18.07.2017
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Kabul, März 2017: Rauch steigt über dem Gelände des Militärkrankenhauses auf. Anschläge und gewalttätige Auseinandersetzungen sind nicht nur in der Hauptstadt Afghanistans an der Tagesordnung. Leidtragende und Opfer sind vor allem Zivilist*innen. ©Reuters/Mohammad Ismail

Nach 12-jährigem Moratorium hat Deutschland Ende 2016 mit Sammelabschiebungen nach Afghanistan begonnen. Die Betroffenen werden offenkundig dem politischen Kalkül im Bundestagswahljahr geopfert.

Nicht die Lage in Afgha­ni­stan hat sich geän­dert, son­dern die innen­po­li­ti­sche Dis­kus­si­on«, sag­te die Men­schen­rechts­be­auf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung, Bär­bel Kof­ler, im Febru­ar 2017 und traf damit den Nagel auf den Kopf. Dass Deutsch­land ver­mehrt nach Afgha­ni­stan abschiebt, fußt nicht auf Fak­ten, son­dern beruht aus­schließ­lich auf poli­ti­schem Kal­kül der Ver­ant­wor­tungs­trä­ger. Wenn sich die Sicher­heits­si­tua­ti­on in Afgha­ni­stan ver­än­dert, dann zum Schlechten!

Mehr Tote, mehr Vertriebene, mehr Kämpfe

Mit 11.418 zivi­len Opfern der Kampf­hand­lun­gen wur­de im Jahr 2016 ein trau­ri­ger Rekord erreicht, seit die UNAMA 2009 mit der Doku­men­ta­ti­on begann. Die seit­her erfass­te Gesamt­zahl der zivi­len Opfer liegt bei über 70.000 – davon fast 25.000 Todes­op­fer. Auch Kin­der kom­men immer öfter zu Scha­den, im ver­gan­ge­nen Jahr mach­ten sie fast ein Drit­tel der Toten und Ver­letz­ten aus.

Sol­che Zah­len kön­nen auch dem Innen­mi­nis­ter nicht ver­bor­gen blei­ben, sei­ne Reak­ti­on aller­dings spricht Bän­de: Allen Erns­tes ver­such­te Tho­mas de Mai­ziè­re sei­ne inhu­ma­ne Abschie­be­po­li­tik damit zu recht­fer­ti­gen, dass die nor­ma­le Bevöl­ke­rung »zwar Opfer, aber nicht Ziel« der Tali­ban-Atta­cken sei. Für ihn macht das einen »gro­ßen Unter­schied«. Die betrof­fe­nen Men­schen dürf­ten das etwas anders sehen.

Konflikte im ganzen Land

Von den Kampf­hand­lun­gen betrof­fen sind alle Regio­nen des Lan­des, UNHCR berich­tet von Kämp­fen und Ver­trie­be­nen in 31 der 34 afgha­ni­schen Pro­vin­zen. Ver­gleichs­wei­se nied­rig sind nur die Opfer­zah­len in den »Cen­tral High­lands«, einem klei­nen und dünn besie­del­ten Gebiet in der Nähe der Haupt­stadt Kabul.

Dazu kommt, dass neben den Tali­ban in den letz­ten Jah­ren auch der »Isla­mi­sche Staat in der Pro­vinz Kho­ra­san« zuneh­mend in Afgha­ni­stan ope­riert. Die Zahl der Opfer von IS-Anschlä­gen war 2016 zehn­mal so hoch wie noch im Vorjahr.

Millionen auf der Flucht

Neben den Mil­lio­nen afgha­ni­scher Flücht­lin­ge in den Nach­bar­län­dern Iran und Paki­stan erhöht sich auch die Zahl der Bin­nen­ver­trie­be­nen wei­ter. Im Jahr 2016 wur­den über 600.000 Men­schen aus ihrer Hei­mat ver­trie­ben und befin­den sich inner­halb Afgha­ni­stans auf der Flucht. Die Gesamt­zahl der Bin­nen­ver­trie­be­nen dürf­te deut­lich über 1,5 Mil­lio­nen liegen.

Seit Mit­te 2016 steigt zudem auch der Druck der paki­sta­ni­schen Regie­rung auf die im Land befind­li­chen afgha­ni­schen Flücht­lin­ge, Hun­dert­tau­sen­de kehr­ten bereits mehr oder weni­ger unfrei­wil­lig zurück.

Mil­lio­nen Men­schen suchen Zuflucht, ohne dass irgend­wel­che Hilfs­struk­tu­ren exis­tie­ren. Vie­le drän­gen in die Haupt­stadt Kabul – aber auch dort wird es zuneh­mend unsi­cher, die Zahl der Anschlä­ge ist im ver­gan­ge­nen Jahr dras­tisch gestiegen.

In die­se Lage hin­ein hat Deutsch­land nun mit Abschie­bun­gen begon­nen. Dabei wird geflis­sent­lich igno­riert, dass auch ein UNHCR-Bericht – im Auf­trag des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums – fest­stellt, »ganz Afgha­ni­stan« sei »von einem inner­staat­li­chen bewaff­ne­ten Kon­flikt erfasst« und zum Schluss kommt, »auf­grund der sich stän­dig ändern­den Sicher­heits­la­ge« sei eine Dif­fe­ren­zie­rung in »unsi­che­re« und »siche­re« Gebie­te gar nicht möglich.

Abschie­ben will die Bun­des­re­gie­rung trotz­dem wei­ter­hin und ver­tei­digt sich damit, dass das Bedro­hungs­po­ten­zi­al für Abge­scho­be­ne im Ein­zel­fall geprüft wür­de. Eine absur­de Aus­sa­ge ange­sichts der Tat­sa­che, dass im Dezem­ber 2016 zum Bei­spiel ein Ange­hö­ri­ger der beson­de­rem Druck aus­ge­setz­ten hin­du­is­ti­schen Min­der­heit abge­scho­ben wur­de, eben­so wie eini­ge schwer trau­ma­ti­sier­te Per­so­nen und auch Ange­hö­ri­ge der Sicher­heits­kräf­te, die von den Tali­ban erklär­ter­ma­ßen als Geg­ner betrach­tet wer­den. Und kei­nes­wegs han­delt es sich bei den Abge­scho­be­nen, wie oft behaup­tet wird, pau­schal um »Straf­tä­ter und Gefährder«.

Alles Straftäter? Mitnichten!

Die deut­li­che Mehr­heit der Men­schen, die in den ers­ten bei­den Abschie­be­flie­gern saßen, hat sich in Deutsch­land rein gar nichts zu Schul­den kom­men las­sen, die meis­ten waren bereits Jah­re in Deutsch­land, eini­ge von ihnen hat­ten Arbeit oder waren auf dem Weg in eine Aus­bil­dung, man­che kämpf­ten mit (vor allem psy­chisch beding­ten) medi­zi­ni­schen Problemen.

Frag­lich ist auch, wer in den Augen des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums als »Straf­tä­ter« ein­ge­stuft wird – so wur­den auch Men­schen abge­scho­ben, die zwar einer Straf­tat beschul­digt, nie aber ver­ur­teilt wur­den, deren Ver­fah­ren bei der Abschie­bung noch in der Schwe­be war oder bereits gegen gerin­ge Auf­la­gen ein­ge­stellt wurde.

Abschieben gegen Rechts?!

11.418

afgha­ni­sche Zivi­lis­ten wur­den 2016 Opfer der Kampfhandlungen

Das Eti­kett »Straf­tä­ter« soll, eben­so wie die Tat­sa­che, dass zunächst nur – vor­geb­lich – allein­ste­hen­de Män­ner abge­scho­ben wer­den, dafür sor­gen, dass in der Öffent­lich­keit Akzep­tanz für die­ses Vor­ge­hen geschaf­fen und die Hemm­schwel­le für Abschie­bun­gen gesenkt wird.

Gleich­zei­tig wird damit dem Druck von Rechts nach­ge­ge­ben und offen­bar ver­sucht, mit »har­tem Durch­grei­fen« Wäh­ler­stim­men von den Rechts­po­pu­lis­ten zurück­zu­ge­win­nen. Die Leid­tra­gen­den der kal­ku­lier­ten Igno­ranz gegen­über den rea­len Zustän­den in Afgha­ni­stan sind die von Abschie­bung Betroffenen.

Dramatische Situation für Rückkehrer

Die Abge­scho­be­nen erhal­ten indes in Afgha­ni­stan kaum Unter­stüt­zung. Wer nicht auf die Hil­fe von Freun­den oder Ver­wand­ten zurück­grei­fen kann, bleibt auf sich allei­ne gestellt – in einem Land, in dem vie­le der Betrof­fe­nen seit etli­chen Jah­ren nicht mehr waren, das über­haupt kei­ne Struk­tu­ren für die hun­dert­tau­sen­den Men­schen auf der Flucht hat und in dem jeder­zeit eine Bom­be hoch­ge­hen kann. Die­se Erfah­rung muss­te einer der Abge­scho­be­nen im Febru­ar 2017 machen: Als er zum ers­ten Mal das Haus ver­ließ, geriet er in einen Tali­ban­an­schlag und erlitt Ver­let­zun­gen im Gesicht.

Abschiebestopp jetzt!

Über 60 Pro­zent der afgha­ni­schen Flücht­lin­ge, über deren Asyl­an­trag inhalt­lich ent­schie­den wird, erhal­ten in Deutsch­land vom BAMF einen Schutz­sta­tus. Das aus­ge­ru­fe­ne Abschie­bungs­pro­gramm spricht die­ser Zahl genau­so Hohn wie den inzwi­schen zahl­rei­chen Medi­en­be­rich­ten und nahe­zu allen Erkennt­nis­sen von Exper­ten über die Situa­ti­on in Afgha­ni­stan. In der afgha­ni­schen Com­mu­ni­ty und bei Flüchtlingsunterstützer*innen regt sich der­weil hef­ti­ger Protest.

Auch in der Poli­tik ist de Mai­ziè­res rück­sichts­lo­ser Plan umstrit­ten. Neben Schles­wig-Hol­stein, das Anfang des Jah­res sogar einen for­mel­len Abschie­be­stopp erlas­sen hat, ver­zich­ten wei­te­re Bun­des­län­der dar­auf, nach Afgha­ni­stan abzu­schie­ben (Stand Feb. 2017).

Gera­de in Zei­ten, in denen zuneh­men­de Men­schen­feind­lich­keit das Kli­ma ver­gif­tet, gilt es, Ver­ant­wor­tung zu zei­gen und die Huma­ni­tät zu ver­tei­di­gen: Die ande­ren Bun­des­län­der soll­ten die­sem Bei­spiel fol­gen und sämt­li­che Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan umge­hend einstellen!

Max Klöck­ner, PRO ASYL

(Die­ser Arti­kel erschien erst­mals im Juni 2017 im »Heft zum Tag des Flücht­lings 2017«)


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