22.08.2017
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Flüchtlinge, die von der »libyschen Küstenwache« aufgegriffen wurden in einem vergitterten Truck in der Nähe von Tripolis. Foto: picture alliance / AP / Mohamed Ben Khalifa

Italien und die Europäische Union haben Fakten geschaffen. Mit Millionen Euro und militärischer Unterstützung für das total zerrüttete Libyen ebenso wie mit der versuchten Kriminalisierung von Seenotrettern. Flüchtlinge werden nun im europäischen Auftrag in ein Land zurückgebracht, in dem schwere Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.

Liby­en soll – wie einst zu Gad­da­fis Zei­ten – wie­der zum Tür­ste­her Euro­pas wer­den. Auch, dass die Macht­ver­hält­nis­se im Land äußerst insta­bil sind, hält die Euro­päi­sche Uni­on nicht von üppi­gen Finanz­sprit­zen und tech­ni­scher Unter­stüt­zung ab. Dafür erwar­tet man, dass sich die Zahl der ankom­men­den Boots­flücht­lin­ge in Euro­pa deut­lich redu­ziert. Die Fol­gen der aktu­el­len Poli­tik: Noch mehr Men­schen wer­den ertrin­ken oder in die liby­schen Elend­sla­ger zurückgeschleppt.

Lager in Libyen: Unvorstellbare Hölle

Was über die­se Lager an die Öffent­lich­keit dringt, ist unvor­stell­bar grau­sam. Der Arzt Dr. Tank­red Stö­be war im Janu­ar 2017 für die Orga­ni­sa­ti­on »Ärz­te ohne Gren­zen« in Liby­en und berich­tet, dass fast alle inhaf­tier­ten Flücht­lin­ge medi­zi­ni­sche Hil­fe benö­tig­ten. Auch die Situa­ti­on in den Lagern schil­dert er: »Die klei­nen Schlaf­räu­me sind ver­schmutzt, die Matrat­zen ver­filzt, schon auf dem Flur mit Urin­pfüt­zen kommt mir ein ätzen­der Gestank ent­ge­gen. Der Boden des Wasch­rau­mes ist knö­chel­tief mit Kot und Urin bedeckt.«

84%

der aus Liby­en Geflo­he­nen berich­ten Oxfam von erleb­ter Fol­ter und Misshandlungen.

Dazu sind die Schutz­su­chen­den mas­si­ver kör­per­li­cher und sexu­el­ler Gewalt aus­ge­setzt. In einem Bericht von Oxfam erzäh­len 84 Pro­zent der Befrag­ten von sol­chen Erleb­nis­sen, wie eine 28-jäh­ri­ge Nige­ria­ne­rin: »Sie ver­prü­gel­ten jeden Teil mei­nes Kör­pers und zwan­gen mich dazu, an sexu­el­ler Gewalt gegen die ande­ren Frau­en mitzuwirken.«

Der Jour­na­list Micha­el Obert berich­tet in sei­ner Repor­ta­ge Ähn­li­ches: Als er im Sur­man-Flücht­lings­la­ger bei Zawi­ya ist, erzäh­len ihm Frau­en von bru­ta­len Mehr­fach­ver­ge­wal­ti­gun­gen. Das Lager unter­steht offi­zi­ell dem Innen­mi­nis­te­ri­um der liby­schen Ein­heits­re­gie­rung, tat­säch­lich kon­trol­lie­ren es loka­le Milizen.

Die mas­si­ven Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Liby­en gesche­hen nicht etwa hin­ter dem Rücken euro­päi­scher Politiker*innen. Sie gesche­hen mit tat­kräf­ti­ger Unter­stüt­zung Europas.

Ein Bericht der Unter­stüt­zungs­mis­si­on der Ver­ein­ten Natio­nen in Liby­en (UNSMIL) und des UN-Hoch­kom­mis­sars für Men­schen­rech­te aus dem Dezem­ber 2016 (PDF) nennt die Situa­ti­on schon im ers­ten Satz beim Namen: »The situa­ti­on of migrants in Libya is a human rights cri­sis.« Die­se Men­schen­rechts­kri­se, die von Amnes­ty Inter­na­tio­nal seit Jah­ren doku­men­tiert wird, ist auch euro­päi­schen Poli­ti­kern nicht ver­bor­gen geblieben.

Luxem­burgs Außen­mi­nis­ter Assel­born stell­te klar: »Men­schen wer­den dort ver­ge­wal­tigt, es gilt kein Recht«, und auch sein deut­scher Kol­le­ge Sig­mar Gabri­el konn­te nach einem Besuch vor Ort nur sicht­lich erschüt­tert von »fürch­ter­li­chen Zustän­den« in »fins­te­ren Gefäng­nis­sen« spre­chen. Das Aus­wär­ti­ge Amt hat­te ohne­hin schon im Janu­ar klar und deut­lich auf »aller­schwers­te, sys­te­ma­ti­sche Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen« hin­ge­wie­sen: »Exe­ku­tio­nen nicht zah­lungs­fä­hi­ger Migran­ten, Fol­ter, Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Erpres­sun­gen sowie Aus­set­zun­gen in der Wüs­te sind dort an der Tagesordnung.«

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Beson­ders absurd ist vor die­sem Hin­ter­grund, dass Sig­mar Gabri­el nun in einem Inter­view die Fra­ge auf­warf, »wer die Men­schen denn schüt­ze«, wenn man sie nach Liby­en zurück­bräch­te. Denn er kennt die Ant­wort: Nie­mand. Und er weiß auch: Die­se Fra­ge stellt er reich­lich spät. Die mas­si­ven Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Liby­en gesche­hen nicht etwa hin­ter dem Rücken euro­päi­scher Politiker*innen. Sie gesche­hen mit tat­kräf­ti­ger Unter­stüt­zung Europas.

Wer ist die sogenannte »libysche Küstenwache«?

Der liebs­te Part­ner ist dabei eine undurch­sich­ti­ge Orga­ni­sa­ti­on, die sich »liby­sche Küs­ten­wa­che« nennt. Ein Begriff, der gera­de von Politiker*innen ger­ne auf­ge­grif­fen wur­de, weil er so schön nach Recht und Ord­nung klingt. Die Wahr­heit ist aber: Die soge­nann­te »liby­sche Küs­ten­wa­che« besteht auch aus bewaff­ne­ten War­lords, die die Kon­trol­le der liby­schen Gewäs­ser zu ihrem Geschäft machen. Sie wer­den dabei von nie­man­dem kon­trol­liert und sind nie­man­dem unterstellt.

»Er ist von kei­ner Regie­rung legi­ti­miert, nie­mand kon­trol­liert ihn. Er ist der ein­zi­ge, der Euro­pa als Küs­ten­wa­che west­lich von Tri­po­lis zur Ver­fü­gung steht.«

Micha­el Obert über den War­lord Al Bija

Der Repor­ter Micha­el Obert stand auch mit dem War­lord Al Bija in Kon­takt. In einem aus­führ­li­chen Inter­view mit dem hr-info­ra­dio macht er deut­lich, mit wem die Euro­päi­sche Uni­on da pak­tiert: »Er hat kei­nen legi­ti­men Auf­trag, er ist von kei­ner Regie­rung legi­ti­miert, nie­mand kon­trol­liert ihn. Er ist der ein­zi­ge, der Euro­pa als Küs­ten­wa­che west­lich von Tri­po­lis zur Ver­fü­gung steht.«

In ihren Ein­sät­zen geht die soge­nann­te Küs­ten­wa­che äußerst aggres­siv und gewalt­sam vor. Das Maga­zin Moni­tor berich­te­te bereits im Juni über deren Prak­ti­ken: Mit Waf­fen­ge­walt wer­den Flücht­lin­ge zurück nach Liby­en ver­bracht, dem Aus­wär­ti­gen Amt lie­gen zudem Hin­wei­se auf eine Zusam­men­ar­beit mit Schlep­pern vor. In einem UN-Bericht wird der mehr­fa­che Beschuss von Flücht­lings­boo­ten doku­men­tiert; Schutz­su­chen­de sol­len durch die »Küs­ten­wäch­ter« schwe­re Miss­hand­lun­gen erfah­ren haben.

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Wie die Agen­tur Reu­ters berich­tet, wer­den Flücht­lin­ge auch schon an Land an der Flucht gehin­dert. In der Stadt Sab­ratha, west­lich der Haupt­stadt Tri­po­lis, ver­sucht dort eine bewaff­ne­te Grup­pe, die Abfahrt von Boo­ten zu unter­bin­den. Die taz schreibt aus­führ­lich über die­ses Kom­man­do, zu dem auch ein­fluss­rei­che Schmugg­ler­bos­se gehören.

Ein wei­te­rer Fak­tor, um zu ver­hin­dern, dass Men­schen Euro­pa errei­chen ist die ver­such­te Kri­mi­na­li­sie­rung und akti­ve Behin­de­rung von See­not­ret­tung. Liby­en rief nun eine eige­ne »Such- und Ret­tungs­zo­ne« aus und erklär­te, auch in den inter­na­tio­na­len Gewäs­sern außer­halb der eige­nen Hoheits­ge­wäs­ser (der 12-Mei­len-Zone) kei­ne pri­va­ten See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen zu dulden.

Moni­tor zeigt, wie das Schiff der Orga­ni­sa­ti­on Sea-Watch lebens­ge­fähr­lich abge­drängt wur­de; den spa­ni­schen Aktivist*innen von Proac­ti­va Open Arms erging es kürz­lich noch schlim­mer: Ihr Schiff wur­de stun­den­lang von Liby­ern fest­ge­hal­ten, der Besat­zung mit Beschuss gedroht, wenn sie sich nicht aus dem eigen­mäch­tig erwei­ter­ten Ret­tungs­ge­biet fernhielte.

Von Sei­ten der Bun­des­re­gie­rung gibt es dazu nur die wachs­wei­che Aus­sa­ge, man wei­se Liby­en dar­auf hin, dass es dadurch »nicht zu völ­ker­rechts­wid­ri­gen Ein­schrän­kun­gen von See­not­ret­tun­gen durch Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen« kom­men dür­fe. Ech­tes Ein­tre­ten für das Völ­ker­recht sieht anders aus. Durch die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen und Bedro­hun­gen sind momen­tan nur noch weni­ge Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen im zen­tra­len Mit­tel­meer unter­wegs.

Europas Beitrag

Das gan­ze Vor­ge­hen wird von der Euro­päi­schen Uni­on mit­fi­nan­ziert. Bereits im Febru­ar haben die Regie­rungs­chefs bei einem Tref­fen auf Mal­ta über 200 Mil­lio­nen Euro zur »Steue­rung der Migra­ti­ons­strö­me« bereit­ge­stellt. Zen­tra­ler Punkt in den Über­le­gun­gen der EU-Kom­mis­si­on: »Migra­ti­ons­be­zo­ge­ne Pro­jek­te in Bezug auf Liby­en«. Kon­kret ist dar­un­ter die finan­zi­el­le und tech­ni­sche Unter­stüt­zung beim Grenz­schutz zu verstehen.

Neben der Auf­rüs­tung der »Küs­ten­wa­che« soll auch die süd­li­che Land­gren­ze Liby­ens abge­rie­gelt wer­den, um die Flucht­rou­te aus den angren­zen­den Staa­ten dicht zu machen. Dar­über hin­aus gibt es eine Rei­he von soge­nann­ten »Migra­ti­ons­part­ner­schaf­ten« mit wei­te­ren afri­ka­ni­schen Tran­sit- und Her­kunfts­staa­ten oder regio­na­le Koope­ra­tio­nen mit mehr als frag­wür­di­gen Regimes wie Sudan, Soma­lia, Süd­su­dan oder Eritrea.

»Die Wer­te, auf die sich die Uni­on grün­det, sind die Ach­tung der Men­schen­wür­de, Frei­heit, Demo­kra­tie, Gleich­heit, Rechts­staat­lich­keit und die Wah­rung der Menschenrechte…«

Arti­kel 2 des Ver­tra­ges der Euro­päi­schen Union

Im Juli gab es eine wei­te­re Mel­dung über 46 Mil­lio­nen Euro für den Grenz­schutz in Liby­en: Die liby­sche Mit­hil­fe bei der Flucht­ver­hin­de­rung lässt man sich also in der EU eine gan­ze Men­ge kos­ten. Dazu wur­de näm­lich auch die Mit­tel­meer­mis­si­on EUNAFVOR Med (die, um net­ter zu klin­gen, 2015 in »Sophia« umbe­nannt wur­de) unlängst bis 2018 ver­län­gert. Zen­tra­ler Bestand­teil ist hier längst nicht mehr die Ret­tung von Flücht­lin­gen in See­not, son­dern das Trai­ning der »liby­schen Küs­ten­wa­che«.

Inter­es­sant am Ran­de: Auch der liby­sche Gene­ral Haft­ar hat der EU ver­spro­chen, den Start von Flücht­lings­boo­ten aus Liby­en zu been­den – dafür möch­te er 20 Mil­li­ar­den Euro haben. Der Gene­ral ist im Übri­gen der wich­tigs­te Riva­le von Minis­ter­prä­si­dent al-Sar­rad­sch, der die inter­na­tio­nal aner­kann­te liby­sche Ein­heits­re­gie­rung führt. Die Regie­rung kon­trol­liert aber nur einen Teil des Lan­des, in dem, laut Jour­na­list Obert, 1.700 ver­schie­de­ne Mili­zen aktiv sind.

Die­se Wer­te trei­ben irgend­wo im Mit­tel­meer vor sich hin.

Das zeigt: Die poli­ti­sche Situa­ti­on in der »Staats­rui­ne« Liby­en ist völ­lig undurch­sich­tig. Das hin­dert die EU aller­dings nicht dar­an, saf­ti­ge Beträ­ge in zwei­fel­haf­te Struk­tu­ren zu pum­pen und die eige­nen Wer­te (»Die Wer­te, auf die sich die Uni­on grün­det, sind die Ach­tung der Men­schen­wür­de, Frei­heit, Demo­kra­tie, Gleich­heit, Rechts­staat­lich­keit und die Wah­rung der Men­schen­rech­te…«, Arti­kel 2 des Ver­tra­ges der Euro­päi­schen Uni­on) ein­fach über Bord zu werfen.

Die­se Wer­te trei­ben nun irgend­wo im Mit­tel­meer vor sich hin.

 

(Max Klöck­ner)


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