23.12.2023
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Ein Sinnbild deutscher Abschiebepolitik: Eine schwer ausgerüstete Polizeieinheit holt am 20.12. eine afghanische Familie aus Kirchenräumlichkeiten in Schwerin. Mehr zu diesem Fall. Foto: picture alliance/dpa/Bernd Wüstneck

Nachts aus dem Bett, am Arbeitsplatz, beim Behördenbesuch, im Krankenhaus oder gar im Kirchenasyl abholen: Wenn es darum geht, rücksichtslos die angekündigte »Abschiebeoffensive« durchzusetzen, gab es für die Behörden im Jahr 2023 kaum noch Grenzen. Zehn Fälle, die exemplarisch für viele andere stehen.

»In den ers­ten zehn Mona­ten des lau­fen­den Jah­res wur­den bereits mehr Men­schen abge­scho­ben als im gesam­ten Jahr 2022« schreibt die tages­schau zu einer Ant­wort auf eine Anfra­ge der Links­par­tei im Bun­des­tag. Allein von Janu­ar bis Okto­ber gab es über 13.500 Abschie­bun­gen, dazu kom­men fast 24.000 »frei­wil­li­ge« Aus­rei­sen. Trotz­dem hören die Rufe aus der Poli­tik nach »mehr Abschie­bun­gen« nicht auf. Kurz vor Weih­nach­ten einig­ten sich die Regie­rungs­frak­tio­nen auf stark ver­schärf­te Abschie­bungs­re­geln, etwa mas­si­ve Aus­wei­tung der Abschie­bungs­haft. Was das in der Pra­xis bedeu­tet, doku­men­tie­ren wir jähr­lich und stel­len auch für 2023 wie­der zehn exem­pla­ri­sche Fäl­le aus dem All­tag unse­res Bera­tungs­teams oder aus den Lan­des­flücht­lings­rä­ten vor.

Die Fäl­le aus den Vor­jah­ren kön­nen hier nach­ge­le­sen wer­den: 2022, 2021, 2020, 2019, 2018.

#1 Morgens um 9 im Sägewerk

Musa Nije arbei­tet am 4. August wie gewohnt im Säge­werk in Kanz­ach (Baden-Würt­tem­berg), wo er seit sechs Jah­ren beschäf­tigt ist. Bis um 9 Uhr mor­gens die Poli­zei erscheint, wie »die Schwä­bi­sche« berich­tet. Gegen den Pro­test sei­nes Arbeit­ge­bers wird Musa Nije in Hand­schel­len abge­führt und nach Gam­bia abge­scho­ben, von wo er 2016 geflo­hen war.

Zum Ver­häng­nis wird dem jun­gen Mann vor allem, dass er wie so vie­le Geflüch­te­te Schwie­rig­kei­ten bei der Pass­be­schaf­fung hat­te. Auf­grund der nicht recht­zei­ti­gen Vor­la­ge erhielt er eine Stra­fe und konn­te trotz sei­ner lang­jäh­ri­gen Voll­zeit­be­schäf­ti­gung und der Tat­sa­che, dass er an sei­nem Arbeits­platz unent­behr­lich ist, nicht vom »Chan­cen-Auf­ent­halts­recht« pro­fi­tie­ren. Bei der Abschie­bung konn­te Musa weder sei­ne Hab­se­lig­kei­ten noch die Erspar­nis­se von sei­nem Kon­to mit­neh­men und stand somit mit­te­los in Ban­jul, der Haupt­stadt von Gam­bia. Um die­se Din­ge küm­mern sich nun sei­ne Freun­de und sein enga­gier­ter Arbeit­ge­ber, die auch wei­ter für eine Rück­kehr von Musa kämp­fen. Aktu­ell hat die­ser aber eine Ein­rei­se­sper­re von 36 Mona­ten – auch das ist bei Abschie­bung lei­der trau­ri­ger Alltag.

#2 Kettenabschiebung nach Kabul

Der Iran und Afgha­ni­stan – bei­des Län­der, in denen jun­ge Frau­en vor gro­ßen Schwie­rig­kei­ten ste­hen. Daher wird nor­ma­ler­wei­se dort­hin aktu­ell auch nicht abge­scho­ben. Anders war das lei­der im März 2023. Bah­dia W.* reist mit einem ira­ni­schen Pass am Flug­ha­fen Frank­furt ein. Im Flug­ha­fen-Schnell­ver­fah­ren gel­ten ande­re Regeln als im regu­lä­ren Asyl­ver­fah­ren. Wie so oft lau­tet das Resul­tat auch bei Bah­dia W.: Der Asyl­an­trag sei »offen­sicht­lich unbe­grün­det«. Dass die jun­ge Frau in Wahr­heit aus Herat in Afgha­ni­stan stammt und auch das afgha­ni­sche Gene­ral­kon­su­lat ihre Iden­ti­tät bestä­tigt, half eben­so wenig wie eine eides­statt­li­che Erklä­rung des Bru­ders, wie die Frank­fur­ter Rund­schau berich­tet. Ein DNA-Test wur­de abge­lehnt, der ira­ni­sche Pass für echt erklärt und Bah­dia W. nach Tehe­ran zurück­ge­flo­gen – trotz des eigent­lich gel­ten­den bun­des­wei­ten Iran-Abschie­be­stopps zu jener Zeit. Von dort wur­de sie laut ihrem Bru­der direkt wei­ter nach Kabul abge­scho­ben, wo sie nun der Will­kür der Tali­ban aus­ge­lie­fert ist.

#3 Christlicher Konvertit landet nach Abschiebung in Haft

»Für mich per­sön­lich ist die Aus­rei­se nach Mau­re­ta­ni­en das Ende mei­nes Lebens«, schreibt Sidi unse­rem Bera­tungs­team aus einer Abschie­be­haft­ein­rich­tung. Sidi war 2018 mit einem Visum zum stu­di­en­vor­be­rei­ten­den Sprach­kurs in Deutsch­land ein­ge­reist und ver­lor sei­nen Auf­ent­halts­ti­tel, weil er eine Prü­fung nicht bestand. Wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts in Deutsch­land lernt er das Chris­ten­tum ken­nen und beginnt im Jahr 2022 mit einem Tauf­vor­be­rei­tungs­kurs. Die Tau­fe selbst erfolgt schließ­lich in der Abschie­be­haft in Büren, in der er gan­ze vier Mona­te lang saß. 54 Tage lang wur­de er dort alle 15 Minu­ten lang kon­trol­liert – auch nachts – da er sich beim ers­ten Abschie­be­ver­such selbst ver­letzt hat­te. In Abschie­be­haft stellt Sidi auch einen Asyl­an­trag, der von den Behör­den als »offen­sicht­lich unbe­grün­det« abge­lehnt wird – das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge bewer­tet die Kon­ver­si­on zum Chris­ten­tum als unglaub­wür­dig. Sein Tauf­pa­te und Gemein­de­re­fe­rent der Pfar­rei in Wup­per­tal, in der er sich zur Tau­fe vor­be­rei­te­te, ist hin­ge­gen von sei­nem Glau­ben über­zeugt: »Bereits in den ers­ten Gesprä­chen wur­de sein gro­ßes Inter­es­se am christ­li­chen Glau­ben sicht­bar. An sei­nem Tauf­wunsch und des­sen Echt­heit bestand mei­ner­seits kei­ner­lei Zwei­fel«. Aber auch alle Bemü­hun­gen unse­res Bera­tungs­teams oder eine Peti­ti­on an den Land­tag hel­fen nichts: Am 10. Juli schie­ben die Behör­den in Nord­rhein-West­fa­len ihn trotz­dem ab, die Abschie­bung ist ihnen sogar einen eige­nen Char­ter­flug für Zehn­tau­sen­de Euro wert.

»Für mich per­sön­lich ist die Aus­rei­se nach Mau­re­ta­ni­en das Ende mei­nes Lebens«

Sidi

Die schlimms­te Nach­richt kommt aber danach: Sidi, der dazu noch über­haupt nicht in Mau­re­ta­ni­en auf­ge­wach­sen ist, mel­det sich nach eige­nen Anga­ben aus einem Gefäng­nis im mau­re­ta­ni­schen Nouak­chott. Ihm wird Apo­sta­sie, die Abkehr vom Glau­ben, vor­ge­wor­fen. Auf die­ses »Ver­ge­hen« steht im nord­afri­ka­ni­schen Land die Todes­stra­fe. Die Ver­hän­gung ist unwahr­schein­lich, eine län­ge­re Gefäng­nis­stra­fe hin­ge­gen nicht. Das Abschie­bungs­re­port­ing NRW ver­folgt den Fall weiterhin.

#4 Umzug anordnen, Briefe an alte Adresse schicken, abschieben: Niedersächsischer Behördenirrsinn

Saman Awad* ist Mit­te 2022 umge­zo­gen – aus der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung in Bad Fal­ling­bos­tel in die Sam­mel­un­ter­kunft nach Burg­we­del. Die Behör­den wuss­ten nicht nur davon, sie hat­ten den Umzug gar ange­ord­net, berich­tet die taz. Und trotz­dem wur­de das Herrn Awad zum Ver­häng­nis. Der Asyl­an­trag des Paläs­ti­nen­sers wur­de abge­lehnt, da er schon in Grie­chen­land einen Schutz­sta­tus hat. Das ist nicht nur des­halb schwie­rig, weil just das nie­der­säch­si­sche Ober­ver­wal­tungs­ge­richt in Lüne­burg erst 2021 urteil­te, dass die Bedin­gun­gen für aner­kann­te Flücht­lin­ge in Grie­chen­land unzu­mut­bar sind – son­dern vor allem, weil Saman Awad der Bescheid nie zuge­stellt wurde.

Das Schrift­stück lan­de­te bei sei­ner alten Adres­se. Als er davon Kennt­nis bekam, war die Frist zur Kla­ge­ein­rei­chung aller­dings bereits vor­bei. Prompt folg­te ein Abschie­be­ver­such, bei dem er sich nur mit einem Sprung aus dem zwei­ten Stock zu hel­fen wuss­te. Seit­her ist er in psych­ia­tri­scher Behand­lung, der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen unter­stützt ihn und kom­men­tiert den Fall: »Dem Betrof­fe­nen wird mit for­mal­ju­ris­ti­schen Argu­men­ten ver­wehrt, die Ableh­nung sei­nes Asyl­an­trags gericht­lich über­prü­fen zu las­sen. Erschre­ckend ist dies ins­be­son­de­re auch, weil alle Betei­lig­ten wis­sen, dass den Geflüch­te­ten in Grie­chen­land ein Leben auf der Stra­ße in bit­ters­tem Elend erwar­tet.«

#5 Mutter und Kind alleine, Vater obdachlos 

Ana­sta­sia und Gena­di Mai­su­rad­se* kamen 2018 nach Deutsch­land, drei Jah­re spä­ter wird in Ebers­wal­de (Bran­den­burg) ihre Toch­ter gebo­ren. Die klei­ne Fami­lie will sich inte­grie­ren, immer wie­der ver­wei­gert die Aus­län­der­be­hör­de Herrn Mai­su­rad­se aber eine Arbeits­er­laub­nis. Im Febru­ar beginnt er gegen alle Wider­stän­de trotz­dem mit einer Aus­bil­dung in der Gas­tro­no­mie. Die Behör­den haben aber ande­re Plä­ne, sie wol­len »eine fak­ti­sche Inte­gra­ti­on« sogar ver­hin­dern, um leich­ter abschie­ben zu kön­nen – was am 19. April auch geschieht. Sei­ne Frau und die Toch­ter wer­den bei der Abschie­bung jedoch nicht ange­trof­fen und blei­ben jetzt allei­ne und ver­zwei­felt zurück. Gena­di Mai­su­rad­se ist in Geor­gi­en nach ihren Infor­ma­tio­nen nun obdach­los, mit der Unter­stüt­zung loka­ler Flücht­lings­in­itia­ti­ven wird ver­sucht, sei­ne Rück­kehr zu ermöglichen.

#6 Wenn das Fernsehteam an der Ausländerbehörde wartet…

Ahmad S. muss am 2. Novem­ber zur Aus­län­der­be­hör­de im Land­kreis Dah­me-Spree­wald. Das Amt will sei­ne Lohn­be­schei­ni­gun­gen sehen, damit die Wohn­sitz­auf­la­ge auf­ge­ho­ben wer­den kann, denn Herr S., ein Kur­de aus dem Nord­irak, arbei­tet mitt­ler­wei­le in einem unbe­fris­te­ten Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis und ist mit einer Arbeits­er­laub­nis bis 2027 aus­ge­stat­tet. Aber an der Aus­län­der­be­hör­de geht es nicht um die Wohn­sitz­auf­la­ge, dort war­tet wie mitt­ler­wei­le häu­fig die Poli­zei. Aller­dings nicht allei­ne, sie hat zu allem Über­fluss sogar ein Fern­seh­team im Gepäck, das die Abschie­bung von Ahmad S. in den Irak beglei­ten will.

»Denn der Ira­ker Ahmad S. hat an die­sem Mor­gen einen Ter­min bei der Aus­län­der­be­hör­de, um etwas über sei­ne Arbeit zu klä­ren. Ahmad S. weiß aber noch nicht, dass er an die­sem Tag in den Irak abge­scho­ben wer­den soll«, beschreibt der RBB die­sen unmensch­li­chen Vor­gang spä­ter lapi­dar. Die Abschie­bung per Lini­en­flug nach Bag­dad wird jedoch abge­bro­chen, mitt­ler­wei­le läuft unter­stützt vom Flücht­lings­rat Bran­den­burg ein Antrag vor der Härtefallkommission.

#7 Den Behörden in NRW ist das Kirchenasyl nicht heilig

Seit über 40 Jah­ren wer­den mit dem Kir­chen­asyl in Deutsch­land beson­ders gefähr­de­te Per­so­nen in huma­ni­tä­ren Aus­nah­me­fäl­len durch Kir­chen­ge­mein­den vor der Abschie­bung geschützt. Dafür gibt es ein eta­blier­tes Pro­ze­de­re, die Behör­den respek­tie­ren den Schutz­raum in den aller­meis­ten Fäl­len. Nicht so am 10. Juli in Net­te­tal – Lob­be­rich. Dort ist seit eini­gen Wochen das kur­di­sche Ehe­paar Sîwan* in den Räu­men der evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­de unter­ge­bracht. Ihnen droht die Dub­lin-Abschie­bung nach Polen, wo sie mona­te­lang in einem geschlos­se­nen Lager unter unmensch­li­chen Bedin­gun­gen unter­ge­bracht waren. Eine ähn­li­che Behand­lung wür­de ihnen dort erneut dro­hen, wes­halb die Kir­che sich dazu ent­schied, sie zu schüt­zen. Die Pfar­re­rin kom­men­tiert den Vor­gang dem Abschie­bungs­re­port­ing NRW gegen­über: »Unse­re Mitarbeiter*innen sind alle fas­sungs­los. Wir haben das Kir­chen­asyl aus huma­ni­tä­ren Grün­den gewährt – ein sol­cher repres­si­ver Abschie­bungs­ver­such zwei­er trau­ma­ti­sier­ter Men­schen ist ein Skan­dal.«

»Unse­re Mitarbeiter*innen sind alle fas­sungs­los. Wir haben das Kir­chen­asyl aus huma­ni­tä­ren Grün­den gewährt – ein sol­cher repres­si­ver Abschie­bungs­ver­such zwei­er trau­ma­ti­sier­ter Men­schen ist ein Skandal.«

Pfar­re­rin Elke Langer

Nach der Räu­mung des Kir­chen­asyls wur­de der Abschie­be­ver­such aus medi­zi­ni­schen Grün­den abge­bro­chen, Herr und Frau Sîwan kamen für meh­re­re Wochen in Abschie­be­haft. Als sie die Abschie­be­haft dann ver­las­sen konn­ten, kehr­ten sie zunächst in den Schutz­raum Kir­chen­asyl zurück. Mitt­ler­wei­le hat die Stadt Vier­sen von einer Abschie­bung abge­se­hen, das Asyl­ver­fah­ren des Ehe­paars fin­det nun in Deutsch­land statt.

#8 Deutsch gelernt – aber nun in Spanien gestrandet

Fami­lie Dar­wish* kommt aus Syri­en, ist aber seit 2017 in Deutsch­land und lebt im hes­si­schen Geln­hau­sen. Im Gegen­satz zu vie­len ihrer Lands­leu­te, die genau­so wie sie vor Krieg und Ver­fol­gung aus ihrer Hei­mat flie­hen muss­ten, wur­den sie aber zuvor in Spa­ni­en. Dadurch wur­den ihnen in Deutsch­land immer wie­der Mög­lich­kei­ten zur Inte­gra­ti­on über Schu­le, Aus­bil­dung oder Arbeit ver­wehrt – und im Sep­tem­ber wird die sechs­köp­fi­ge Fami­lie sogar in Abschie­be­haft genom­men. Weni­ge Tage spä­ter lan­den sie in Spa­ni­en – und das auch noch in ver­schie­de­nen Städ­ten. Wie sie der Frank­fur­ter Rund­schau erzäh­len, fin­den sie dort nur vor­über­ge­hen­de Unter­künf­te bei hilfs­be­rei­ten Per­so­nen und erhal­ten kei­ne Unter­stüt­zung. Ein wei­te­res Bei­spiel für unsin­ni­ge euro­päi­sche Rege­lun­gen, die nun dafür sor­gen, dass eine Fami­lie nach sechs Jah­ren in Deutsch­land in einem völ­lig ande­ren Land, des­sen Spra­che sie nicht beherr­schen, wiederfindet.

#9 Sieben Jahre Haft für abgeschobenen Oppositionellen

Abdul­lohi Shamsid­din fürch­tet sich vor dem Regime in Tadschi­ki­stan. Sein Vater, ein bekann­ter Oppo­si­ti­ons­füh­rer, hat in Deutsch­land Asyl erhal­ten. Er wur­de in der Hei­mat ver­folgt und in Abwe­sen­heit zu 15 Jah­ren Haft ver­ur­teilt. Auch Abdul­lohi lebt schon seit 2009 in Deutsch­land. Immer wie­der ver­sucht er den Behör­den ver­zwei­felt dar­zu­le­gen, was ihm in Tadschi­ki­stan dro­hen wird. Etli­che Orga­ni­sa­tio­nen war­nen im Vor­feld vor einer Abschie­bung, denn seit Dezem­ber 2022 sitzt Abdul­lohi in Abschie­be­haft. Aber die Behör­den in Nord­rhein-West­fa­len sind unein­sich­tig und schie­ben ihn am 18. Janu­ar, nach über 13 Jah­ren in Deutsch­land, ab. Das Ver­wal­tungs­ge­richt Gel­sen­kir­chen glaubt ihm die Abstam­mung von sei­nem Vater nicht. Eine fata­le Fehl­ent­schei­dung. Kei­ne drei Mona­te spä­ter wird Abdul­lohi Shamsid­din in Duschan­be, Tadschi­ki­stan, zu sie­ben Jah­ren Haft ver­ur­teilt: Wegen eines Social-Media-Pos­tings, auf das er posi­tiv reagiert haben soll, wie die FAZ berichtet.

Dem Abschie­bungs­re­port­ing NRW zufol­ge will die Bun­des­re­gie­rung die Vor­gän­ge in Tadschi­ki­stan anspre­chen. Die Abschie­bung und ihre schlim­men Kon­se­quen­zen wird dies nicht rück­gän­gig machen.

#10 Zwei Schwestern plötzlich allein in Deutschland

Am 20. Novem­ber stan­den früh­mor­gens rund 20 Polizist*innen in der Woh­nung der jesi­di­schen Fami­lie Khan­jar* im Ost­all­gäu, um einen Teil der Fami­lie abzu­schie­ben. Die Khan­jars haben den Geno­zid des »Isla­mi­schen Staats« an der jesi­di­schen Bevöl­ke­rung mit­er­lebt und flo­hen 2019 nach Deutsch­land. Obwohl die Bun­des­re­gie­rung die Ereig­nis­se offi­zi­ell als Völ­ker­mord aner­kannt hat, erhält die Fami­lie kei­nen Schutz, die Asyl­an­trä­ge wer­den abge­lehnt. Am 20. Novem­ber nimmt die Poli­zei die Eltern und zwei min­der­jäh­ri­ge Kin­der im Alter von neun und sie­ben Jah­ren mit und bringt sie zurück in den Irak. Ein voll­jäh­ri­ger Sohn war am Tag der Abschie­bung nicht zu Hau­se, die Schwes­tern Bas­cal und Jma­na, bei­de Anfang 20, dür­fen vor­erst bleiben.

»Ich weiß nicht, wie ich mei­ne Aus­bil­dung wei­ter machen und ohne mei­ne Eltern und ohne Geschwis­ter hier wei­ter­le­ben soll. Den Kin­dern geht’s sowohl psy­chisch ist als auch gesund­heit­lich sehr schlecht«

Jma­na

Die abge­scho­be­nen Kin­der haben nur noch vage Erin­ne­run­gen an den Irak, sie spre­chen flie­ßend Deutsch. Die neun­jäh­ri­ge Toch­ter ging in Deutsch­land zur Schu­le, der sie­ben­jäh­ri­ge Sohn besuch­te eine spe­zi­el­le Ein­rich­tung, da bei ihm Autis­mus ver­mu­tet wird. »Ich weiß nicht, wie ich mei­ne Aus­bil­dung wei­ter machen und ohne mei­ne Eltern und ohne Geschwis­ter hier wei­ter­le­ben soll. Den Kin­dern geh­t’s sowohl psy­chisch als auch gesund­heit­lich sehr schlecht« schrieb uns Jma­na nach der Abschie­bung Ihrer Fami­lie. Sie und ihre Schwes­ter machen eine Aus­bil­dung zu Pfle­ge­hel­fe­rin­nen, sind aber der­zeit wei­ter­hin selbst von Abschie­bung in den Irak bedroht.

(mk)
*Namen geändert

Die geschil­der­ten Geschich­ten sind bei­spiel­haf­te Fäl­le – aber lei­der kei­ne Ein­zel­fäl­le. Abschie­bun­gen kom­men in Deutsch­land jeden Tag vor. Manch­mal kön­nen sie im letz­ten Moment noch abge­wen­det oder sogar nach­träg­lich auf­wän­dig rück­gän­gig gemacht wer­den. Oft ist das auch dem Enga­ge­ment von Freund*innen, Unterstützer*innen oder unab­hän­gi­gen Bera­tungs­stel­len zu ver­dan­ken. Wir freu­en uns daher über jede Spen­de an Struk­tu­ren, die Geflüch­te­ten in sol­chen Situa­tio­nen ent­schei­dend zur Sei­te ste­hen. Ganz egal, ob sie an PRO ASYL, einen der Lan­des­flücht­lings­rä­te oder kom­mu­na­le & loka­le Flücht­lings­in­itia­ti­ven geht. Denn nur mit einem sol­chen brei­ten Netz­werk kön­nen wir wei­ter­hin etwas gegen bru­ta­le und unmensch­li­che Abschie­bun­gen unternehmen!