mobiltelefon entzogen. So können Anwält*innen nicht informiert werden. In der Regel ist ein Anruf erst am Flughafen kurz vor der Abschiebung vom Telefon der Bundespolizei erlaubt. Dazu wird jedoch der Erfahrung von PRO ASYL nach oft nicht das Mobiltelefon herausgegeben, so dass die Betroffenen meist die Nummer der Anwält*innen nicht zur Hand haben. Somit ist der Zugang zum effektiven Rechtsschutz versperrt.
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Familientrennungen
Artikel 6 des Grundgesetzes regelt den Schutz der Familieneinheit. Trotzdem kommt es bei Abschiebungen regelmäßig zu Familientrennungen, wenn nicht die gesamte Familie angetroffen wird. Zwar erlaubt die nationale Gesetzgebung unter bestimmten Voraussetzungen die Familientrennung bei Abschiebemaßnahmen. Dies ist jedoch besonders für Kinder hochgradig traumatisch und widerspricht der Prämisse des Kindeswohls (§ 1 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII). Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter stellt in ihrem Jahresbericht 2022 außerdem fest, dass trotz eindringlicher Empfehlungen festgestellt worden sei, dass die Achtung des Kindeswohls bei Abschiebungsmaßnahmen regelmäßig nicht ausreichend berücksichtigt wird. Zudem kommt es laut Augenzeug*innenberichten auch im Beisein von Kindern immer wieder zu Polizeigewalt gegen die Eltern, was psychisch für die Kinder sehr verstörend ist.
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Keine Anerkennung fachärztlicher Atteste
Die Anforderungen an fachärztliche Atteste, die eine Abschiebung verhindern und einen humanitären Duldungsgrund generieren, sind sehr hoch. Und auch trotz detaillierter fachärztlicher Atteste, kommt es nicht selten vor, dass bei den Abschiebemaßnahmen ein*e Amtsärzt*in zugegen ist, die die abzuschiebende Person »gesund schreibt«. Meist handelt es sich um Allgemeinmediziner*innen, deren Atteste bereits vorliegende fachärztliche Gutachten außer Kraft setzen können. So werden immer wieder Menschen, die von medizinischem Fachpersonal eigentlich als psychisch und physisch schwer krank erkannt wurden, trotzdem abgeschoben – auch in Länder, in denen keine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet ist.
Einzelfälle: Was Abschiebungen jenseits der Zahlen bedeuten
Der kurdische Familienvater Can* lebt seit seiner Jugend seit 25 Jahren in Deutschland. Er ist mit einer Deutschen verheiratet, beide haben vier gemeinsame Kinder, das jüngste ist erst vier Jahre alt. Can hat eine schwere Geschichte hinter sich: Seine Familie war in der Türkei politisch aktiv, der Vater wurde inhaftiert und gefoltert, der Onkel von Soldaten ermordet. Aufgrund dieser Erlebnisse und der Angst vor einer Abschiebung ist Can massiv traumatisiert und hat mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen.
Can ist Mitglied in einem kurdischen Kulturverein. Weil er an Demonstrationen teilgenommen hatte, wurde ihm unterstellt, Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Obwohl dazu nie ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde, wurde seine Aufenthaltserlaubnis nicht mehr verlängert. Bei einer Verkehrskontrolle passierte es dann: Can wurde inhaftiert und es drohte eine menschenrechtlich äußerst kritische Abschiebung in die Türkei.
Die Familie kontaktierte das Beratungsteam von PRO ASYL. Der durch die Rechtshilfe von PRO ASYL unterstützte Anwalt schaffte es, die Entlassung aus der Abschiebehaft zu bewirken, weil das Gericht die Trennung der Kinder vom Vater als kindeswohlgefährdend und europarechtswidrig ansah. Nun kämpft Can mit Unterstützung von PRO ASYL weiter darum, bei seiner Familie in Deutschland bleiben zu können.
Mahdia* floh zusammen mit ihren Eltern und minderjährigen Geschwistern vor dem Taliban-Regime in Afghanistan. Der Fluchtweg führte sie über Polen, wo sie ihre Fingerabdrücke abgeben mussten. Nach der Asylantragstellung in Deutschland wurde ein Dublin-Verfahren eingeleitet: Die Familie sollte nach Polen abgeschoben werden. Die Eltern waren aufgrund der traumatischen Erlebnisse auf der Flucht in psychiatrischer stationärer Behandlung – trotzdem wurde die 19-jährige Mahdia im Winter letzten Jahres von ihrer Familie getrennt nach Polen abgeschoben.
Dort wurde sie dem polnischen Grenzschutz übergeben und erhielt einen Zettel mit einer Adresse. Ohne weitere Informationen, Verpflegung oder Geld sollte sie einem Lager an der Grenze zur Ukraine gehen. Die Reise unweit des Kriegsgeschehens dauerte tagelang. Im Lager angekommen, war sie vor Übergriffen nicht geschützt und wurde belästigt. Nur zur Essensausgabe traute sie sich aus dem Zimmer. Mahdia ist inzwischen eigenmächtig wieder zu ihrer Familie nach Deutschland zurückgekehrt, die Trennung hielt sie nicht aus. Sie leidet seitdem unter starken Ängsten, die Abschiebung hat sie noch nicht verarbeitet.
Andrés* aus Venezuela stellte 2020 einen Asylantrag in Deutschland, der abgelehnt wurde. Da er durch traumatisierende Erlebnisse in Venezuela an einer posttraumatischen Belastungsstörung und Panikattacken litt – Symptome, die durch die drohende Abschiebung noch verstärkt wurden – war er in psychotherapeutischer Behandlung. Ein Antrag auf ein Abschiebungsverbot wurde dennoch abgelehnt, da das Attest nicht als ausreichend erachtet wurde. Trotzdem schaffte es Andrés, sich in Deutschland etwas aufzubauen: Er hatte einen unbefristeten Vertrag als Mitarbeiter in einem Warenlager und verlobte sich. Doch diese Stabilität wurde ihm entrissen.
Andrés war gerade bei seiner Verlobten zu Besuch, als an einem Sonntag im Sommer 2023 die Polizei klingelte, um Andrés für die Abschiebung abzuholen. Aus Angst übergab er sich mehrere Male, trotzdem wurde er mitgenommen. Nachdem ein vom Anwalt gestellter Eilantrag abgelehnt wurde, brachten die Beamten Andrés zum Flughafen. Auf der Fahrt musste er sich mehrfach übergeben, erbrach sogar Blut. Seine Bitte nach einem Arzt wurde abgelehnt. Die Abschiebung wurde durchgeführt.
Nun ist Andrés in Venezuela, seine dort dringend notwendige medizinische Versorgung zahlt seine Verlobte. Er hofft darauf, wieder zu ihr und ihrer kleinen Tochter, die regelmäßig nach ihm fragt, zurückkehren zu können, doch vor dieser Wiedervereinigung stehen noch viele rechtliche Hindernisse.
*Namen geändert
(je / nb / ta)