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Ein Blick zurück: »Hunderttausende waren auf der Straße«
Vor 30 Jahren haben in Deutschland Zehntausende gegen den sog. »Asylkompromiss« demonstriert, um die Änderung des Grundgesetzes zu verhindern. Am 26. Mai 1993 beschloss der Bundestag trotz der großen Proteste, das Asylrecht im Grundgesetz massiv einzuschränken. Günter Burkhardt, Gründungsmitglied von PRO ASYL, berichtet im Interview von der Zeit.
Im Mai 1993 wurde mit dem sogenannten »Asylkompromiss« das Grundgesetz geändert, das Recht auf Asyl ausgehöhlt. In welchem politischen Klima ist das entstanden? Wie war die Atmosphäre zu der Zeit?
Es gab über Jahre hinweg auf politischer Ebene eine Hetze gegen Asylsuchende, gegen Flüchtlinge. Gekoppelt mit einem Hass auf der Straße, der sich bis zu Brandanschlägen mit Toten steigerte. Es gab aber auch eine Zivilgesellschaft, die gegen Gewalt und Rassismus aufstand und sich organisierte. Hunderttausende waren auf der Straße, um das Recht auf Asyl zu verteidigen.
Du hast die Demos angesprochen, von denen es ja eindrückliche Bilder gibt. Wie wurden die damals organisiert? Wer hat teilgenommen, wie sind sie abgelaufen?
Wir waren auf mehreren Ebenen aktiv. Es gab die Demonstrationen, die in Bonn organisiert wurden von einem Bündnissystem aus der Friedensbewegung, von Menschenrechtsorganisationen, von PRO ASYL. Herbert Leuninger, unser Sprecher, rief dort am 26.5.1993 »Wir sind der Verfassungsschutz« und das symbolisiert: Wir sind diejenigen, die diese Verfassung, dieses Grundgesetz, die Würde des Menschen, das Recht auf Asyl als Bürgerinnen und Bürger verteidigen. Es geht existenziell um unsere freiheitliche Demokratie und die Lehren aus der Nazizeit. Damals war die Erinnerung noch sehr wach, dass beispielsweise auch Politiker aus der SPD – wie etwa Willy Brandt – nur dank ihrer Flucht überlebt hatten.
Welche Ebenen der Einflussnahme gab es noch?
Wir haben mehr als 100.000 Unterschriften gegen die Entkernung des Asylrechts gesammelt, auch viele Prominente haben unseren Aufruf damals unterstützt. Unsere Sprecher waren als Sachverständige im Bundestag geladen. Wir haben mit großen Anzeigen gearbeitet, die zentrale Botschaft war »Kein Schritt in eine andere Republik« und es gab verschiedene Motive wie zum Beispiel: »Wollen Sie in einem Land leben, in dem Grenzbeamte über Leben und Tod entscheiden?«. Denn durch die Änderung des Grundgesetzes bestand die Gefahr, dass niemand, der über einen Drittstaat auf dem Landweg einreist, das Grundrecht auf Asyl in Anspruch nehmen kann. Zum Glück griff dann jedoch ersatzweise das EU-Recht – so ist das ja auch heute noch.
Wie lief das in den Monaten vor der Grundgesetzänderung politisch ab? Gerade in der SPD wurde darum ja lange gerungen.
Es gab innerhalb der Sozialdemokratischen Partei heftige Auseinandersetzungen, weil ein großer Teil dieser Partei für Grundrechte, für die Rechte von Verfolgten einstand. Es gab aber auch die Union als Treiber, die gegen die angebliche »Singularität« des deutschen Asylrechts, so wurde es damals genannt, Kampagnen startete. Man wollte dafür angeblich ein europäisches Asylrecht installieren, was ja bis heute nicht funktioniert – es sei denn man spricht über Repression und Entrechtung. Wir haben damals als deutsche Bürgerrechtsbewegung massiv vor der Aufgabe eines Grundrechts gewarnt, welches angesichts der Flucht von Hunderttausenden Menschen aus Nazideutschland eine historische Bedeutung hat.
Der Schwenk zum europäischen Asylsystem ist ein gutes Stichwort. Die Grundgesetzänderung konnte nicht verhindert werden. Wie ging es denn danach weiter?
Auch hier gab es verschiedene Ebenen. Zum einen haben wir die Rechtmäßigkeit dieser Grundgesetzänderung bezweifelt und in der Konsequenz dann Schutzsuchende auf ihrem Weg vor Gericht unterstützt, Anwälte gesucht, Prozesse geführt. Bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Das betraf vor allem auch das Flughafenverfahren, wo innerhalb kürzester Zeit Menschen abgefertigt und abgeschoben wurden, ohne Rechtsbeistand.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns dann zum Flughafenverfahren recht gegeben, weil das Grundrecht auf ein rechtliches Gehör verletzt wurde. Aber das Innenministerium wollte die Vorgaben nicht umsetzen.
Dann haben wir eine Initiative gestartet und gesagt: Wenn das Bundesinnenministerium sich weigert, dann übernehmen eben wir die Rechtsberatung als »Unser Weihnachtsgeschenk für Kanther« – so hieß der damalige Innenminister. Durch unsere Öffentlichkeitsarbeit haben wir die Mittel eingeworben, um diese Rechtsberatung am Flughafen zu finanzieren – solange bis das Innenministerium nachgegeben hat. Seit diesem Zeitpunkt gibt es zumindest eine administrativ abgesicherte Rechtsberatung in diesen sogenannten Flughafenverfahren. Das ist natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein, weil faire Asylverfahren in solchen Eilverfahren unter haftähnlichen Bedingungen nicht machbar sind.
Und die zweite Ebene?
Als zweite Folge hat sich PRO ASYL als Organisation umorientiert. Die Auseinandersetzung um das deutsche Grundrecht hatten wir verloren. Seitdem konzentrieren wir uns auf die verbindlichen Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Genfer Flüchtlingskonvention und auf das Europarecht. Das steht über dem deutschen Recht und garantiert Schutzsuchenden auch heute noch ihre unveräußerlichen Rechte. Wir haben uns also zunehmend mit dieser europäischen Dimension befasst und arbeiten ja auch seit vielen Jahren mit Partnerorganisationen in ganz Europa zusammen.
Genau jetzt stehen wir jedoch wieder vor einer Auseinandersetzung von einer ganz anderen historischen Dimension, nämlich auf europäischer Ebene.
»Heute erleben wir, dass diese Bundesregierung an den Grenzen der Europäischen Union Haftlager will, mit dem Ziel, Asylanträge als unzulässig abzustempeln.«
Wie sind die Situationen vergleichbar?
Damals wurde argumentiert: »Wir wollen die Singularität des deutschen Asylrechts beseitigen und ein europäisches Rechtssystem schaffen«. Heute erleben wir, dass diese Bundesregierung an den Grenzen der Europäischen Union Haftlager will, mit dem Ziel, Asylanträge als unzulässig abzustempeln. Es ist elementar, dass eine inhaltliche Prüfung des Asylgesuchs in der Europäischen Union stattfindet und die Geflüchteten nicht einfach in sogenannte »sichere Drittstaaten« zurückzuschicken – dazu noch eine völlig irreführende Begrifflichkeit. Denn in einem »sicheren Drittstaat«, da sollten ja eigentlich die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention und die Flüchtlingsrechte umfassend gelten.
Da geht es letztlich darum, wie man aus einem faktischen Unrecht, das ohnehin schon an den Grenzen passiert, ein neues Recht macht und damit vieles legalisiert, was im Moment eindeutig rechtswidrig ist. Und dagegen protestieren wir! Zunächst geht es um das individuelle Recht auf Asyl, aber gleichzeitig geht es um noch viel mehr: Den Erhalt einer freiheitlichen Demokratie und die universelle Gültigkeit der Menschenrechte! Dazu gehört zum Beispiel, dass es möglich sein muss, Behördenhandeln gerichtlich zu überprüfen. Dazu gehört ein effektiver Rechtsschutz. Es kann und darf nicht sein, dass – wie es geplant ist und auch schon praktiziert wird – schutzsuchende Menschen über Monate de facto inhaftiert werden, das ist gesetzlich legitimierte Behördenwillkür. Wir erwarten, dass diese Bundesregierung an Europas Grenzen die Menschenrechte verteidigt und nicht einreißt.
Das Interview führte am 17. Mai 2023 Max Klöckner (PRO ASYL)