News
30 Jahre »Asylkompromiss«: Ein Grundrecht wird ausgehöhlt
CDU/CSU, FDP und SPD schlossen vor rund 30 Jahren den sogenannten »Asylkompromiss« - trotz aller Proteste aus der Zivilgesellschaft. Eine Rückschau auf die Debatten in den Jahren 1992 und 1993.
Am 26. Mai 1993 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Änderung in Artikel 16 des Grundgesetzes (heute Art. 16a). Das Asylrecht für politisch Verfolgte wurde damit ausgehöhlt. Fortan sollte niemand, der sich vorher in einem »sicheren Drittstaat« aufgehalten hat, darauf Anspruch erheben können. Da Deutschland umgeben von solchen Staaten ist, besteht diese Möglichkeit also bei einer Einreise auf dem Landweg de facto nicht mehr.
Vorangegangen waren dem »Asylkompromiss« monatelange Debatten, da für eine Verfassungsänderung die Stimmen der Regierungskoalition aus CDU / FDP nicht ausreichten, sondern auch die Stimmen der SPD benötigt wurden. Nach vielen innerparteilichen Streitigkeiten beschlossen die Sozialdemokraten schließlich im Dezember 1992 auf einem Sonderparteitag, dem zuzustimmen.
Widerstand aus der Zivilgesellschaft
»Es gab über Jahre hinweg auf politischer Ebene eine Hetze gegen Asylsuchende, gegen Flüchtlinge. Gekoppelt mit einem Hass auf der Straße, der sich bis zu Brandanschlägen mit Toten steigerte. Es gab aber auch eine Zivilgesellschaft, die gegen Gewalt und Rassismus aufstand und sich organisierte. Hunderttausende waren auf der Straße, um das Recht auf Asyl zu verteidigen«, erinnert sich Günter Burkhardt, damals schon Geschäftsführer von PRO ASYL im Interview.
»Wir haben damals als deutsche Bürgerrechtsbewegung massiv vor der Aufgabe eines Grundrechts gewarnt, welches angesichts der Flucht von Hunderttausenden Menschen aus Nazideutschland eine historische Bedeutung hat.«
»Wir waren auf mehreren Ebenen aktiv. Wir haben mit großen Protest-Anzeigen in Zeitungen gearbeitet, unsere Sprecher waren als Sachverständige im Bundestag geladen, es gab die großen Demonstrationen in Bonn. Und wir haben mehr als 100.000 Unterschriften gegen die Entkernung des Asylrechts gesammelt, auch viele Prominente haben unseren Aufruf damals unterstützt.«
Prominente für das Recht auf Asyl
Die gesellschaftliche Debatte damals war riesig. Große Pro/Contra – Diskussionen in Zeitungen, parteiinterne Streitigkeiten und auch viele Prominente, die sich damals dem Aufruf von PRO ASYL angeschlossen hatten. Herbert Grönemeyer, Günter Grass, Wolfgang Niedecken, Dr. Jürgen Habermas, Hella von Sinnen… um nur einige der Erstunterzeichner*innen des Aufrufs »Nein zum Bonner Asylkompromiss« zu nennen, der letztlich von rund 100.000 Menschen unterschrieben wurde.
Die großen Demonstrationen
Am 14.11. rief ein Bündnis aus der Friedensbewegung, von Menschenrechtsorganisationen und von PRO ASYL zu einer großen Demonstration vor dem anstehenden Sonderparteitag der SPD auf. Im Bonner Hofgarten kamen Hunderttausende, auf der Kundgebung sagte PRO ASYL – Sprecher Herbert Leuninger in seiner Abschlussrede:
»Wir sind der Verfassungsschutz! Wehren wir uns mit allen rechtsstaatlichen Mitteln gegen jeden Abbau von Grundrechten!«
»Seit Juli 1991 (!) hat es keine fünf Tage gegeben, in denen das Asylthema nicht in den Medien behandelt wurde. Was Wunder, wenn das »Volk« glauben muß, es sei das wichtigste Thema dieser Republik und in den Flüchtlingen läge die Bedrohung unseres Staates. Von der Bundesregierung wird gegen Flüchtlinge der Staatsnotstand aufgerufen. Staatsstreichartig werden Asylgesetze angedroht, auch auf die Gefahr hin, dass sie verfassungswidrig sind. […] Am Tag nach der Verfassungsänderung haben wir eine andere Republik. Dann gibt es für den Abbau weiterer Rechte kein halten mehr. Wir sind der Verfassungsschutz! Wehren wir uns gegen den Abbau von Grundrechten!«
Die Proteste waren vergeblich: Auf ihrem Sonderparteitag stimmte die SPD dem Asylkompromiss letztlich zu.
Die finale Abstimmung im Bundestag fand am 26. Mai 1993 statt. Dort wurde der ausgehandelte Asylkompromiss nach 14-stündiger Debatte mit den Stimmen vieler SPD-Abgeordneter beschlossen. Auch an jenem Tag gab es aber etliche Proteste vor dem Parlament, die Zugangswege zum Bundestag wurden blockiert, einige Parlamentarier*innen mussten gar per Hubschrauber eingeflogen werden oder kamen nur per Schiff zum Tagungsort.
Rita Kantemir-Thomä, Gründerin des Berliner Flüchtlingsrates und damals Abgeordnete der »Alternativen Liste« in Berlin erinnert sich: »Die Änderung von Artikel 16 Grundgesetz 1993 war eine von zahlreichen Maßnahmen zur Einschränkung des Rechts auf Asyl und zur Abschreckung von Flüchtlingen. Die erhoffte Wirkung erfüllte sich nicht. Menschen, die unter politischer Verfolgung leiden oder die in ihrer Heimat keine Möglichkeit mehr sehen, sich und ihre Familien ernähren zu können, deren Leben in einem Krieg oder Bürgerkrieg gefährdet ist oder die durch Naturkatastrophen mittellos geworden sind, lassen sich nicht abhalten, ihr Leben und das ihrer engsten Familienmitglieder zu retten. Sie haben ein Recht auf Schutz ihres Lebens«.
»Die erhoffte Wirkung der Grundgesetzänderung erfüllte sich nicht. Menschen lassen sich nicht abhalten, ihr Leben und das ihrer engsten Familienmitglieder zu retten. Sie haben ein Recht auf Schutz.«
Was danach geschah
Wenige Tage nach der Grundgesetzänderung brannte in Solingen das Haus der türkischen Familie Genç. Fünf Menschen starben bei diesem rassistischen Brandanschlag. Heiko Kauffmann war damals für PRO ASYL nach der Tat in Solingen. Auch heute sagt er: »Mit der Instrumentalisierung des Asylrechts zulasten von Flüchtlingen und der Zerschlagung des Art. 16 GG sandte die Politik ein fatales Signal an die rechte Szene aus. Der Zusammenhang zwischen medialer Mobilisierung, politischen Entscheidungen und rechtsradikaler Gewalt wurde (und wird auch heute noch) immer weitgehend verdrängt oder beschönigt. Dabei machen der Diskurs und die erbitterte Auseinandersetzung um den Erhalt bzw. die Abschaffung des Asyl-Grundrechts die lange Traditionslinie und Kontinuität politischer und medialer Hetze und Rhetorik, die den Nährboden für Rassismus bilden können, deutlich«
»Mit der Instrumentalisierung des Asylrechts zulasten von Flüchtlingen und der Zerschlagung des Art. 16 GG sandte die Politik ein fatales Signal an die rechte Szene aus.«
Der Kampf um die Rechte von Geflüchteten ging für PRO ASYL auch nach der Grundgesetzänderung weiter. »Zum einen haben wir die Rechtmäßigkeit dieser Grundgesetzänderung bezweifelt und in der Konsequenz dann Schutzsuchende auf ihrem Weg vor Gericht unterstützt, Anwälte gesucht, Prozesse geführt. Bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Das betraf vor allem auch das Flughafenverfahren, wo innerhalb kürzester Zeit Menschen abgefertigt und abgeschoben wurden, ohne Rechtsbeistand« erzählt Günter Burkhardt.
Und: »Als zweite Folge hat sich PRO ASYL als Organisation umorientiert. Die Auseinandersetzung um das deutsche Grundrecht hatten wir verloren. Seitdem konzentrieren wir uns auf die verbindlichen Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Genfer Flüchtlingskonvention und auf das Europarecht. Das steht über dem deutschen Recht und garantiert Schutzsuchenden auch heute noch ihre unveräußerlichen Rechte.«
Genau 30 Jahre später werden jetzt aber, auch von deutschen Politiker*innen, diese Normen und Konventionen in Frage gestellt. Auch dagegen protestieren wir natürlich scharf.
(mk)