Hintergrund
Hinweise zu Folgeanträgen von syrischen Kriegsdienstverweigerern
Laut einem EuGH-Urteil müssten syrische Kriegsdienstverweigerer in der Regel Flüchtlingsstatus bekommen. Für Personen, denen dies verweigert wurde, stellt sich nun die Frage nach einem Folgeantrag. PRO ASYL hält Folgeanträge für sinnvoll und gibt hier rechtliche Hinweise zu dem Thema. Anträge sollten bis zum 19. Februar 2021 gestellt werden.
UPDATE Februar 2021: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im Entscheiderbrief 12/2020 (S. 4) angekündigt, alle Asylfolgeanträge, die sich auf das vorgenannte Urteil des EuGH in der Sache EZ stützen, als unzulässig abzulehnen. Asylfolgeantragsteller müssen ergo damit rechnen, ihr Begehren in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren weiterverfolgen zu müssen.
Mit seinem Urteil in EZ gegen Deutschland vom 19. November 2020 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) klargestellt, dass syrische Kriegsdienstverweigerer im Regelfall Flüchtlingsstatus bekommen müssten. Dies ist in Deutschland seit 2016 aber nicht der Fall, viele haben stattdessen subsidiären Schutz erhalten. Damit stellt sich die Frage, ob syrische Kriegsdienstverweigerer, deren Asylverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen ist, über einen Folgeantrag noch einen Flüchtlingsstatus bekommen können. Dafür muss geprüft werden, ob 1) ein Folgeantrag für die Konstellation in Frage kommt und ob 2) es für die individuelle Person Chancen auf eine andere Entscheidung gibt. Zu beiden Punkten gibt PRO ASYL hier rechtliche Hinweise. Betroffene sollten sich anwaltlich zu ihrer Situation beraten lassen. Ein Folgeantrag müsste innerhalb von drei Monaten ab Kenntnis des Urteils gestellt werden (Frist sicherheitshalber bis zum 19. Februar 2021 einhalten, vgl. § 51 Abs. 3 Verwaltungsverfahrensgesetz).
PRO ASYL hält, wie unten dargelegt, in Folge des EuGH-Urteils Folgeanträge von syrischen Kriegsdienstverweigerern für sinnvoll.
PRO ASYL fordert zudem, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seine Entscheidungspraxis nun sofort revidieren und der Rechtsprechung des EuGHs anpassen muss. Die falschen Flüchtlingsablehnungen tausender Syrer und die damit einhergehende Verweigerung bzw. Verschleppung des Familiennachzugs sind ein Skandal. Hier muss politisch reagiert werden, u.a. mit der Angleichung des Rechts auf Familiennachzug für subsidiär Geschützte.
Die falschen Flüchtlingsablehnungen tausender Syrer und die damit einhergehende Verweigerung bzw. Verschleppung des Familiennachzugs sind ein Skandal.
1. Folgeanträge nach dem EuGH-Urteil EZ gegen Deutschland
Ein Folgeantrag (§ 71 Asylgesetz) kann nach einem abgeschlossenen Asylverfahren gestellt werden, wenn »sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat« (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz). Damit stellt sich die Frage, ob eine EuGH-Entscheidung eine geänderte Rechtslage im Sinne dieser Regelung ist. Diese Frage war bislang umstritten.
Es wird in der Kommentarliteratur vertreten, dass nur eine Gesetzesänderung sowie Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG (z.B. unvereinbare oder nichtige Gesetze) eine geänderte Rechtslage darstellt, nicht aber anderweitige Rechtsprechung – auch nicht jene des EuGH (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, Rn. 25). Auch das Bundesverwaltungsgericht erkennt bislang in einer Änderung (höchstrichterlicher) Rechtsprechung keine Änderung der Rechtslage (Urt. v. 30.08.1988, 9 C 47.87; Beschl. v. 01.07.2013, 8 B 7.13).
Doch wie die Gegenauffassung überzeugend argumentiert, sind es gerade im Asylrecht häufig erst die obersten Gerichte, die das Recht entwickeln (»Richterrecht«) und dies sollte im Rahmen des § 51 VwVfG entsprechend als geänderte Rechtslage anerkannt werden. Dies muss gerade auch für Entscheidungen des EuGH gelten, aufgrund derer sich Entscheidungen des BAMF als unionsrechtswidrig erweisen (Müller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, Rn. 30).
PRO ASYL hält angesichts dieser Entwicklung besagte EuGH-Rechtsprechung für eine relevante Änderung der Rechtslage und damit für einen legitimen Grund für einen Folgeantrag.
Diese Auffassung wurde nun durch den EuGH gestärkt. In der Entscheidung zu den ungarischen Transitzonen von diesem Jahr hat der EuGH das ungarische Konzept des »sicheren Transitstaats« als neuen Unzulässigkeitsgrund als unionsrechtswidrig verurteilt. Diese Entscheidung gelte auch als neue Erkenntnis, die einen Folgeantrag begründe. Dieser müsse unmittelbar nach Kenntnis des Urteils erfolgen. Eine Verpflichtung der Asylbehörde, die Verfahren von sich aus neu aufzurollen, gebe es nicht (Rn. 187 ff; siehe hierzu auch Constantin Hruschka beim Verfassungsblog).
PRO ASYL hält angesichts dieser Entwicklung in Fällen, in welchen die Ablehnung eines Asylantrags laut einer Entscheidung des EuGH unionsrechtswidrig war, besagte EuGH-Rechtsprechung für eine relevante Änderung der Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG und damit für einen legitimen Grund für einen Folgeantrag. Dies muss nun auch vom BAMF so umgesetzt werden bzw. wenn dies nicht getan wird, von den Verwaltungsgerichten.
2. Relevantes für den Einzelfall
Der EuGH hat in EZ gegen Deutschland zu bestimmten Auslegungsfragen Stellung genommen. Entsprechend ist ein Folgeantrag nur in Konstellationen sinnvoll, die auch diese Fragen betreffen und sich auf die Verfolgungshandlung »Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen (Kriegsverbrechen)« (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 Asylgesetz) beziehen.
- Ablehnung, weil der Wehrdienst nicht formal verweigert worden sei: Der EuGH hat klar gemacht, dass wenn es – wie in Syrien – keine Möglichkeit zur formalen Verweigerung des Wehrdienstes gibt, dies auch von dem Kriegsdienstverweigerer nicht verlangt werden kann (Rn. 29). Zudem kann, wenn die Verweigerung rechtswidrig und mit Strafe behaftet ist, von ihm vernünftigerweise nicht erwartet werden, dies der Militärverwaltung bekannt zu geben (Rn. 30).
- Ablehnung, weil nicht belegt werden könnte, dass der Antragsteller an Kriegsverbrechen beteiligt sein würde: »Im Kontext des allgemeinen syrischen Bürgerkriegs, der zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag des Betroffenen herrschte, d. h. im April 2017, und insbesondere in Anbetracht der – nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ausführlich dokumentierten – wiederholten und systematischen Begehung von Kriegsverbrechen durch die syrische Armee einschließlich Einheiten, die aus Wehrpflichtigen bestehen, erscheint die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst wird, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen, sehr hoch, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist« (Rn. 37). Entsprechend sei es nicht erforderlich, dass der Antragsteller sein Einsatzgebiet kenne (Rn. 38).
- Ablehnung, weil es keinen Verfolgungsgrund gegeben hätte: Laut dem EuGH besteht auch bei der Verweigerung des Kriegsdienstes, der zum Begehen von Kriegsverbrechen führen würde, die Notwendigkeit des Bestehens einer kausalen Verbindung zwischen der drohenden Verfolgungshandlung (hier der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Kriegsdienstverweigerung) und einem Verfolgungsgrund (bspw. der politischen oder religiösen Überzeugung). Es gebe aber eine starke Vermutung, dass eine solche Verknüpfung vorliegt:
- »Hierbei ist hervorzuheben, dass eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht« (Rn. 57).
- »Zweitens erlaubt, wie die Generalanwältin in Nr. 75 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Verweigerung des Militärdienstes, insbesondere dann, wenn diese mit schweren Sanktionen bewehrt ist, die Annahme, dass ein starker Wertekonflikt oder ein Konflikt politischer oder religiöser Überzeugungen zwischen dem Betroffenen und den Behörden des Herkunftslandes vorliegt« (Rn. 59).
- »Drittens besteht in einem bewaffneten Konflikt, insbesondere einem Bürgerkrieg, und bei fehlender legaler Möglichkeit, sich seinen militärischen Pflichten zu entziehen, die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verweigerung des Militärdienstes von den Behörden unabhängig von den persönlichen, eventuell viel komplexeren Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird«. Es reicht zudem, dass dem Betroffenen z.B. die religiöse oder politische Überzeugung – hier also die Regimegegnerschaft als Motiv für die Kriegsdienstverweigerung – vom Verfolger zugeschrieben wird (Rn. 60).
Es ist außerdem nicht Aufgabe des Antragstellers die Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu beweisen, sondern nur alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist dann Aufgabe der Behörde, die Plausibilität der Verknüpfung zu prüfen – und hierbei die starke Vermutung der Verknüpfung zu prüfen (Rn. 54 ff).
Entsprechend muss in jedem Fall geprüft werden, mit welcher Begründung das BAMF den Asylantrag bezüglich der Flüchtlingseigenschaft ursprünglich ablehnte und ob diese gemäß dem EuGH-Urteil nun als unionsrechtswidrig zu beurteilen ist.
Aufgepasst: Beim Folgeantrag wird die Verfolgungslage mit Hinblick auf die heutige Lage in Syrien beurteilt und nicht zum Zeitpunkt des ersten Asylantrages. Entsprechend könnte es empfehlenswert sein, direkt auf die weiter bestehende Verfolgungslage einzugehen.
3. Fazit
Auch wenn PRO ASYL der Meinung ist, dass syrischen Kriegsdienstverweigerern bei einem Folgeantrag Flüchtlingsstatus zuerkannt werden sollte, muss Betroffenen klar sein, dass aktuell nicht garantiert ist, dass die Folgeanträge Aussicht auf Erfolg haben. Es besteht aber keine Gefahr, dass sich ihre individuelle Lage durch einen Folgeantrag verschlechtert. Insbesondere für Personen, bei denen eine Familienzusammenführung bislang gescheitert ist, könnte ein Folgeantrag sinnvoll sein. Dieser sollte gut anwaltlich begleitet werden.
(Wiebke Judith / Peter von Auer)