Hintergrund
Gestrandet in Griechenland: Abgeschobene Afghanen fliehen erneut

Aus Deutschland abgeschobene afghanische Schutzsuchende sind oft erneut zur Flucht gezwungen. Mitarbeiter*innen von Refugee Support Aegean (RSA), Partnerorganisation von PRO ASYL in Griechenland, haben vier der abgeschobenen Flüchtlinge getroffen, die in den Flüchtlingslagern der Ägäis-Inseln und in Athen gestrandet sind.
Abschiebungen in den Bürgerkrieg
Über ein Jahr nachdem der erste Abschiebeflug von Deutschland aus nach Kabul startete, wurden am 23. Januar 2018 erneut 19 Schutzsuchende zwangsweise nach Afghanistan abgeschoben. Bis heute sind es insgesamt 174 Personen, die in neun Charter-Flügen abgeschoben wurden – trotz zunehmender Anschläge in dem seit Jahrzehnten von gewaltsamen Konflikten und Krieg erschütterten Land.
Zwischen Januar und Ende September 2017 dokumentierte die UN Unterstützungsmission für Afghanistan (UNAMA) 2.640 zivile Opfer (siehe auch hier und hier). Währenddessen warnt das Auswärtige Amt eigene Staatsbürger*innen weiterhin vor Reisen nach Afghanistan aufgrund der desolaten Sicherheitslage und der fortbestehenden Gefahren. Deutschland ist einer von elf europäischen Staaten, die derzeit kollektive Charter-Abschiebungen nach Afghanistan durchführen oder planen.
Der erste Charter-Flug nach Kabul startete im Dezember 2016 von Deutschland aus – zwei Monate nach Verabschiedung des „Joint Way Forward“, einer politischen Vereinbarung zwischen der EU und Afghanistan zur forcierten Abschiebung afghanischer Schutzsuchender aus Europa. Am selben Tag, an dem die Vereinbarung unterzeichnet wurde, schlossen auch Deutschland und Afghanistan ein bilaterales Rückführungsabkommen ab. Nach einem Bombenanschlag nahe der deutschen Botschaft in Kabul im Mai 2017 wurden Abschiebungen kurzfristig ausgesetzt, allerdings im Oktober bereits wieder aufgenommen.
Auch um Akzeptanz in der deutschen Öffentlichkeit für die Afghanistan-Abschiebungen zu schaffen, verwies die Bundesregierung von Anfang an auf äußerst vage Kategorien: Die meisten Abgeschobenen seien „Kriminelle“, Personen, die als „Gefährder“ eine Bedrohung darstellten oder nicht bei der Feststellung ihrer Identität und der Beschaffung von Dokumenten kooperierten. Man werde im Einzelfall prüfen, ob eine Abschiebung vorgenommen werden könne.
Kaum abgeschoben, wieder auf der Flucht
Viele Abgeschobene machen sich verzweifelt erneut auf den Weg nach Europa, um der Bedrohungssituation in Afghanistan zu entkommen und Schutz zu suchen. Vier junge Männer, die erneut unter Lebensgefahr nach Europa gelangten, berichten über ihre schrecklichen Erfahrungen während der Abschiebung aus Deutschland, auf der erneuten Flucht aus Afghanistan und über die inhumanen Lebensbedingungen, unter denen sie aktuell in Griechenland festsitzen.[1] Keiner von ihnen war in Deutschland strafrechtlich belangt worden, alle vier waren hier angekommen und gut integriert.
»Ich war nicht von staatlicher Unterstützung abhängig. Ich hatte ein festes Einkommen. Ich weiß nicht, warum ich abgeschoben wurde.«
Hassan Jan* (29), Mostafa* (24), Ali Mohammad* (27) und Jafar* (25) haben viele Dinge gemein.[2] Wir trafen sie im August und Oktober 2017 in Athen und auf einer Ägäis-Insel. Während wir über ihre Erlebnisse der letzten Monate sprechen wirken sie müde, was sie erzählen ist ihnen unangenehm. Ihr größter Wunsch ist die Rückkehr nach Deutschland und dort eine zweite Chance zu bekommen um zu bleiben – dieses Mal eine echte Chance.
Deutschland: Abschiebung im Morgengrauen
Die vier jungen Männer waren aus Afghanistan geflohen, als sie noch sehr jung waren. Sie beantragten Asyl in Deutschland, jedoch ohne einen sicheren Status und damit eine Bleibeperspektive zu erhalten. Trotz des prekären Status einer Duldung gelang es ihnen, in Deutschland Fuß zu fassen. Sie lernten Deutsch. Drei von ihnen gingen zur Schule. Während einer weiter dem Bildungsweg folgte, fanden die drei übrigen einen Job und konnten so ihren Lebensunterhalt sichern – bis ihr Leben durch die Ablehnung ihres Asylantrags eine dramatische Wendung nahm.
„Sie gaben mir nur zehn Minuten Zeit, ich konnte nur die Kleider mitnehmen, die ich anhatte. Vor lauter Aufregung vergaß ich, mein Schulzeugnis einzupacken. Dann war ich auf einmal in Kabul, nach sechs Jahren in Deutschland. Was ich dort sah, war für mich sehr schwierig. In den ersten Tagen hatte ich zu viel Angst, um raus zu gehen.“
(Ali Mohammad, 27-jähriger afghanischer Flüchtling, erinnert sich an den Alptraum seiner Abschiebung)
Drei von ihnen verloren aufgrund der Duldung ihre Arbeitsbewilligung, alle waren von nun an permanent von Abschiebung bedroht. Monatelang hatten sie Angst. Nach fünf bis sechs Jahren in Deutschland, berichten die vier jungen Männer, wie sie mitten in der Nacht von der Polizei festgenommen und auf einen Charter-Flug nach Afghanistan verbracht wurden. Sie waren auf den ersten drei Flügen, die von Deutschland aus in Richtung Kabul starteten.
Afghanistan: Zu gefährlich, um zu bleiben
Zurück in Kabul standen die Abgeschobenen unter Schock. Nicht einmal ihre persönlichen Gegenstände hatten sie in der Nacht- und Nebelaktion mitnehmen können. Drei von ihnen fanden eine provisorische Unterkunft im Gästehaus für Abgeschobene der Internationalen Organisation für Migration (IOM), aber nur für drei Wochen. Vor lauter Angst vor Bedrohungen und Verfolgung verbargen sie ihre Identität. Durch die permanente Gefahr gewaltsamer Anschläge in der Hauptstadt trauten sie sich nicht auf die Straße.
»Als ich in Afghanistan war, explodierte drei Mal eine Bombe in meiner unmittelbaren Nähe…«
Nach sechs weiteren Wochen in einer Unterkunft der Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation (AMASO)[3] waren die drei schließlich obdachlos. Ali Mohammad wurde mehrmals von Fremden auf der Straße angehalten. Sie hatten ihn im Fernsehen gesehen, als er am Flughafen in Kabul aus dem Abschiebeflugzeug gestiegen war. Sie hätten Geld von ihm verlangt und ihn als „Kefir“ (Atheist, Gotteslästerer) beschimpft, berichtet er. Mostafa wurde beinahe Opfer eines Selbstmordanschlages.
Ein Freund, mit dem er unterwegs war, erlitt dabei Verletzungen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Familienangehörige in Afghanistan, ohne jegliche Unterstützung oder Kontakte war es ihnen allen unmöglich eine Unterkunft zu finden und ihr Überleben zu sichern. Während ihres Aufenthalts in Afghanistan lebten sie von dem wenigen Geld, das sie aus Deutschland mitgebracht hatten oder von Überweisungen von Freund*innen aus Europa. Das Land, aus dem sie geflohen waren, erkannten sie kaum wieder und bereiteten die erneute Flucht nach Europa vor – um endlich Schutz zu finden.
Türkei: Flucht unter Lebensgefahr
Mostafa und Hassan Jan gelangten nur unter großer Gefahr erneut nach Europa. An der türkisch-griechischen Grenze wurden sie Opfer von völkerrechtswidrigen Zurückweisungen, sogenannten Push Backs, und Inhaftierung. Mostafa wurde erneut nach Afghanistan abgeschoben.
»Die griechischen Beamten verbrachten uns in einen fensterlosen Lieferwagen und fuhren mich und andere Flüchtlinge, darunter Familien, an das Ufer des Evros-Flusses. Sie zwangen uns auf ein Boot. Sie ließen uns auf einer kleinen Insel mitten im Fluss zurück. Wir wurden gezwungen, durch den Fluss bis an das türkische Ufer zu laufen«
Mostafa wurde im August 2017 von der türkischen Polizei festgenommen, als er eines Nachts versuchte, von der türkischen Küste aus auf die griechischen Inseln überzusetzen.[4]
„Ich verbrachte 15 Tage in Chanakkale in Haft. Sie nahmen die ganze Gruppe fest, mit der ich unterwegs war, und brachten uns in die Polizeistation. Sie durchsuchten uns und sperrten uns in Zellen. Erst nach einer Woche nahmen sie uns die Fingerabdrücke ab und stellten uns einige Fragen. Ich berichtete von all meinen Problemen. Wie ich aus Deutschland abgeschoben wurde und von der Gefahr, der ich in Afghanistan ausgesetzt bin. Sie legten mir Handschellen an und brachten mich zum afghanischen Konsulat in Istanbul. Dort wurde mir unterstellt, dass ich mich in Deutschland strafbar gemacht hätte, weil es in den Nachrichten immer hieß, nur Kriminelle würden abgeschoben. Daraufhin wurde ich zum zweiten Mal nach Afghanistan abgeschoben.“
Kaum zurück, floh Mostafa schon nach einem Tag wieder in die Türkei.
Hassan Jan wurde Opfer eines Push Backs an der türkisch-griechischen Landgrenze, als er im Juni 2017 versuchte nach Griechenland zu gelangen. Es war nach seiner Abschiebung nach Afghanistan sein erster Versuch Europa zu erreichen.
„Kurz nachdem er Griechenland erreicht hatte, wurde er während einer Polizeikontrolle in einem Bus festgenommen. „Ich wurde mitgenommen und von der Polizei in einem großen Raum inhaftiert, in dem auch viele (andere) Menschen unterschiedlicher Nationalitäten waren – Syrer*innen, Afghan*innen und andere. Sie unterzogen uns einer Leibesvisitation und nahmen uns allen die Mobiltelefone weg… Mir wurden keine Fingerabdrücke abgenommen und ich musste kein Dokument unterzeichnen… Sie [die griechischen Beamten] verbrachten uns in einen fensterlosen Lieferwagen und fuhren mich und andere Flüchtlinge, darunter Familien, an das Ufer des Evros-Flusses. Sie zwangen uns auf ein Boot. Sie ließen uns auf einer kleinen Insel mitten im Fluss zurück. Wir wurden gezwungen, durch den Fluss bis an das türkische Ufer zu laufen…“
Hassan Jan kam schließlich wenige Tage später auf dem gleichen Weg in Griechenland an.
Griechenland: Gestrandet unter miserablen Bedingungen
Unter großen Schwierigkeiten gelangten die vier jungen Männer im Sommer 2017 nach Griechenland. Jetzt sitzen sie dort unter erniedrigenden Bedingungen fest. Wie sie ihr Überlegen sichern sollen, wissen sie nicht. Drei von ihnen versuchen den Winter in Sommerzelten in einem der berüchtigten Insel-Hotspots zu überstehen. Hassan Jan, der über die Landgrenze eingereist war, lebt obdachlos in Athen. Sie alle befinden sich nun im griechischen Asylverfahren. Eine Schutzperspektive haben sie damit nicht.
„… Alle hier können diese Bedingungen nicht mehr ertragen und die Unsicherheit, wie es für sie weitergeht. Immer wieder kommt es zu Handgreiflichkeiten und Konflikten. Im Dezember 2017 wurden unsere Zelte aufgrund von Unruhen erneut zerstört. Alle unsere Sachen sind verloren gegangen, wurden gestohlen oder zerstört. Wir haben nichts mehr und müssen wieder von Null beginnen.“
(Jafar beschreibt die unmenschlichen Bedingungen in einem der Flüchtlingslager der Ägäis-Inseln)
Obwohl die griechische Regierung bisher keine Abschiebungen direkt nach Afghanistan durchführt, wird auf eine Politik der Abschreckung gesetzt. Seit dem Inkrafttreten des EU-Türkei Deals im März 2016 bis Ende Januar 2018 kehrten 1.516 Afghanen[5] aus ganz Griechenland „freiwillig“ nach Hause zurück.
Im gleichen Zeitraum wurden insgesamt 88 afghanische Schutzsuchende von den ägäischen Inseln in die Türkei abgeschoben – entweder weil sie kein Asyl beantragt, ihren Antrag zurückzogen hatten oder weil ihr Asylantrag abgelehnt worden war.
Viele weitere wurden bereits vor dem Grenzübertritt nach Griechenland gestoppt: Sie wurden an der griechisch-türkischen Landgrenze festgenommen, zurückgeschoben oder von türkischen Beamten am Grenzübertritt gehindert. Es ist unklar, wie viele es nicht einmal versuchten, europäischen Boden zu erreichen. Aus Furcht festgenommen und unter erniedrigenden Bedingungen für eine unbestimmte Zeit auf den Inseln festgehalten zu werden.
Im Dezember 2017 eröffnete die afghanische Regierung eine Botschaft in Griechenland. Damit könnten nicht nur bürokratische Verfahren für afghanische Flüchtlinge in Griechenland erleichtert, sondern gleichzeitig zwangsweise Abschiebungen nach Afghanistan möglich werden.
„Ich fühlte mich in Deutschland zu Hause und sicher“, sagt Mostafa – trotz all der belastenden und schwierigen Momente, die er durchmachen musste. Zurzeit ist er froh, dass er fliehen und der Verfolgung in Afghanistan entkommen konnte.
Doch je länger er in Griechenland bleibt, umso verunsicherter ist er: Was soll er tun, wo kann er hingehen, um wirklich sicher zu sein? „Ich habe Angst hierzubleiben. Hier finde ich keinen Schutz. Alles kann mir hier passieren. Ich habe Angst, in die Türkei zurückgeschickt oder sogar nach Afghanistan abgeschoben zu werden“, sagt er.
Die vier Geschichten
Hassan Jan ist im Alter von Anfang 20 aus Afghanistan nach Deutschland geflohen, nachdem er mit dem Tod bedroht worden war. Zunächst floh sein Vater aus Afghanistan, nachdem er einigen Mujjaheddin die Kooperation verweigert hatte und ihnen keine Information über seine ausländischen Kunden geben wollte. Hassan Jan wurde gezwungen, die Schule zu verlassen, um zu arbeiten und die Familie schon in seinem jungen Alter zu versorgen. Als er später den Laden seines Vaters übernahm, sah er sich bald den gleichen Gefahren ausgesetzt.
Er war Anfang 20, als er in Deutschland ankam. Fünf Jahre lang lebte er in Deutschland, arbeitete und hatte eine eigene Wohnung. Nachdem sein Asylantrag zum zweiten Mal abgelehnt wurde, erhielt er eine Duldung und blieb weitere acht Monate. Sein Anwalt beruhigte ihn: Da er keinen afghanischen Pass habe, könne er auch nicht zwangsweise nach Afghanistan abgeschoben werden. Trotzdem wurde er plötzlich festgenommen, für drei Tage inhaftiert und anschließend abgeschoben. „Ich war nicht von staatlicher Unterstützung abhängig. Ich hatte ein festes Einkommen. Ich weiß nicht, warum ich abgeschoben wurde.“
Zurück in Kabul stand Hassan Jan unter Schock. „Ich habe es dort nicht ausgehalten. Nach sechs Tagen in Kabul bin ich wieder nach Europa aufgebrochen. In Kabul habe ich gesehen, wie sich die Menschen verändert haben. Sie schienen zu merken, dass ich aus Europa kam. Fremde nannten mich ´Kefir´. Sogar mein Onkel ist inzwischen aus Afghanistan geflohen, weil er Angst um sein Leben hatte.“
Hassan Jan kam Anfang Juni 2017 nach einem zweiten Versuch schließlich in Griechenland an. Beim ersten Mal war er durch griechische Beamte illegal in die Türkei zurückgewiesen worden, berichtet er. Seit er in Griechenland ist, kämpft er um sein Überleben. „Ich habe zweimal versucht, nach Griechenland zu gelangen. Ich habe die Landgrenze überquert und bin nach Athen gegangen. Ich hatte kein Geld mehr und musste auf der Straße leben. Manchmal haben mich andere Afghanen für eine Nacht bei sich aufgenommen. Hin und wieder habe ich draußen geschlafen. Manchmal hatte ich zu essen, manchmal nicht. Gerade habe ich wieder einen Unterschlupf für ein paar Tage gefunden, aber ich weiß nicht, wann sie mich rausschmeißen werden. Mein Überleben hängt von der Solidarität und Hilfe anderer ab. Ich habe einen Asylantrag gestellt. Meine Anhörung im Asylverfahren wurde verschoben, da die griechischen Behörden zuerst ein Übernahmeersuchen an Deutschland schicken wollten, um die Zuständigkeit für mein Asylverfahren zu klären. Ich habe solche Angst, nach Afghanistan zurück zu müssen. Ich kann nicht zurück. Ich habe versucht, einen Platz in einem Camp oder einer Wohnung zu bekommen, aber alle Organisationen haben mir gesagt, ich müsste warten. Auch die Cash-Karte bekomme ich nicht, weil ich keinen festen Wohnort habe. Und ich habe kein Geld. Zurzeit habe ich gar nichts.“
Mostafa kommt aus dem Norden Afghanistans. Er ist auf einem Auge fast blind. Er erinnere sich nicht daran, wie das passiert sei. Nur, dass er als Teenager auf einmal feststellte, ein Problem mit seinem Sehvermögen zu haben. „Ich war 17 Jahre alt, als ich aus Afghanistan geflohen bin. Als ich ein Kind war, wurde ich von den Verwandten, bei denen ich aufgewachsen bin, misshandelt und gezwungen mehrere Stunden am Tag zu arbeiten, ohne dafür Geld zu bekommen. Sie schlugen mich mit allem, was sie zur Hand hatten. Aufgrund der Misshandlung mit einem Holzknüppel habe ich immer noch Narben am Kopf. Seither kann ich meinen Arm nicht mehr ganz ausstrecken. Ich habe Probleme mich zu konzentrieren und kann meine Gefühle nicht kontrollieren. Wenn ich gestresst und angespannt bin, fange ich an zu zittern.“
In Deutschland arbeitete er als Koch. In den letzten zwei Monaten vor seiner Abschiebung hatte er lediglich eine Duldung, weil sein Asylantrag in beiden Instanzen abgelehnt worden war. „Ich habe sechs Jahre in Deutschland gelebt und dort vier Jahre lang ununterbrochen gearbeitet. Ich habe 50 Lohnabrechnungen. Ich kann sie euch zeigen. Nur während der letzten zwei Monate war ich arbeitslos, weil mit meinem Status eine weitere Beschäftigung nicht möglich war.“
In Afghanistan sei er nicht sicher, berichtet Mostafa, weil er sich von seinem Glauben distanziert habe. Außerdem habe er weder Verwandte noch Freunde in Afghanistan und könne nirgendwo hin. „Als ich zurück in Afghanistan war, explodierte dreimal eine Bombe in meiner unmittelbaren Nähe. Das erste Mal tötete ein Selbstmordattentäter dutzende Menschen. Wir wollten gerade irgendwo Geld abholen als wir die Explosion hörten. In der Panik verloren wir unseren Freund A. aus den Augen, der mit uns abgeschoben worden war und mit dem wir unterwegs waren. Später erfuhren wir, dass er verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Das war am 7. Februar 2017.
Im Fernsehen wurde wöchentlich von drei bis vier Anschlägen berichtet. Ich erfuhr von Freunden, dass eine Person, die mit uns abgeschoben worden war, von den Taliban entführt und getötet worden sei. Von den 35 Personen, die abgeschoben wurden in unserem Flugzeug, haben nur sieben bis acht von uns für einige Zeit Aufnahme in einer Unterkunft für Abgeschobene gefunden. Ich hatte zu Beginn Glück, dass ich dadurch ein bisschen sicherer war. Sobald ich keinen Ort mehr zum Bleiben hatte, musste ich zum zweiten Mal aus Afghanistan fliehen.“
Mostafa leidet unter Depressionen. Er leidet unter Symptomen wie Schlafstörungen, zitternden Händen, davon, Dinge zu vergessen und von plötzlichen Schwindelanfällen. Es wurden auch neurologische Probleme diagnostiziert. Wenn er über die Zeit in Griechenland spricht, seufzt er tief: „Als ich in Griechenland ankam und erzählte, dass ich aus Deutschland abgeschoben worden sei, sagten sie mir zunächst, ich könne keinen Asylantrag stellen. Aber ich erklärte ihnen, dass mein Leben in Gefahr sei in meinem Herkunftsland.“ Die Registrierung seines Asylantrages musste allerdings verschoben werden, da an dem Termin Unruhen und Konflikte unter den Flüchtlingen ausgebrochen waren und das Asylbüro vorübergehend geschlossen wurde. Er erhielt einen Termin für Ende Januar 2018. „Ständig drängen sich die Massen an die Zäune des Asylbüros im Lager. Die Beamten sagen allen ´morgen, morgen!´ – Tag für Tag. Häufig ließen sie Familien rein, aber keine alleinstehenden Männer. Jetzt habe ich endlich einen neuen Termin bekommen, um meinen Asylantrag zu stellen.“
Ali Mohammad ist Hazara aus Afghanistan. Als er sechs Jahre alt war, floh er mit seiner Familie in den Iran. Die Lebensbedingungen waren hart, weshalb die Familie schließlich zurückkehrte nach Afghanistan, in der Hoffnung dort ein neues Leben zu beginnen. Als sie zu ihrem Haus und ihrem Feld kamen, erfuhren sie, dass andere Menschen dort eingezogen waren. Scheinbar handelte es sich um Unterstützer der lokalen Taliban.
„Sie griffen uns an und versuchten, meinen Vater umzubringen. Wir versuchten einen anderen Wohnort zu finden, aber meine Eltern konnten die Miete nicht bezahlen und hatten Angst, Probleme mit den Taliban zu bekommen. Wir kehrten also nach Teheran in den Iran zurück. Wir hatten das wenige verloren, was uns geblieben war. Ich arbeitete wieder als Metallarbeiter, litt täglich unter Diskriminierung und war dauernd von der Abschiebung nach Afghanistan bedroht. In der Zwischenzeit wurde mein Cousin in Afghanistan getötet. Es ist zu gefährlich dort. Meine ganze Familie ist geflüchtet. Ich habe niemanden mehr in Afghanistan. Ich kenne das Land noch nicht einmal. Ich kann nirgendwo hingehen und auch im Iran habe ich keine Papiere.“
In Deutschland lebte Ali Mohammad in einer Kleinstadt. Ein Leben, das er nun verloren hat. Doch auch in Deutschland hat er viel Schwieriges erlebt, erinnert er sich. Fünf Jahre lang lebte Ali Mohammad mit einer Duldung und hatte ständig Angst, abgeschoben zu werden. Aus Verzweiflung verletzte er sich selbst lebensgefährlich und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. „Ich konnte wegen meines unsicheren Status keine Arbeit finden. Ich hatte mit der Schule angefangen und ein Praktikum begonnen. Aber psychisch ging es mir so schlecht, dass ich nicht weitermachen konnte. Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, warum ich nicht arbeiten darf, um mein eigenes Geld zu verdienen. Nach sechs Monaten habe ich mein Praktikum beendet. Ich habe nur noch geschlafen und gegessen, ich hatte keine Motivation mehr irgendetwas zu tun. Es schien mir alles sinnlos. Ich habe jede Hoffnung verloren, es war wie ein Teufelskreis.“
Widerwillig versucht er sich an den Tag seiner Abschiebung zu erinnern: “Bei Tagesanbruch standen plötzlich Polizisten in meinem Zimmer. Es war etwa vier Uhr. Sie gaben mir nur zehn Minuten Zeit, ich konnte nur die Kleider mitnehmen, die ich an hatte. Vor lauter Aufregung vergaß ich, mein Schulzeugnis einzupacken. Dann war ich auf einmal in Kabul, nach sechs Jahren in Deutschland. Was ich dort sah, war für mich sehr schwierig. In den ersten Tagen hatte ich zu viel Angst, um raus zu gehen. Man sagte zu mir:´Hey, ich kenne euch, ich habe euch im Fernsehen gesehen. Ihr seid aus Deutschland abgeschoben worden.´ Sie haben uns belästigt und uns so behandelt als wären wir reich. Als hätten wir Geld, nur weil wir aus Deutschland kamen. Ich trug dieselbe Jacke und dieselben Schuhe, die ich während der Abschiebung getragen hatte und die im Fernsehen zu sehen waren als ich interviewt wurde. Ich hatte keine andere Kleidung, um mich umzuziehen. Danach hatte ich große Angst. Wir sind nicht mehr raus gegangen, nur wenn wir uns etwas zu essen holen mussten.“
Seit er auf der Ägäis-Insel angekommen ist, möchte Ali Mohammad sein Zelt nicht verlassen. Die Ärzte haben ihm Depressionen attestiert und ihn zur weiteren Behandlung an Ärzte ohne Grenzen (MSF) verwiesen. Er berichtet von Schlaflosigkeit, Angstzuständen und dass seine Hand zittere. „Wir alle haben erst Ende November eine Cash-Card bekommen, aber ohne Guthaben darauf. Wir haben also gar kein Geld. Sie haben uns versprochen, dass die Karten kurz vor Weihnachten aufgeladen werden. Manchmal bekommen wir kein richtiges Essen. Wir stellen uns lange an und manchmal ist das Essen ungenießbar. Manchmal schlagen sich die Menschen hier um das Essen.“
Ali Mohammad scheint sich zu schämen, über die Bedingungen im Camp zu sprechen. „Wir leben alle in Sommerzelten, weil es keinen Platz gibt in den Containerunterkünften oder den größeren Zelten. Es ist kalt und nass. Manchmal regnet es zwei Tage lang ununterbrochen. Die Zelte stehen auf Betonboden. Wir haben Decken über die Zelte gespannt, um die dünnen Plastikwände zu verstärken.“ Ali Mohammad* konnte seinen Asylantrag erst Anfang Dezember 2017 registrieren lassen. Seine Anhörung soll Ende Februar 2018 stattfinden.
Jafar ist Hazara und arbeitete auf einer Farm bevor er als 17-Jähriger zum ersten Mal aus Afghanistan flüchtete. Er habe sich damals in ein Mädchen verliebt. Doch sie konnten nicht heiraten, weil sie einem mächtigen Clan angehörte. Die verbotene Liebesbeziehung des unverheirateten Paares habe zur Ermordung seines Vaters geführt. Jafar musste fliehen, als er noch minderjährig war.
Die letzten Jahre verbrachte er mit einer Duldung in Deutschland. „Nach meinem Hauptschulabschluss wollte ich arbeiten. Ich hatte gerade einen Ausbildungsplatz bekommen, als ich abgeschoben wurde. Ich hatte bereits einen Termin, um mit der Ausbildung zu beginnen und wenn ich bereits in der Ausbildung gewesen wäre, hätten sie mich nicht abschieben können.“[6]
Er musste länger als die anderen in Afghanistan bleiben, da er kein Geld hatte, um erneut aufzubrechen. „Letzten Juli musste ich in meine Heimatprovinz reisen, um eine Tazkira (afghanischer Identitätsausweis) zu bekommen. Auf dem Rückweg wurde ich von den Taliban kontrolliert. Einer von ihnen sagte: ´Er ist ein Abgeschobener aus Europa´. Sie wollten mich zwingen aus dem Bus auszusteigen, aber ein anderer Passagier ging dazwischen. Er sagte, er kenne mich und dass ich gerade erst aus dem Iran abgeschoben worden sei, nicht aus Europa. Ich zitterte vor Angst und zeigte ihnen meine Tazkira. Sie ließen mich gehen. Ich kenne andere, die aus Europa abgeschoben wurden und nicht so viel Glück hatten. Sie verschwanden. Ich weiß nicht, ob sie noch am Leben sind. Nachdem ich in die Hauptstadt zurückgekehrt war, war ich obdachlos in Kabul. Ich weiß nicht mehr, wie ich dort überlebt habe. An die Tage kann ich mich kaum erinnern, ich habe versucht sie zu vergessen.“
Jafar möchte nicht viel erzählen. Man sieht, wie er leidet. Sein Asylantrag wurde erst Ende Januar 2018 registriert. Er habe es nicht geschafft, zu einem Arzt zu gehen. Nicht einmal dazu könne er sich motivieren, sagt er. „Es gibt keine funktionierenden Toiletten hier. Wir versuchen Erlaubnisse von den Bewohner*innen der vorgefertigten Containerunterkünfte zu bekommen, um ihre Badezimmer zu nutzen. Aber die meisten von ihnen sind Familien und sie wollen nicht, dass wir das tun. Ich erinnere mich nicht, wann ich zuletzt geduscht habe. Es gibt kein warmes Wasser. Manchmal stellen sie das Wasser für drei bis vier Tage ab. Die Duschen sind so schmutzig, dass wir krank werden wenn wir sie nutzen. Es ist dreckig und riecht schlecht. Weil die Toiletten kaputt sind, nutzen manche stattdessen die Duschen. Das könnt ihr euch nicht vorstellen. Alle hier können diese Bedingungen nicht mehr ertragen und die Unsicherheit, wie es für sie weitergeht. Immer wieder kommt es zu Handgreiflichkeiten und Konflikten. Im Dezember 2017 wurden unsere Zelte aufgrund von Unruhen erneut zerstört. Alle unsere Habe wurden geklaut, zerstört oder gestohlen. Wir haben nichts mehr. Auch die kleinen Dinge, die wir wie Schätze hüten gehen jedes Mal von neuem verloren und wir beginnen wieder bei Null.“
Salinia Stroux