Hintergrund
Bundesverfassungsgerichtsurteil: »Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 18. Juli 2012 ein fast 20 Jahre währendes Unrecht beendet. Die gekürzten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erklärte das höchste deutsche Gericht für verfassungswidrig.
Dass man mit nur 60 Prozent der Hartz-IV-Sätze nicht leben kann, das war für die Karlsruher Richter ganz offenkundig: Die gewährten Minderleistungen seien „evident unzureichend, um das menschenwürdige Existenzminimum zu gewährleisten“. Seit Einführung des Gesetzes im Jahr 1993 wurden die Sätze für Flüchtlinge kein einziges Mal angepasst. Durch die Preissteigerung von inzwischen über 30 Prozent hat sich die Situation sogar immer weiter verschlechtert. Der unter das AsylbLG fallenden Personenkreises wurde ausgeweitet und die Dauer der Leistungskürzung auf mittlerweile 48 Monate verlängert.
Zusammen mit den Flüchtlingsräten, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden hat sich PRO ASYL seit langem gegen diese diskriminierenden Sonderregelungen eingesetzt, die ein menschenwürdiges Leben verhindern. Schließlich ist es gelungen, zwei Verfahren bis zum BVerfG zu bringen. Geklagt hatten der 35- jährige irakische Flüchtling und das 12-jährige in Deutschland geborene Mädchen, deren Mutter aus Liberia geflohen war. Die Klagen wurden aus Mitteln des PRO ASYL-Rechtshilfefonds unterstützt.
Mit dem Urteil gibt es endlich ein Aufatmen für die Betroffenen. Sie erhalten ab sofort höhere Leistungen. Alleinstehende bekommen zusätzlich zu den Kosten für die Unterkunft ca. 346 (statt bisher 224) Euro und Jugendliche ab 14 Jahre 268 (statt 200) Euro, Kinder zwischen 6 und 13 Jahre 237 Euro sowie Kinder von 0 bis fünf Jahre 205 Euro monatlich.
Rückwirkende Leistungen ab 1.1.2011
Dass BVerfG machte deutlich, dass der Gesetzgeber schon längst hätte handeln müssen. Spätestens seit dem sog. Hartz-IV.-Urteil vom 9. Februar 2010 hätte dem Gesetzgeber bewusst sein müssen, dass auch die Sätze nach dem AsylbLG verfassungswidrig sind. Eine Neuregelung hätte also schon längst erarbeitet und spätestens Ende 2010 beschlossen werden können.
Deswegen hat das BVerfG entschieden, dass Leistungen rückwirkend ab dem 1. Januar 2011, für die Fälle geltend gemacht werden können, die noch nicht bestandskräftig abgeschlossen sind. Nicht bestandskräftig ist ein Bescheid dann, wenn dagegen ein Widerspruch eingelegt wurde oder aber noch eine Klage anhängig ist. Man kann nicht nachträglich noch gegen alle Bescheide seit dem 1. Januar 2011 Widerspruch einlegen. Denn gegen einen Bescheid muss man normalerweise innerhalb von einem Monat vorgehen.
Doch ausnahmsweise verlängert sich diese Frist: Wenn keine oder keine schriftliche Rechtsmittelbelehrung erging, verlängert sich die Frist auf ein ganzes Jahr. Je nachdem, ob und wann die Betroffenen Rechtsmittel eingelegt haben, können rückwirkende Zahlungen also für unterschiedliche Zeiträume erwirkt werden: rückwirkend seit dem 1. Januar 2011 (wenn schon damals gegen die Bescheide Widerspruch eingelegt wurde bzw. Klage erhoben wurde), rückwirkend für das zurückliegende Jahr (wenn die 12-Monatsfrist gilt) oder rückwirkend für den zurückliegenden Monat (wenn erst dem aktuellen Bescheid widersprochen wurde).
»Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.«
Automatisch müssen jedoch die Behörden – also von Amts wegen – das Urteil des BVerfG ab Urteilsverkündung für neue Bescheide (spätestens mit Wirkung ab dem 1. August 2012) beachten und die neuen Beträge zahlen.
Inhaltliche Vorgaben für eine künftige Neuregelung
Für die Zukunft hat das BVerfG dem Gesetzgeber aufgetragen, unverzüglich eine Neuregelung zu treffen. Es hat dabei wichtige Feststellungen im Urteil getroffen, die bei einem neuen Gesetz zu beachten sind. Die Leistungshöhe muss nachvollziehbar, realitätsgerecht, auf Bedarfe orientiert und insofern aktuell existenzsichernd berechnet werden. Für minderjährige Flüchtlinge müssen die besonderen kinder- und altersspezifischen Bedarfe ermittelt werden.
Ob bei einer Neuregelung ein Abweichen von Hartz IV überhaupt noch zu rechtfertigen wäre, ist zweifelhaft. Jedenfalls darf laut BVerfG eine Differenzierung nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus erfolgen. Das BVerfG macht deutlich, dass auch der angeblich nur vorübergehende Aufenthalt oder Abschreckungszwecke die Minderleistungen nicht ohne weiteres rechtfertigen können.
Vorübergehender Aufenthalt rechtfertigt nicht Minderleistung
Bisher wurde die Minderleistung mit dem unterstellten nur „vorübergehenden Aufenthalt“ der Leistungsempfänger begründet. Hiergegen formuliert das BVerfG gleich mehrere Einwände. Die dem Gesetz zugrunde liegende Annahme, dass eine kurze Aufenthaltsdauer die begrenzte Leistungshöhe rechtfertigt, kann das BVerfG nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht nachvollziehen. Es ließen sich keine Anhaltspunkte dafür finden, dass sich die Aufenthaltsdauer konkret auf existenzsichernde Bedarfe auswirke. Übersetzt heißt dies: Nur weil ein Mensch nur kurz in Deutschland lebt, hat er nicht zwingend einen geringeren Bedarf an existenzsichernden Leistungen.
Dies ist plausibel, wenn man die Zusammensetzung der Hartz-IV-Sätze genauer betrachtet. Erstens wird die physische Existenz abgesichert – hier sind von vornherein keine Unterschiede zulässig. Zweitens wird das sozio-kulturelle Existenzminimum garantiert.
Aber auch bei diesem Posten deckt Hartz IV lediglich nur unverzichtbare soziale Aktivitäten ab: Kommunikation per Telefon etc. mit anderen Menschen, das Nutzen von Verkehrsmitteln und in sehr geringem Maße Freizeitaktivitäten wie Sport. Dieser Mindestbedarf an sozialer Teilhabe besteht auch dann, wenn eine Person nur kurzfristig in Deutschland lebt.
Anzuführen ist zudem, dass die Betroffenen faktisch gar nicht nur kurzfristig in Deutschland sich aufhalten, sondern längerfristig bleiben. Die meisten Menschen, die aktuell mit AsylbLGLeistungen auskommen müssen, leben länger als sechs Jahre in Deutschland. Das Gericht macht dementsprechend klar: „Es liegt auch kein plausibler Beleg dafür vor, dass die vom AsylbLG erfassten Leistungsberechtigten sich typischerweise nur für kurze Zeit in Deutschland aufhalten.“ Die Vermutung sei erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Die Schlussfolgerung aus diesem Satz ist, dass sich dann eine Minderleistung mit dieser Annahme auch nicht rechtfertigen lässt.
Ein anderer Einwand bezieht sich auf die Bezugsdauer von 48 Monaten, mit denen die Zeitspanne eines „Kurzaufenthalts“ deutlich überschritten werde. Zu der Frage, ob sich aufgrund eines bloßen Kurzaufenthalts Minderbedarfe begründen lassen, stellt das BVerfG fest: „Hierbei ist auch zu berücksichtigen, ob durch die Kürze des Aufenthalts Minderbedarfe durch Mehrbedarfe kompensiert werden, die typischerweise gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfallen“.
Damit greift das Gericht eine Überlegung auf, die PRO ASYL und andere in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hatten. Flüchtlinge haben unter Umständen sogar in bestimmten Bereichen höhere Bedarfe als andere Gruppen. Z.B. sind die Kommunikationskosten höher, wenn sie zu ihren Familien in den Herkunftsländern Kontakt halten und dabei die höheren Auslandstarife beim Telefonieren zahlen müssen.
Bei der Einschätzung dieser Fragen habe der Gesetzgeber einen „Gestaltungsspielraum“, der ihn aber nicht davon entbinde, das Existenzminimum hinsichtlich der konkreten Bedarfe zeit- und realitätsgerecht zu bestimmen, führt das BVerfG aus.
Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren
Bei einer Neuregelung ist zu beachten, dass migrationspolitische Erwägungen eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen können. Ausdrücklich stellt das BVerfG fest: „Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.“ Und weiter: „ Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“
Für eine Neuregelung heißt dies, dass sich eine Schlechterstellung von Flüchtlingen nicht mehr mit den bisherigen Ansätzen rechtfertigen ließe. Zwar hat das BVerfG nicht ausdrücklich auf Art. 3 GG – dem Gleichheitssatz – Bezug genommen, aber inhaltlich Vorgaben gemacht, wie sich eine Ungleichbehandlung jedenfalls nicht legitimieren ließe. Dies ist wichtig für künftige Versuche, Flüchtlinge aus dem Recht auf eine menschenwürdige Existenzsicherung heraus definieren zu wollen.
Sachleistungen müssen tatsächlich menschenwürdig sein
Das BVerfG hat im Wesentlichen nur über die Fragen entschieden, die das Landessozialgericht NRW in seinen Vorlagen formuliert hatte. Diese betrafen insbesondere die Höhe der Grundleistungen und die der Barbeträge. Auf andere Regelungen des AsylbLG geht das Urteil gar nicht, auf die Frage der Sachleistungen nur am Rande ein.
Zu den Sachleistungen sagt das BVerfG: „Unter der Voraussetzung und in der Annahme, dass Sachleistungen aktuell das menschenwürdige Existenzminimum tatsächliche decken, greift die Übergangsregelung nicht in die Regelungssystematik des Asylbewerberleistungsgesetzes hinsichtlich der Art der Leistungen ein.“ Es verlangt damit, dass die Sachleistungen im Sinne der zuvor aufgestellten Anforderungen an die Geldleistungen existenzsichernd sein müssen. Es kann also nicht sein, dass die Sachleistungen einen geringeren Gegenwert haben als die Geldleistungen. Dies gilt auch für Gutscheine. Werden diese ausgegeben, so muss mit diesen dieselbe Kaufkraft realisierbar sein wie dies mit Barmitteln der Fall wäre.
Das heißt also: Bei Sachleistungen dürfen nicht die Kosten für Dienstleister etc. mit einberechnet werden, sondern allein der Gegenwert der Waren ist zugrunde zu legen. Bei Gutscheinen muss ggf. ein höherer Wert angesetzt werden, wenn die Gutscheine nur bei Anbietern eingelöst werden können, die vergleichsweise überteuerte Waren anbieten.
Leistungseinschränkungen gem. § 1a AsylbLG
Keine Äußerungen finden sich zu dem Leistungseinschränkungen nach § 1a AsylbLG. Hiernach können die Leistungen nochmals gekürzt werden, wenn unterstellt wird, der Betreffende sei nach Deutschland eingereist, um Leistungen zu beziehen, oder habe sich seiner Abschiebung in den Weg gestellt.
Diese Sanktionierung wurde konkret vom BVerfG nicht kommentiert, geschweige denn als verfassungswidrig verworfen, da es hierzu nicht angerufen worden war. Allerdings lässt der migrationspolitische Sanktionscharakter Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit auch dieser Norm aufkommen.
Schlussfolgerung: Abschreckungsinstrumente abschaffen!
Für PRO ASYL ist dies ein Meilenstein im Einsatz gegen die Ausgrenzung von Flüchtlingen. Karlsruhe hat klargemacht, dass die Menschenwürde auch für Flüchtlinge gilt. „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“, betonten die Richter bei der Urteilsverkündung. Diese Leitentscheidung muss zu einem Umdenken in der Flüchtlingspolitik insgesamt führen. PRO ASYL fordert, dass alle „Abschreckungsinstrumente“ gegen Flüchtlinge auf den Prüfstand gestellt werden.
Das diskriminierende AsylbLG enthält viele weitere Schikanen, z.B. das Sachleistungsprinzip: Dies wird in manchen Bundesländern wie z.B. Bayern und BadenWürttemberg so angewandt, dass Flüchtlinge kein Geld, sondern nur als Sachleistungen (Lebensmittel‑, Kleidungs- und Hygienepakete) erhalten. In anderen Ländern wie z.B. in Niedersachsen werden Gutscheine ausgegeben. In der Praxis sind Sachleistungen nicht bedarfsdeckend, entmündigend und von katastrophaler Qualität.
Das AsylbLG legt zudem eine Ausgrenzung von einer regulären Gesundheitsversorgung fest und beschränkt Flüchtlinge auf eine medizinische Notversorgung. Zu dem System der Ausgrenzung gehört auch die Pflicht in Sammellagern zu leben und die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf den Landkreis (Residenzpflicht).
Entmündigend wirken die bestehenden Arbeitsverbote. Im ersten Jahr dürfen Flüchtlinge gar nicht arbeiten, danach müssen sie ein bürokratisches Antragsverfahren durchlaufen, bei dem geprüft wird, ob nicht ein anderer Arbeitssuchender vorrangig zu berücksichtigen ist. Die auf EU-Ebene zur Verabschiedung anstehende veränderte Aufnahmerichtlinie sieht zwar eine Liberalisierung beim Arbeitsmarktzugang vor, allerdings soll das absolute Arbeitsverbot nur auf neun Monate reduziert werden, während die Vorrangregelung erhalten bleibt. Diese Reform wird also nur wenig Verbesserung bringen.
PRO ASYL setzt sich dafür ein, dass die schikanöse Ausgrenzung von Flüchtlingen endlich aufhört und allen hier lebenden Menschen eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird.
Marei Pelzer