Image
Teilnehmer einer Demonstration gegen den Bau eines geplanten Abschiebezentrums am Flughafen Berlin Brandenburg BER.Quelle: picture alliance/dpa | Christophe Gateau

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag neue Bleiberechtsregeln vereinbart. Viele Geflüchtete setzen große Hoffnungen in das angekündigte Chancen-Aufenthaltsrecht. Doch bis es greift, werden weiterhin Menschen abgeschoben – auch solche, die von den neuen Regeln profitieren würden. Vorgriffsregelungen könnten das verhindern.

Es war ein Schock für Dayo*, als er ver­gan­ge­ne Woche zur Aus­län­der­be­hör­de Hal­le ging, um eine Dul­dungs­ver­län­ge­rung zu bean­tra­gen – und direkt ver­haf­tet wur­de. Der 58-jäh­ri­ge Mann aus dem west­afri­ka­ni­schen Ben­in lebt seit sie­ben Jah­ren in Deutsch­land. Er sei sehr gut inte­griert, beteu­ern Men­schen, die ihn ken­nen, arbei­te häu­fig in der Kir­chen­ge­mein­de der Hei­lig Kreuz-Kir­che in Hal­le mit, und einen unbe­fris­te­ten Arbeits­ver­trag hat er auch. Sein »Ver­ge­hen«: Er hat in den ver­gan­ge­nen 18 Mona­ten nicht durch­ge­hend 35 Stun­den in der Woche gear­bei­tet, wie für eine Beschäf­ti­gungs­dul­dung erfor­der­lich, son­dern in 11 der 18 Mona­te nur 32,5 Stun­den. Des­halb muss er das Land ver­las­sen, meint die Aus­län­der­be­hör­de. Dass er sei­nen Lebens­un­ter­halt eigen­stän­dig sichern kann, also nicht auf staat­li­che Unter­stüt­zung ange­wie­sen ist, spielt dabei kei­ne Rolle.

Wären die neu­en, von der Ampel-Regie­rung ange­kün­dig­ten Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen schon in Kraft, wäre es gar nicht erst so weit gekom­men. Dann hät­ten kei­ne auf­ent­halts­be­en­den­den Maß­nah­men ergrif­fen wer­den müs­sen, wie es im Behör­den­deutsch heißt. Doch das sind sie noch nicht – und so ord­ne­te das Amts­ge­richt in Hal­le an, dass Dayo in Abschie­be­haft zu neh­men sei. Er saß tage­lang in einer Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt, obwohl Abschie­be­haft Euro­pa­recht zufol­ge bloß das letz­te Mit­tel ist, wenn alle ande­ren Wege aus­ge­schöpft sind. Auch die Unter­brin­gung von Men­schen, die abge­scho­ben wer­den sol­len, in einem Gebäu­de mit Straf­tä­tern ist juris­tisch höchst umstrit­ten; für den 10. März wird hier­zu ein Urteil am EuGH erwar­tet. Day­os Leben könn­te eine dra­ma­ti­sche Wen­dung neh­men, wenn er tat­säch­lich abge­scho­ben und somit aus sei­ner ver­trau­ten Umge­bung her­aus­ge­ris­sen wird – wegen zwei­ein­halb Stun­den, die er wöchent­lich zu wenig gear­bei­tet hat.

Um Men­schen wie ihm künf­tig mehr Sicher­heit zu geben, haben sich SPD, Grü­ne und FDP im Koali­ti­ons­ver­trag auf neue Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen geei­nigt. Bestimm­te Grup­pen wie etwa gut inte­grier­te Jugend­li­che sol­len bes­se­re Chan­cen auf ein dau­er­haf­tes Blei­be­recht erhal­ten. Zudem soll es für Men­schen, die seit dem 1. Janu­ar 2022 seit fünf Jah­ren in Deutsch­land leben, unter nied­rig­schwel­li­gen Vor­aus­set­zun­gen ein Auf­ent­halts­recht auf Pro­be geben.

Gut inte­grier­te Jugend­li­che sol­len nach § 25a Auf­enthG künf­tig bereits nach drei anstatt wie bis­lang erst nach vier Jah­ren gedul­de­ten Auf­ent­halts in Deutsch­land ein Blei­be­recht erhal­ten kön­nen und den dies­be­züg­li­chen Antrag bis zum Abschluss des 27. anstatt wie bis­her nur bis zum Abschluss des 21. Lebens­jah­res stel­len können.

Beson­de­re Inte­gra­ti­ons­leis­tun­gen Gedul­de­ter sol­len im Rah­men des § 25b Auf­enthG dadurch gewür­digt wer­den, dass die­sen in Zukunft bereits nach sechs anstatt wie aktu­ell noch nach acht Jah­ren ein Blei­be­recht zu Teil wer­den soll. Per­so­nen mit min­der­jäh­ri­gen ledi­gen Kin­dern sol­len das Blei­be­recht nach die­ser Vor­schrift künf­tig schon nach vier statt wie bis­her erst nach sechs Jah­ren erwer­ben können.

Das neu zu schaf­fen­de Chan­cen-Auf­ent­halts­recht auf Pro­be soll für die Dau­er eines Jah­res gel­ten und Men­schen, die nicht straf­fäl­lig gewor­den sind und sich zur frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung beken­nen, die Mög­lich­keit ver­schaf­fen, wäh­rend die­ser Zeit die Vor­aus­set­zun­gen für eine der oben genann­ten Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen zu erfül­len wie bei­spiels­wei­se die Iden­ti­täts­klä­rung oder Lebensunterhaltssicherung.

Das Pro­blem: Die­se Rege­lun­gen sind zwar im Koali­ti­ons­ver­trag fest­ge­schrie­ben, aber noch nicht recht­lich bin­dend. So kommt es, dass Geflüch­te­te zum jet­zi­gen Zeit­punkt noch abge­scho­ben wer­den oder ihnen – wie im Fal­le von Dayo – die Abschie­bung droht, obwohl sie nach dem Wil­len des Bun­des  vom neu­en Chan­cen-Auf­ent­halts­recht oder ande­ren Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen pro­fi­tie­ren wür­den. Sie müs­sen es aus­ba­den, dass  der Bun­des­tag die im Koali­ti­ons­ver­trag ver­ein­bar­ten Ver­bes­se­run­gen nicht schnell genug beschließt.

Flickenteppich Deutschland

Dabei gibt es Wege, um das zu ver­hin­dern. Bis zur tat­säch­li­chen Geset­zes­än­de­rung kön­nen soge­nann­te Vor­griffs­re­ge­lun­gen dafür sor­gen, dass die Men­schen, die künf­tig blei­ben dür­fen, schon jetzt die­se Chan­ce erhal­ten. Nötig ist hier­für, dass die Innen­mi­nis­te­ri­en der Bun­des­län­der die Aus­län­der­be­hör­den anwei­sen, all jenen, die poten­ti­ell von den ange­kün­dig­ten Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen pro­fi­tie­ren, Ermes­sens­dul­dun­gen nach § 60a Abs. 2 Satz 3 Auf­enthG zu ertei­len und sie so vor Abschie­bung zu schüt­zen. Neu ist das nicht: Hes­sen hat bei­spiels­wei­se im Febru­ar 2014 sol­che Vor­griffs­re­ge­lun­gen ver­ab­schie­det (für die Ein­füh­rung der Auf­ent­halts­ge­wäh­rung bei nach­hal­ti­ger Inte­gra­ti­on nach § 25b Auf­enthG) , in Schles­wig-Hol­stein und Nie­der­sach­sen gab es 2019 eine ent­spre­chen­de Rege­lung im Vor­feld der Ein­füh­rung der Beschäftigungsduldung.

Die momen­ta­ne Lage gleicht einem Fli­cken­tep­pich: In Bezug auf das ange­kün­dig­te Auf­ent­halts­recht auf Pro­be hat etwa das SPD-geführ­te Innen­mi­nis­te­ri­um Rhein­land-Pfalz mit einem Schrei­ben vom 23.12.2022 reagiert und den Aus­län­der­be­hör­den nahe­ge­legt, Abschie­bun­gen des begüns­tig­ten Per­so­nen­krei­ses im Hin­blick auf das anste­hen­de Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren »rück­zu­prio­ri­sie­ren«, das heißt erst ein­mal nicht zu vollziehen.

Ganz anders sieht es in Bay­ern aus. Dort mau­ert Innen­mi­nis­ter Joa­chim Herr­mann (CSU). Die SPD-Land­tags­frak­ti­on hat unter Feder­füh­rung der Abge­ord­ne­ten Alex­an­dra Hier­se­mann die baye­ri­sche Lan­des­re­gie­rung dazu auf­ge­for­dert, die Aus­län­der­be­hör­den mit­hil­fe einer Vor­griffs­re­ge­lung anzu­wei­sen, Fäl­le, die vor­aus­sicht­lich unter die künf­ti­ge bun­des­ge­setz­li­che Rege­lung fal­len, zurück zu prio­ri­sie­ren – also nicht abzu­schie­ben. Innen­mi­nis­ter Herr­mann lehnt dies jedoch ab mit der Begrün­dung, »blo­ße Absichts­er­klä­run­gen der Par­tei­en in einem Koali­ti­ons­ver­trag las­sen die Rechts­la­ge unbe­rührt.« Die Ankün­di­gun­gen im Koali­ti­ons­ver­trag (vgl. hier­zu S. 138) sei­en »vage und wenig prä­zi­se« und des­halb sei eine »seriö­se Vor­weg­nah­me« nicht mög­lich, heißt es in einem Schrei­ben von Herr­mann, das PRO ASYL vor­liegt. Hier­se­mann will das nicht gel­ten las­sen und hat am 7. Febru­ar einen Antrag gestellt (»Vor­griffs­re­ge­lung zum Auf­ent­halts­recht, um Här­te­fäl­le zu ver­mei­den!«), damit die zustän­di­gen Aus­schüs­se und das Ple­num im baye­ri­schen Land­tag das The­ma auf die Agen­da setzt.

Nach Pakistan abgeschoben trotz laufendem Härtefallantrag

Bis es soweit ist, gilt jedoch für Geflüch­te­te: Wer Glück hat, wohnt im »rich­ti­gen» Bun­des­land, in dem die Innen­mi­nis­te­ri­en ent­spre­chen­de Anwei­sun­gen an die Aus­län­der­be­hör­den ertei­len – wer Pech hat, wohnt ein paar Kilo­me­ter wei­ter und wird abge­scho­ben. So wie Herr A. aus Nie­der­sach­sen, über den der dor­ti­ge Flücht­lings­rat berich­te­te. Der Paki­sta­ni wur­de am 12. Janu­ar abge­scho­ben, obwohl er sich bereits seit 2015 – also län­ger als die erfor­der­li­chen fünf Jah­re – in Deutsch­land auf­hielt und auch die sons­ti­gen Vor­aus­set­zun­gen für das zu erwar­ten­de Chan­cen-Auf­ent­halts­recht erfüll­te. Bei der Sam­mel­ab­schie­bung von Frank­furt nach Islam­abad am 12. Janu­ar waren 45 Men­schen paki­sta­ni­scher Her­kunft an Bord, von denen vie­le laut Anga­ben von Akti­vis­tin­nen gut inte­griert waren. Paki­stan stand bereits im ver­gan­ge­nen Jahr mit 513 Abschie­bun­gen weit oben auf der Lis­te der Län­der, in die Schutz­su­chen­de von Deutsch­land aus beson­ders häu­fig abge­scho­ben werden.

Mel­dun­gen über bereits erfolg­te oder dro­hen­de Abschie­bun­gen errei­chen PRO ASYL aus allen Bun­des­län­dern, so auch aus Hes­sen: In Darm­stadt sitzt der­zeit eine Frau in Abschie­be­haft, die vor ihrem gewalt­tä­ti­gen Ex-Ehe­mann aus Russ­land geflo­hen ist und bei ihrer Fami­lie hier Zuflucht gefun­den hat. Seit 2016 pflegt sie ihre schwer­be­hin­der­te Mut­ter; seit 2018 ist sie vom Amts­ge­richt Bie­den­kopf offi­zi­ell als Betreue­rin bestellt. Am 28. Febru­ar soll sie nach Russ­land abge­scho­ben wer­den und ist aus Pro­test dage­gen in den Hun­ger­streik getreten.

Auch die Ampel-Regierung will Abschiebungen fortsetzen und intensivieren

Der­ar­ti­ge Bei­spie­le zei­gen, dass vie­le Innen­mi­nis­te­ri­en der Bun­des­län­der so wei­ter machen wie bis­her – unge­ach­tet der Tat­sa­che, dass die Ampel-Koali­ti­on in der Migra­ti­ons­po­li­tik neue Akzen­te set­zen will. Die Zei­chen ste­hen vie­ler­orts wei­ter­hin auf Abschot­tung und Miss­trau­en. Schutz­su­chen­de wer­den auch unter der neu­en Regie­rung in Deutsch­land nicht mit offe­nen Armen emp­fan­gen und bereits inte­grier­te Geflüch­te­te weni­ger als neue Mitbürger*innen ange­se­hen denn als Frem­de, die man poten­ti­ell wie­der los­wer­den will. Das liegt einer­seits dar­an, dass vie­le flücht­lings­po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen auf der Ebe­ne der Bun­des­län­der getrof­fen wer­den. Zuzu­schrei­ben ist es aber auch der Tat­sa­che, dass die Bun­des­re­gie­rung ihre ange­kün­dig­te Rück­füh­rungs­of­fen­si­ve (also ver­stärk­te Abschie­bun­gen) höher zu gewich­ten scheint als die posi­ti­ven Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen. So sag­te bei­spiels­wei­se Finanz­mi­nis­ter Chris­ti­an Lind­ner am 9. Febru­ar, die »Rück­füh­rung von Men­schen ohne Auf­ent­halts­recht [müs­se] spür­bar ver­bes­sert wer­den« – auch zu ver­ste­hen als Signal an die kon­ser­va­ti­ve Oppo­si­ti­on, die der Ampel-Regie­rung häu­fig eine zu offe­ne Hal­tung gegen­über Geflüch­te­ten vor­wirft. Es liegt nun an Innen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser, dem etwas gegen­über­zu­stel­len und das The­ma Blei­be­recht zügig auf die poli­ti­sche Agen­da zu set­zen. Die Geset­ze müs­sen schnell geän­dert wer­den, damit die Ver­spre­chun­gen der Ampel Rea­li­tät in ganz Deutsch­land werden.

Dayo aus Ben­in hat Glück: Dank eines gro­ßen Unter­stüt­zer­netz­werks ist sei­ne Abschie­bung, die für den 7. Febru­ar ange­setzt war, vor­über­ge­hend aus­ge­setzt, bis eine Här­te­fall­kom­mis­si­on dar­über ent­schei­det. Dies wird ver­mut­lich am 24. Febru­ar der Fall sein. Dass es jedoch drei Anwäl­te, zwei Bera­tungs­stel­len, den Flücht­lings­rat, enga­gier­te Unterstützer*innen sowie den Ein­satz von Politiker*innen wie Susi Möb­beck (SPD), Staats­se­kre­tä­rin im Sozi­al­mi­nis­te­ri­um des Lan­des,  braucht, um jeman­dem zu sei­nem Recht zu ver­hel­fen, ist eine untrag­ba­re Situation.

Es muss ver­hin­dert wer­den, dass noch wei­te­re Men­schen, die offen­kun­dig die Vor­aus­set­zun­gen für die kom­men­den Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen erfül­len, abge­scho­ben wer­den. Vor­griffs­re­ge­lun­gen mögen sich sper­rig-juris­tisch anhö­ren – doch die Zukunft vie­ler Men­schen, die hof­fen, sich dau­er­haft ein Leben in Deutsch­land auf­bau­en zu dür­fen, hängt von sol­chen Rege­lun­gen ab.

(er)

*Name anony­mi­siert