Hintergrund
Reportage: In den Baracken auf der Balkanroute

Seit Schließung der Balkanroute hat sich die Situation der Flüchtlinge stark verschlechtert. Sie leben oft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Schlepper machen ein gutes Geschäft. Die Reportage beschreibt die Lage in Belgrad Anfang 2017.
Es ist eine Hölle. Unweit des Belgrader Zentrums hat sich in alten Lagerhallen das größte informelle Flüchtlingslager Europas gebildet. 1.200 Menschen leben in den Ruinen, die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan. An die alten Lagerhallen sind Graffitis gesprüht: »Please, don’t forget about us« und »Refugees are not terrorists« steht dort in großen Lettern geschrieben.
Vor den verfallenen Hallen stehen Männer in einer kleinen Schlange an einer der beiden Wasserquellen der Belgrader Trümmerlandschaft. Einer putzt sich die Zähne, ein anderer wäscht sich die Füße. Neben dem Schlauch, aus dem das Wasser kommt, steht ein rostiges Fass über einer Feuerstelle. Einer der Männer zeigt lächelnd darauf und sagt: »Das ist unsere Dusche.« Sanitäre Anlagen gibt es nicht. Not macht erfinderisch.
Hier lebt auch der 26-jährige Mielad, der wie die meisten in den Lagerhallen aus dem Osten Afghanistans kommt. Aus der Provinz Kunar, unweit von Kabul, wo die Taliban sehr aktiv sind. Er trägt eine helle Lederjacke mit Spuren von Ruß, sie sieht nicht so aus, als könnte sie vor der Kälte schützen. Mielad betont, dass er ein gutes Leben in Afghanistan hatte, bis er ins Visier der Taliban geriet, weil er im Gesundheitsministerium für die Regierung gearbeitet hat.
Unhaltbare Zustände
Die Provinz Kunar hat er vor sieben Monaten verlassen, seit vier Monaten lebt er nun hier. Er führt durch die heruntergekommenen Lagerhallen. In den Ruinen steigt beißender Rauch auf, weil mit Holz aus alten Balken der Schienenanlagen, Müll und Plastik geheizt wird. Richtig warm wird es trotzdem nicht. Die Lungen beginnen schon nach wenigen Minuten zu schmerzen und die Augen zu tränen.
»Warum müssen wir hier leben? Haben wir unsere Häuser und unser Land verlassen und sind vor dem Krieg geflüchtet, nur um hier zu erfrieren?«
Zwischen zwei Erhöhungen wurde mit einer Leiter eine kleine Brücke aufgebaut, auf der ein selbst gebautes Dixi-Häuschen steht, um ein wenig Privatsphäre zu ermöglichen. Darunter bildet sich ein großer Haufen Kot, der gefroren ist. Mielad deutet mit dem Finger auf diese Zustände und stellt Fragen: »Warum müssen wir hier leben? Haben wir unsere Häuser und unser Land verlassen und sind vor dem Krieg geflüchtet, nur um hier zu erfrieren?« Unweit der improvisierten Toilette hält er sich die Nase zu und sagt: »Das ist doch widerlich. Ich kann hier nicht länger bleiben.«
Täglich kommen rund 100 neue Flüchtlinge aus Mazedonien und Bulgarien in Serbien an. Hier bleiben sie stecken, weil die Grenzen zu Ungarn und Kroatien dicht sind. Laut Europol hat sich Belgrad zum Epizentrum für die Schlepper auf der Balkan-Route entwickelt.
Gewalt gegen Flüchtlinge
Die Afghanen in den Lagerhallen sind im Schnitt deutlich ärmer als die Flüchtlinge, die noch vor der Schließung der Balkan-Route vergangenes Jahr im März in Belgrad ausharrten. Vielen ist das Geld ausgegangen, auch weil sie von den Schleppern betrogen werden. Rund 3.000 Euro kostet es derzeit, nach Ungarn zu kommen. Für viele ist es ein Rückfahrschein, weil die ungarische Regierung Push-Backs durchführt. Die Ruinen von Belgrad sind voller Männer, die behaupten, bereits in Ungarn gewesen und dann von der Polizei geschlagen, misshandelt und zurückgeschickt worden zu sein. Auch der bulgarischen Polizei wird in zahlreichen dokumentierten Fällen die Misshandlung von Flüchtlingen vorgeworfen.
40 Prozent der Flüchtlinge sind minderjährig
Der neunjährige Hamraz wärmt seine Hände am Feuer und hustet. Seit zwei Monaten lebt der Junge in den Ruinen. Er ist mit einer kleinen Gruppe unterwegs, aber ohne Eltern und Familie. Hamraz kommt aus der afghanischen Region Nangarhar, die zwischen Kabul und der pakistanischen Grenze liegt; Taliban-Gebiet. Er sagt, seine Eltern hätten ihn losgeschickt, weil die Taliban mehrfach versucht hätten, seinen Vater zu töten: »Ich kann auch nicht in die Schule gehen, weil die oft von den Taliban angegriffen wird.«
Die NGO »Save the Children« schätzt, dass sich rund 900 unbegleitete Minderjährige in Serbien aufhalten. 200 bis 300 von ihnen sollen in den Lagerhallen schlafen. Als die Temperaturen in Belgrad im Winter auf bis zu minus 16 Grad sanken, warnte die NGO, dass die Kinder zu erfrieren drohten. Als die Temperaturen stiegen, wurde die Situation ein wenig erträglicher.
Die Situation in den Aufnahmezentren
In den Ruinen hat sich eine reine Männerwelt gebildet, weil Frauen und Mädchen in den serbischen Aufnahme- und Asylzentren unterkommen. In Serbien befinden sich rund 8.000 Flüchtlinge. Die meisten leben in den offiziellen Flüchtlingslagern, in denen die Situation etwas besser ist als in den Belgrader Baracken.
Alleine im Camp «Krnjača» am Rande Belgrads leben circa 1300 Flüchtlinge. Während die Belgrader Ruinen eine reine Männerwelt sind, leben in den offiziellen Lagern auch viele Familien, Frauen und Mädchen. Im Haus Nummer 13 des Camps leben ausschließlich unbegleitete Minderjährige im Alter von 11 bis 17 Jahren. Die meisten besuchen die Schule und sprechen bereits etwas Serbisch. Die meisten schlafen in Vierbettzimmern. Die Kinder im Alter bis zu 13 Jahren müssen zu zehnt in einem Zimmer schlafen. Es ist warm, es gibt einen Spielplatz und dreimal am Tag etwas zu essen.
Die serbische Regierung bemüht sich nach außen, ein humanes Gesicht zu zeigen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Lange Zeit hatte sich der serbische Staat geweigert, ausreichend Schlafplätze zur Verfügung zu stellen und Geflüchtete damit in die Obdachlosigkeit gezwungen. Warum viele Flüchtlinge nicht in die Aufnahmezentren wollen, hat aber einen anderen Hintergrund.
Abschiebungen aus den Aufnahmezentren
Dem UNHCR zufolge werden Flüchtlinge aus Serbien vermehrt über die Grenze nach Mazedonien und Bulgarien abgeschoben. Diese Praxis ist rechtswidrig, hat sich aber auf der westlichen Balkanroute inzwischen etabliert. Nikola Kovačević vom Belgrader Zentrum für Menschenrechte sagt: »Wir haben Berichte, laut denen uniformierte Männer Flüchtlinge aus dem Bus an die Grenze gebracht haben. Dort wurden ihre Papiere zerrissen und die Menschen bei Temperaturen von minus elf Grad im Wald ausgesetzt.«
Auch Human Rights Watch berichtet von illegalen Push- Backs. Demnach sollten an einem Tag 40 Flüchtlinge von der serbisch-ungarischen an die serbisch-mazedonische Grenze gebracht werden. Doch die Menschen wurden einfach auf mazedonischem Gebiet rausgeschmissen. NGOs schätzen, dass bislang über 1000 Menschen Opfer dieser illegalen Push-Backs aus Serbien geworden sind. Es ist die Angst vor diesen brutalen Push-Backs, die Menschen in die Belgrader Baracken treibt.
Krsto Lazarević, Journalist bei »Jib Collective«
(Dieser Artikel erschien zuerst im Juni 2017 im Heft zum Tag des Flüchtlings 2017).