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Die ehemalige Abschiebungshaftanstalt in Eisenhüttenstadt. Foto: Marei Pelzer / PRO ASYL

Jean Richard de la Tour, Generalanwalt am EuGH, ist in seinen Schlussanträgen vom 25.11.2021 zu dem Ergebnis gelangt, dass die Aufhebung des Trennungsgebotes von Abschiebehäftlingen und Strafgefangenen in § 62a des Aufenthaltsgesetzes und deren gemeinsame Unterbringung in einer Haftanstalt gegen Europarecht verstößt.

Der Ein­schät­zung des Gene­ral­an­walts lag fol­gen­der Fall zugrun­de: K., gegen den Abschie­bungs­haft ange­ord­net wor­den war, wand­te sich mit einer Beschwer­de an das Amts­ge­richt Han­no­ver gegen sei­ne meh­re­re Wochen dau­ern­de Unter­brin­gung in der Haft­an­stalt Han­no­ver, Abtei­lung Lan­gen­ha­gen. Hier­bei han­delt es sich um eine eigent­lich für Abschie­be­häft­lin­ge vor­ge­se­he­ne Haft­an­stalt mit drei Gebäu­den, von wel­chen eines im frag­li­chen Zeit­punkt indes­sen mit Straf­ge­fan­ge­nen belegt war. Das Per­so­nal, wel­ches für die Auf­sicht und Betreu­ung der Abzu­schie­ben­den zustän­dig war, war zugleich auch das für die Straf­ge­fan­ge­nen zustän­di­ge Straf­voll­zugs­per­so­nal.  Die Haft in die­ser Haft­ein­rich­tung wur­de nach den Rechts­vor­schrif­ten über die Voll­stre­ckung von Stra­fen vollzogen.

Das Amts­ge­richt Han­no­ver, das über die Beschwer­de Ks zu ent­schei­den hat, hat am 12.12.2020 einen Vor­la­ge­be­schluss erlas­sen, in wel­chem es den EuGH um Klä­rung der Fra­ge bat, ob die  Auf­he­bung des soge­nann­ten Tren­nungs­ge­bo­tes, also die Unter­brin­gung von Straf­ge­fan­ge­nen und Abschie­be­häft­lin­gen in einer Ein­rich­tung, euro­pa­rechts­kon­form sei.  Außer­dem woll­te das Gericht von den Luxem­bur­ger Rich­tern wis­sen,  ob die Haft­an­stalt in Han­no­ver unter den geschil­der­ten Bedin­gun­gen als geeig­net für die Unter­brin­gung von Abschie­be­häft­lin­gen anzu­se­hen sei.

Das Tren­nungs­ge­bot ist in Arti­kel 16 Abs. 1 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie nor­miert und besagt, dass die Inhaf­tie­rung von Abschie­be­häft­lin­gen grund­sätz­lich in spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tun­gen zu erfol­gen hat. Das Tren­nungs­ge­bot und des­sen Ver­let­zung haben in Deutsch­land eine Vor­ge­schich­te, die es zum bes­se­ren Ver­ständ­nis dar­zu­stel­len gilt:

Von der Missachtung des Trennungsgebotes zu dessen Beachtung und zurück

Schon ein­mal muss­te die Bun­des­re­gie­rung durch den EuGH über die Ein­hal­tung des Tren­nungs­ge­bots belehrt wer­den. Mit Urteil vom 17.04.2014 in der Rechts­sa­che »Bero« (C‑473/13) stell­te der EuGH unter Beru­fung auf Art. 16 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie klar, dass Abschie­bungs­haft nicht in einer gewöhn­li­chen Straf­an­stalt, son­dern grund­sätz­lich nur in spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tun­gen voll­zo­gen wer­den darf. Fast die Hälf­te aller Bun­des­län­der hat­te vor die­sem Urteil indes­sen die Abschie­bungs­haft trotz des Tren­nungs­ge­bo­tes im Straf­voll­zug orga­ni­siert. Dies obwohl die Rück­füh­rungs­richt­li­nie bereits bis Ende 2010 in natio­na­les Recht hät­te umge­setzt wer­den müssen.

Nach der »Bero«-Entscheidung wur­de das Tren­nungs­ge­bot zunächst bis zum Jahr 2019 in § 62a des Auf­ent­halts­ge­set­zes (Auf­enthG) umge­setzt. Seit Inkraft­tre­ten des soge­nann­ten Zwei­ten Geset­zes zur bes­se­ren Durch­set­zung der Aus­rei­se­pflicht (auch bekannt unter der Bezeich­nung »Hau-Ab-Gesetz 2«) am 21.08.2019 ist aktu­ell aber das dort vor­ge­schrie­be­ne Tren­nungs­ge­bot von Abschie­bungs­haft und Straf­haft bis zum 1.7.2022 ersatz­los und für alle Abschie­bungs­haft­ge­fan­ge­nen außer Kraft gesetzt. Nach § 62a Abs. 1 Auf­enthG in der jet­zi­gen Fas­sung sind Abschie­bungs­ge­fan­ge­ne nun­mehr ledig­lich »getrennt von Straf­ge­fan­ge­nen unter­zu­brin­gen«. Aus­rei­se­pflich­ti­ge Per­so­nen sol­len also für die Dau­er von drei Jah­ren  wie­der in der glei­chen Haft­ein­rich­tung wie Straf­ge­fan­ge­ne unter­ge­bracht wer­den kön­nen, ledig­lich räum­lich von die­sen getrennt. Selbst die Unter­brin­gung von aus­rei­se­pflich­ti­gen Fami­li­en ein­schließ­lich Kin­dern in Jus­tiz­voll­zugs­an­stal­ten wur­de durch die­se Geset­zes­än­de­rung ermöglicht.

Der Gesetz­ent­wurf begrün­de­te die­se Aus­set­zung des Tren­nungs­ge­bots mit einer angeb­li­chen »Not­la­ge«, bei deren Vor­lie­gen nach Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie das Tren­nungs­ge­bot aus­ge­setzt wer­den kann. Art. 18 Abs. 1 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie regelt, dass ein Mit­glied­staat, wenn eine außer­ge­wöhn­lich gro­ße Zahl von Drittstaatsan­gehörigen, deren Rück­kehr sicher­zu­stel­len ist, zu einer »unvor­hersehbaren Über­las­tung der Kapa­zi­tä­ten der Haft­ein­rich­tun­gen« führt »solan­ge die­se außer­gewöhnliche Situa­ti­on anhält.

Die­se Vor­aus­set­zun­gen sah die gro­ße Koali­ti­on bei Ver­ab­schie­dung des »Hau-Ab-Geset­zes 2« in Deutsch­land als erfüllt an. In der Geset­zes­be­grün­dung ist von einem »Miss­ver­hält­nis von voll­zieh­bar Aus­rei­se­pflich­ti­gen und Abschie­bungs­haft­plät­zen« die Rede. Schon die Gegen­über­stel­lung von voll­zieh­bar Aus­rei­se­pflich­ti­gen zu Abschie­bungs­haft­plät­zen ist dabei irre­füh­rend, da nicht jeder voll­zieh­bar Aus­rei­se­pflich­ti­ge auch in Abschie­bungs­haft genom­men wer­den darf, wie sei­ner­zeit auch schon der Bun­des­rat in sei­ner ableh­nen­den Stel­lung­nah­me zu dem Gesetz­ent­wurf zutref­fend fest­ge­hal­ten hat­te. Denn zur Ver­hän­gung von Abschie­be­haft bedarf es zusätz­li­cher Vor­aus­set­zun­gen wie bei­spiels­wei­se der Flucht­ge­fahr der betref­fen­den Person.

Wenn erst die Aus­wei­tung der Abschie­be­haft­grün­de einen höhe­ren Bedarf oder gar Man­gel an Haft­plät­zen her­bei­führt, so ist die­ser ganz offen­kun­dig nicht »unvor­her­seh­bar«, wie es Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie für eine vor­über­ge­hen­de Auf­he­bung des Tren­nungs­ge­bo­tes verlangt.

Fer­ner hat die Bun­des­re­gie­rung das behaup­te­te Miss­ver­hält­nis nicht mit kon­kre­ten Zah­len belegt. Eine Pro­gno­se dar­über, bei wie vie­len Men­schen die Anwen­dung von Abschie­bungs­haft in Fra­ge kom­men könn­te, fin­det sich nicht. Zugleich kün­dig­te die Gro­ße Koali­ti­on in ihrem Ent­wurf eine Ver­dop­pe­lung der Abschie­be­haft­plät­ze auf 1.000 bis zum Jahr 2022 an, ohne zu bele­gen, wodurch die­se mas­si­ve Erhö­hung not­wen­dig wäre. Die so ledig­lich behaup­te­te Über­las­tung der Kapa­zi­tä­ten der Abschie­be­haft­ein­rich­tun­gen wird in dem Gesetz­ent­wurf aus 2019 als Fol­ge einer ver­meint­lich »unvor­her­seh­ba­ren Aus­nah­me­si­tua­ti­on« (…), »wie sie in den Jah­ren 2015 und fol­gen­de« vor­ge­le­gen habe, bezeich­net. Wei­ter wird in der Geset­zes­be­grün­dung der Ver­such unter­nom­men, die Aus­set­zung des Tren­nungs­ge­bo­tes damit zu recht­fer­ti­gen, dass die Ver­sor­gung der neu­an­ge­kom­me­nen Men­schen Vor­rang vor dem Aus­bau der Haft­ka­pa­zi­tä­ten gehabt habe. So  wur­de  ver­sucht zu  erklä­ren, war­um erst im Jahr 2019 mit dem Bau neu­er Haft­plät­ze begon­nen wur­de, deren Not­wen­dig­keit aber gera­de mit der hohen Zahl der schon in 2015 Ange­kom­me­nen begrün­det wurde.

Dass der Bun­des­ge­setz­ge­ber glaub­te, die  Aus­set­zung des Tren­nungs­ge­bo­tes mit einem Man­gel an Abschieb­haft­plät­zen  begrün­den zu kön­nen, mag auch dar­an lie­gen, dass er mit dem »Hau-Ab-Gesetz 2« zugleich die recht­li­chen Mög­lich­kei­ten, Abschie­bungs­haft anzu­ord­nen, mas­siv aus­ge­wei­tet hat. Dies geschah unter ande­rem durch die Ein­füh­rung neu­er Haft­grün­de wie die »Mit­wir­kungs­haft«, zum ande­ren aber auch durch die Aus­wei­tung des Aus­rei­se­ge­wahr­sams. Hier wird deut­lich, dass die Argu­men­ta­ti­on wenig ein­leuch­tend ist: Wenn erst die Aus­wei­tung der Abschie­be­haft­grün­de einen höhe­ren Bedarf oder gar Man­gel an Haft­plät­zen her­bei­führt, so ist die­ser ganz offen­kun­dig nicht »unvor­her­seh­bar«, wie es Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie für eine vor­über­ge­hen­de Auf­he­bung des Tren­nungs­ge­bo­tes verlangt.

Bei der Behaup­tung einer Not­la­ge an Abschie­bungs­haft­plät­zen fällt ange­sichts des kon­kre­ten Fal­les, über den der EuGH zu ent­schei­den hat, ins Auge, dass hier ein gan­zes Gebäu­de einer als Abschie­bungs­haft­an­stalt kon­zi­pier­ten Ein­rich­tung für Straf­ge­fan­ge­ne genutzt wur­de. Dies wäre bei  Vor­lie­gen einer wirk­li­chen Not­la­ge an Abschie­be­haft­plät­zen undenkbar.

Die Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour

Ob die Aus­set­zung des Tren­nungs­ge­bo­tes mit der genann­ten Geset­zes­be­grün­dung durch Art. 18 Abs. 1 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie gedeckt ist und ob eine Haft­ein­rich­tung wie jene in Han­no­ver unter den geschil­der­ten Bedin­gun­gen als »spe­zi­el­le Haft­ein­rich­tung« im Sin­ne des Arti­kels 16 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie anzu­se­hen ist, müs­sen nun die Rich­ter des EuGH klären.

Mit dem Vor­la­ge­be­schluss hat sich zunächst aber Gene­ral­an­walt Jean Richard de la Tour befasst, des­sen Schluss­an­trä­ge am 25. Novem­ber ver­öf­fent­licht wur­den. Die­se deu­ten dar­auf hin, dass die deut­sche Pra­xis­er­neut gegen das Tren­nungs­ge­bot und damit gegen höher­ran­gi­ges Euro­pa­recht ver­stößt. Zwar sind Schluss­an­trä­ge nur Gut­ach­ten, die dem EuGH zur Ent­schei­dungs­fin­dung die­nen. In den meis­ten Fäl­len folgt der EuGH jedoch den dar­in gemach­ten Vorschlägen.

In sei­nen Schluss­an­trä­gen ist Gene­ral­an­walt de la Tour zu fol­gen­den Ergeb­nis­sen gekommen:

  • Eine natio­na­le Rege­lung, die wie § 62a Abs. 1 Auf­enthG in der aktu­el­len Fas­sung für die Dau­er von drei Jah­ren die Inhaf­tie­rung von Abschie­bungs­häft­lin­gen in Jus­tiz­voll­zugs­an­stal­ten erlaubt, erfüllt nicht die Vor­aus­set­zun­gen für eine „Not­la­ge“ im Sin­ne des Art. 18 der Rückführungsrichtlinie.
  • Der Erlass außer­ge­wöhn­li­cher Maß­nah­men auf der Grund­la­ge von Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie ent­bin­det nicht davon, in jedem Ein­zel­fall zu prü­fen, ob die Umstän­de, die die Aner­ken­nung einer Not­la­ge gerecht­fer­tigt haben, noch vor­lie­gen. Mit ande­ren Wor­ten muss jeder Haft­rich­ter bei jedem Haft­be­schluss, mit dem er befasst wird, das Fort­be­stehen der Not­la­ge prüfen.
  • Die Ein­stu­fung der Abtei­lung Lan­gen­ha­gen der Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt Han­no­ver als »spe­zi­el­le Haft­ein­rich­tung« im Sin­ne des Art. 16 Abs. 1 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie war am Tag der Inhaft­nah­me von K. ins­be­son­de­re auf Grund der Bele­gung eines der dor­ti­gen Gebäu­de mit Straf­ge­fan­ge­nen nicht zutref­fend. Schon die blo­ße Mög­lich­keit der Bele­gung mit Straf­ge­fan­ge­nen reicht aber aus, dass die Ein­rich­tung nicht als »spe­zi­el­le Haft­ein­rich­tung« zu qua­li­fi­zie­ren ist.

Zur Europarechtswidrigkeit der Aussetzung des Trennungsgebots durch § 62a AufenthG

Die in der Geset­zes­be­grün­dung zur Aus­set­zung des Tren­nungs­ge­bo­tes behaup­te­te »Not­la­ge« im Sin­ne des Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie sieht der Gene­ral­an­walt erwar­tungs­ge­mäß nicht als gege­ben an. Zutref­fend weist der Gene­ral­an­walt dar­auf hin, dass eine Not­la­ge eine rasche und unmit­tel­ba­re Ent­schei­dung erfor­dert. Davon kön­ne aber kei­ne Rede sein, da der deut­sche Gesetz­ge­ber erst Mit­te August 2019 mit dem Mit­tel der Aus­set­zung des Tren­nungs­ge­bo­tes auf die hohen Ein­wan­de­rungs­zah­len des Jah­res 2015 reagiert hat. Dabei kön­ne die Lage im Jahr 2015 zwar als »unvor­her­seh­ba­re Aus­nah­me­si­tua­ti­on« ein­ge­stuft wer­den. Mit der sich dar­aus erge­ben­den Fol­ge eines expo­nen­ti­el­len Anstiegs des Drucks auf die spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tun­gen zur Unter­brin­gung von Abschie­be­häft­lin­gen in den Fol­ge­jah­ren sei indes­sen ohne wei­te­res zu rech­nen gewe­sen. Die Belas­tung der Kapa­zi­tät der spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tun­gen erst im Jahr 2019 – also vier Jah­re spä­ter – kön­ne daher nicht als »unvor­her­seh­bar« ein­ge­stuft werden.

Außer­dem kri­ti­siert der Gene­ral­an­walt, dass Deutsch­land das Tren­nungs­ge­bots nicht nur für einen kur­zen Zeit­raum aus­ge­setzt hat, son­dern von vorn­her­ein für drei Jah­re und damit bis zu dem Zeit­punkt, für wel­chen der deut­sche Gesetz­ge­ber den voll­stän­di­gen Abschluss von Pro­jek­ten zur Errich­tung wei­te­rer Haft­ein­rich­tun­gen pro­gnos­ti­ziert hat. Der Gesetz­ge­ber hat also kei­nen Prüf­me­cha­nis­mus zur Kon­trol­le instal­liert, ob denn der behaup­te­te Not­stand nicht schon zu einem frü­he­ren Zeit­punkt beho­ben ist. Dies las­se sich nicht mit dem Erfor­der­nis einer regel­mä­ßi­gen Bewer­tung der Situa­ti­on, die sich aus Art. 18 Abs. 1 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie ergibt, in Ein­klang bringen.

Die euro­pa­recht­li­chen Rege­lun­gen zur Auf­nah­me Schutz­su­chen­der sowie jene zur Inhaft­nah­me von abzu­schie­ben­den Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen stün­den gleich­ran­gig neben­ein­an­der und die Wah­rung der Grund­rech­te der Ers­te­ren dür­fe nicht zum Nach­teil der Rech­te der Letz­te­ren führen.

Der deut­sche Gesetz­ge­ber habe bei Aus­set­zung des Tren­nungs­ge­bo­tes fer­ner nicht das Ver­hält­nis zwi­schen der Zahl der Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen, gegen die eine Haft­ent­schei­dung ergan­gen ist, und den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Haft­plät­zen kon­kret benannt. Statt­des­sen wur­de in der Geset­zes­be­grün­dung – eben­so wie in der Mit­tei­lung an die Kom­mis­si­on – nur das Ver­hält­nis der Plät­ze in den spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tun­gen und der hohen Zahl der aus­rei­se­pflich­ti­gen Per­so­nen hin­ge­wie­sen. Die­ser Kri­tik ist zuzu­stim­men. Wie oben aus­ge­führt, ist die Gegen­über­stel­lung von voll­zieh­bar Aus­rei­se­pflich­ti­gen zu Abschie­bungs­haft­plät­zen nicht ziel­füh­rend, da nicht jeder voll­zieh­bar Aus­rei­se­pflich­ti­ge auch tat­säch­lich in Abschie­bungs­haft genom­men wer­den darf.

Der Gene­ral­an­walt lässt auch die wei­te­re Argu­men­ta­ti­on in der Geset­zes­be­grün­dung nicht gel­ten, wonach die Ver­sor­gung der zahl­rei­chen in 2015 ange­kom­me­nen Schutz­su­chen­den Vor­rang vor dem Aus­bau der spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tun­gen gehabt habe. Denn die euro­pa­recht­li­chen Rege­lun­gen zur Auf­nah­me Schutz­su­chen­der sowie jene zur Inhaft­nah­me von abzu­schie­ben­den Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen stün­den gleich­ran­gig neben­ein­an­der und die Wah­rung der Grund­rech­te der Ers­te­ren dür­fe nicht zum Nach­teil der Rech­te der Letz­te­ren führen.

62a Abs. 1 Auf­enthG in der aktu­el­len Fas­sung ist dem­zu­fol­ge nach Ansicht des Gene­ral­an­walts de la Tour europarechtswidrig.

Zur Pflicht der Prüfung des Vorliegens einer Notlage im Sinne des Art. 18 der Rückführungsrichtlinie durch Haftrichter*innen

Der Gene­ral­an­walt bejaht des Wei­te­ren die Fra­ge des Amts­ge­richts Han­no­ver danach, ob ein Gericht, das über die Inhaft­nah­me ent­schei­det, in jedem Ein­zel­fall das Vor­lie­gen der Vor­aus­set­zun­gen zur Aus­set­zung des Tren­nungs­ge­bo­tes nach Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie – ins­be­son­de­re das Vor­lie­gen einer »außer­ge­wöhn­li­chen Situa­ti­on« – prü­fen muss, wenn der natio­na­le Gesetz­ge­ber unter Beru­fung hier­auf von der Pflicht zur Ein­hal­tung des Tren­nungs­ge­bo­tes in Art. 16 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie abge­wi­chen ist.

Es sei zwar in ers­ter Linie Sache des Mit­glied­staa­tes, das Vor­lie­gen der Vor­aus­set­zun­gen des Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie fest­zu­stel­len und gege­be­nen­falls des­halb außer­ge­wöhn­li­che Maß­nah­men im Sin­ne die­ser Vor­schrift zu erlas­sen. Das Vor­lie­gen einer »Not­la­ge« im Sin­ne des Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie und die damit ein­her­ge­hen­de Gefahr einer Über­las­tung der Haft­ka­pa­zi­tä­ten stell­ten aber zugleich objek­ti­ve Kri­te­ri­en dar, die die für die Inhaft­nah­me zustän­di­ge Jus­tiz­be­hör­de bei der Ent­schei­dung über die Inhaft­nah­me berück­sich­ti­gen müs­se. Denn aus der Rück­füh­rungs­richt­li­nie und der dies­be­züg­li­chen Recht­spre­chung des EuGH erge­be sich, »dass Ent­schei­dun­gen über die Inhaft­nah­me auf Grund­la­ge des Ein­zel­falls und anhand ande­rer objek­ti­ver Kri­te­ri­en als dem des blo­ßen ille­ga­len Auf­ent­halts getrof­fen wer­den« müss­ten. Es müs­se stets auch im kon­kre­ten Ein­zel­fall »unter Berück­sich­ti­gung der beson­de­ren Bedürf­nis­se des betref­fen­den Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen« geprüft wer­den, ob es eine Alter­na­ti­ve zur Inhaft­nah­me gibt und wenn nicht, ob die Unter­brin­gung in einer spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tung oder im Über­las­tungs­fall in einer gewöhn­li­chen Haft­an­stalt erfol­gen kön­ne. Eine der­ar­ti­ge Über­prü­fung sei auch des­halb ange­zeigt, da Art. 16 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie unmit­tel­ba­re Wir­kung hat und somit – ohne dass es einer Kon­kre­ti­sie­rung durch natio­na­les Rechts bedürf­te – Betrof­fe­nen ein Recht ver­leiht, auf das sie sich beru­fen können.

Im Ergeb­nis ist also jede*r Haftrichter*in bei jedem ein­zel­nen Haft­an­trag gehal­ten, das Vor­lie­gen einer Not­la­ge im Sin­ne des Art. 18 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie zu über­prü­fen. Er oder sie darf sich nicht auf die dies­be­züg­li­che Ein­schät­zung des Gesetz­ge­bers verlassen.

Zur Abgrenzung einer »speziellen« von einer »gewöhnlichen« Hafteinrichtung im Sinne des Art. 16 der Rückführungsrichtlinie

Schließ­lich beant­wor­tet der Gene­ral­an­walt die Fra­ge danach, ob die in Rede ste­hen­de Abtei­lung Lan­gen­ha­gen der Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt Han­no­ver unter den geschil­der­ten Umstän­den als eine »spe­zi­el­le« Haft­ein­rich­tung im Sin­ne des Art. 16 Abs. 1 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie anzu­se­hen ist, mit »nein«.

Dies des­halb, da dort auch Straf­ge­fan­ge­ne unter­ge­bracht wer­den kön­nen und kon­kret auch unter­ge­bracht waren, wei­ter das Per­so­nal, wel­ches für die Betreu­ung und Beauf­sich­ti­gung der abzu­schie­ben­den Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen ist, zugleich auch das für die Straf­ge­fan­ge­nen zustän­di­ge Straf­voll­zugs­per­so­nal ist, und schließ­lich weil die Haft in die­ser Haft­ein­rich­tung nach den Rechts­vor­schrif­ten über die Voll­stre­ckung von Stra­fen voll­zo­gen wird, die stren­ger sind, als die für spe­zi­el­le Haft­ein­rich­tun­gen für Abschie­be­haft erforderlich.

Auch dem ist unbe­dingt zuzu­stim­men. Das Wesen der Abschie­be­haft unter­schei­det sich klar von einer Straf­maß­nah­me und ist von deren Voll­stre­ckung insti­tu­tio­nell, räum­lich, bau­lich und orga­ni­sa­to­risch klar zu tren­nen. Die Inhaf­tie­rung dient hier ein­zig und allein dem Zweck der Auf­ent­halts­be­en­di­gung aus­rei­se­pflich­ti­ger Per­so­nen – und nicht deren Bestra­fung. Abschie­bungs­häft­lin­ge sind kei­ne Straf­tä­ter und dür­fen nicht wie sol­che behan­delt wer­den. Wer­den aber Abschie­bungs­ge­fan­ge­ne mit ver­ur­teil­ten Straf­tä­tern oder Unter­su­chungs­ge­fan­ge­nen zusam­men unter­ge­bracht, sind die Rah­men­be­din­gun­gen des Voll­zugs regel­mä­ßig um ein Viel­fa­ches stren­ger, als sie es in einer spe­zia­li­sier­ten Abschie­bungs­ein­rich­tung sind, in wel­chen die Betrof­fe­nen nur sol­chen Ein­schrän­kun­gen ihrer Rech­te und Frei­hei­ten unter­wor­fen wer­den, die für die Siche­rung der Abschie­bung auch uner­läss­lich sind. Zudem erle­ben Betrof­fe­ne die tat­säch­li­che Nähe zu Straf­tä­tern im täg­li­chen Umgang als erheb­li­che Ver­tie­fung des ohne­hin gege­be­nen Gefühls von Stig­ma­ti­sie­rung und Kriminalisierung.

Wenn der EuGH den Schluss­an­trä­gen des Gene­ral­an­walts folgt, darf § 62a Auf­enthG nicht mehr ange­wandt wer­den. Denn das Tren­nungs­ge­bot des Art. 16 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie gilt unmit­tel­bar – auch dann, wenn natio­na­les Recht hier­von abweicht.

Das Minis­ter­ko­mi­tee des Euro­pa­ra­tes hat vor die­sem Hin­ter­grund in sei­nen »20 Gui­de­lines on Forced Return« bereits im Jah­re 2005 emp­foh­len, Abschie­bungs­ge­fan­ge­ne von den zusätz­li­chen schäd­li­chen Ein­flüs­sen einer gemein­sa­men Inhaf­tie­rung mit Straf­ge­fan­ge­nen und/oder Unter­su­chungs­ge­fan­ge­nen in einer Anstalt zu schüt­zen und sie in einer eige­nen Ein­rich­tung unter­zu­brin­gen. Auch die Par­la­men­ta­ri­sche Ver­samm­lung des Euro­pa­ra­tes hat dies bereits im Jahr 2010 gefordert.

Wenn der EuGH den Schluss­an­trä­gen des Gene­ral­an­walts folgt, darf § 62a Auf­enthG nicht mehr ange­wandt wer­den. Denn das Tren­nungs­ge­bot des Art. 16 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie gilt unmit­tel­bar – auch dann, wenn natio­na­les Recht hier­von abweicht. Abschie­be­häft­lin­ge müss­ten dann wie­der in spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tun­gen unter­ge­bracht wer­den, die bau­lich und orga­ni­sa­to­risch klar von gewöhn­li­chen Haft­ein­rich­tun­gen für Straf­ge­fan­ge­ne getrennt sein müssen.

Fer­ner darf der Gesetz­ge­ber gege­be­nen­falls § 62a Auf­enthG nicht wie beab­sich­tigt für den Zeit­raum von ins­ge­samt drei Jah­ren in sei­nem jet­zi­gen Zustand belas­sen, son­dern ist gehal­ten, die Norm unver­züg­lich zu wie­der in den Zustand zu füh­ren, den sie vor dem 21.08.2019 hatte.

(Peter von Auer)


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