Hintergrund
Asyl in Zahlen 2022
Im vergangenen Jahr durchbrach die Zahl der Flüchtlinge weltweit erstmals die 100 Millionen-Marke und stieg auf den traurigen Rekordwert von 103 Millionen. Seit 2013 – also binnen weniger als zehn Jahren – hat sich die Zahl der gewaltsam Vertriebenen damit verdoppelt, allein im vergangenen Jahr ist sie um fast 14 Millionen gestiegen. Hauptgrund für den rasanten Anstieg im letzten Jahr war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Steigende Flüchtlingszahlen in Deutschland: Über 1 Mio Flüchtlinge aus der Ukraine
Auch in Deutschland sind diese Entwicklungen zu spüren und es gibt mancherorts Probleme mit der Unterbringung von Flüchtlingen, die zu Debatten über Grenzsicherung, weitere Abschottung und Limitierung des Zugangs von Flüchtlingen sowie über vermeintlich zu wenige Abschiebungen führten.
In seiner offiziellen Asylstatistik weist das BAMF 244.000 Asylanträge aus, was 28 % mehr als 2021 sind, gegenüber 2020 sogar eine Verdopplung bedeutet. Nach Jahren sinkender Zugangszahlen bis zum pandemiebedingten Tiefstand 2020 ist eine solche Entwicklung angesichts der globalen Krisen jedoch wenig überraschend.
Die Zahl der tatsächlich neu eingereisten Asylsuchenden liegt dennoch deutlich unter dieser Zahl, die zum einen mehr als 26.000 Folgeasylanträge beinhaltet – u.a. haben viele ehemals abgelehnte und in Deutschland teils seit Jahren geduldete Asylsuchende aus Afghanistan erneut Asyl beantragt – und zum anderen rund 25.000 hier geborene Kinder von oft bereits seit vielen Jahren anerkannten Flüchtlingen. Somit liegt die Zahl der neu nach Deutschland eingereisten Asylsuchenden bei rund 193.000, also noch unter der seitens der Union immer wieder geforderten Begrenzung auf 200.000. Für 2023 ist allerdings eine deutlich höhere Zahl zu erwarten.
Nach Jahren sinkender Zugangszahlen bis zum pandemiebedingten Tiefstand 2020, sind steigende Flüchtlingszahlen, angesichts der globalen Krisen jedoch wenig überraschend.
Nur 16 % der 2022 nach Deutschland Geflüchteten waren Asylbewerber
Vor dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine sind im letzten Jahr 1.045.000 Menschen nach Deutschland geflüchtet. Diese Menschen müssen kein Asylverfahren durchlaufen, sondern erhalten vorübergehenden Schutz und eine zunächst auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis und werden daher nicht in der Asylstatistik ausgewiesen. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine machen demnach 84 % aller neu eingereisten Schutzsuchenden in Deutschland aus, d.h. nur 16 % sind Asylsuchende.
Obwohl Menschen aus der Ukraine angesichts der großen Solidarität in Deutschland zu Tausenden privat untergebracht werden konnten, was Asylsuchenden i.d.R. verwehrt ist, mussten die Länder und Kommunen im letzten Jahr also weit überwiegend Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine unterbringen, über deren Schutzbedürftigkeit und die Notwendigkeit ihrer Aufnahme weder die Union, noch sonst eine der demokratischen Parteien diskutieren dürfte.
Mehr als die Hälfte aller Asylsuchenden kommt aus Syrien und Afghanistan
Obwohl Asylsuchende im vergangenen Jahr also nur einen kleinen Teil der Aufgenommenen ausmachten, stehen sie im Mittelpunkt der Debatten. Dass diese Debatten um mehr Abschottung und mehr Abschiebungen die Realität verkennen und sich genauso verbieten wie bei ukrainischen Kriegsflüchtlingen, zeigt der Blick auf die Hauptherkunftsländer und die Schutzquoten der Asylsuchenden: Mit 55 % kam über die Hälfte aller Asylsuchenden aus Syrien (71.000) und Afghanistan (36.000). Weitere Hauptherkunftsländer waren die Türkei (24.000), der Irak (15.000), Georgien (8.000) und der Iran (6.300). Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit (4.700) – die meisten vermutlich Palästinenser aus Syrien – sowie Somalia (3.900), Eritrea (3.900) und die Russische Föderation (2.900) vervollständigen die Liste der Top 10 der Hauptherkunftsländer.
Knapp drei Viertel aller Asylsuchenden erhält Schutz
Die Hauptherkunftsländer, fast ausnahmslos Kriegs- und Krisengebiete, lassen schon erahnen, was die Anerkennungsquote dann auch aussagt: Die Menschen, die nach Deutschland kommen und Schutz suchen, benötigen mehrheitlich Schutz. Mit über 72 % lag die Schutzquote im vergangenen Jahr so hoch wie noch nie, d.h. fast drei Viertel aller Asylsuchenden, deren Asylantrag in Deutschland geprüft wird, erhält die Flüchtlingsanerkennung (23 %), den subsidiären Schutz (32 %) oder ein nationales Abschiebungsverbot (17 %). Aus inhaltlichen Gründen abgelehnt wurden demnach 28 % aller Asylanträge. Im Vergleich zum Vorjahr, als rund 63 % Schutz erhielten, ist die Quote also deutlich gestiegen.
Knapp 51.000 Fälle hat das BAMF formell erledigt, d.h. die Asylgründe dieser Menschen wurden nicht geprüft – immerhin 22 % aller Entscheidungen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, der Hauptgrund ist die Dublin-Verordnung, die die Zuständigkeit für Asylanträge in Europa regelt, mit über 22.000 formellen Entscheidungen. Diese nicht-inhaltlichen Erledigungen sind bei den Schutzquoten nicht mit eingerechnet, weshalb diese von den offiziellen BAMF-Statistiken abweichen. Allerdings verzerren diese offiziellen Zahlen das tatsächliche Bild, da sie nichts über die Asylgründe der Menschen aus den einzelnen Herkunftsländern aussagen.
In fast 100 % Schutz für Menschen aus Syrien und Afghanistan
Menschen aus Syrien und Afghanistan haben mit fast 100 % Schutzquote die höchste Erfolgsaussicht im Asylverfahren. Rund 23 % der Schutzsuchenden aus Syrien erhielt die Flüchtlingsanerkennung, die allermeisten mit 77 % den subsidiären Schutz, weniger als 0,5 % ein Abschiebungsverbot. Beim Herkunftsland Afghanistan erhielten ebenfalls 23 % den Flüchtlingsschutz, 5 % den subsidiären Schutz und 71 % ein Abschiebungsverbot. Die Ablehnungsquote lag unter 1 %, aktuelle Zahlen und Bescheide aus den ersten Monaten 2023 deuten allerdings auf eine wieder leicht steigende Ablehnungspraxis des BAMF.
Wo Flüchtlingsanerkennung draufsteht, ist nicht immer Flüchtlingsanerkennung drin
Allerdings sind die Zahlen zu den einzelnen Schutzstatus im Hinblick auf die einzelnen Herkunftsländer nicht immer aussagekräftig, wie insbesondere das Beispiel Syrien verdeutlicht: Von den über 15.000 Flüchtlingsanerkennungen basieren 14.000 auf Familienschutz, d.h. das sind keine eigenständigen Asylentscheidungen, sondern von einem Mitglied der Kernfamilie abgeleitet. In den allermeisten Fällen handelt es sich um in Deutschland geborene Kinder von zum Teil bereits seit Jahren Anerkannten, in anderen Fällen um per Familiennachzug neu eingereiste Angehörige, die trotz Aufenthaltstitel trotzdem noch Asyl beantragen.
Diese Menschen würden in einem eigenen Asylverfahren i.d.R. keinen Flüchtlingsschutz erhalten, d.h. neu einreisende Asylsuchende aus Syrien haben nur in wenigen Fällen Aussicht auf eine Anerkennung als Flüchtling und den blauen Flüchtlingspass, sondern erhalten in aller Regel den subsidiären Schutz.
Sinkende Quoten bei der Türkei und dem Irak
Deutlich gesunken sind die Anerkennungschancen hingegen für Menschen aus den weiteren Hauptherkunftsländern Türkei und Irak. Mit 35 % erhält nur noch knapp mehr als ein Drittel der Asylsuchenden aus der Türkei Schutz in Deutschland – in aller Regel die volle Flüchtlingsanerkennung. Im Jahr 2020 erhielt noch fast die Hälfte Schutz (48 %), 2021 immerhin noch 43 %. Aus dem Irak erhielten nur noch 29 % Schutz, die Quote sank im Vergleich zu 2020 (49 %) und 2021 (44 %) noch deutlicher.
Trotz Revolution: Hohe Iran-Ablehnungsquoten
Asylsuchende aus Georgien, auf Platz fünf der Hauptherkunftsländer, haben im Asylverfahren kaum eine Chance und erhielten nur zu 0,5 % Schutz. Aber auch Schutzsuchende aus dem Iran durften trotz der laut Innenministerin Faeser desaströsen menschenrechtlichen Lage nicht auf verbesserte Anerkennungschancen hoffen: Mit 45 % erhielt weniger als die Hälfte Schutz. Gegenüber dem Vorjahr (39 %) erhöhte sich die Quote damit zwar erheblich, was allerdings keineswegs auf die Proteste, die mit der Ermordung Masha Aminis am 16. September begannen, zurückzuführen ist. Die Ablehnungsquote lag im Zeitraum Januar bis August ebenso bei rund 55 %, wie in den Monaten nach Beginn der Revolte. Das BAMF hat also nicht auf Ablehnungen verzichtet, während es die asylrelevante Lage im Iran neu bewerten musste, wie es aus menschenrechtlicher Sicht aber dringend geboten gewesen wäre.
Mehr als ein Drittel der von Gerichten geprüften BAMF-Bescheide sind falsch
Dass es seit Jahren alles andere als eine zu großzügige BAMF-Entscheidungspraxis zu beklagen gibt, bestätigt auch die Zahl der von den Gerichten aufgehobenen BAMF-Bescheide: 37 % der inhaltlich überprüften Asylklagen hatten Erfolg und führten zu einem Status oder verbessertem Schutz. Am häufigsten wurden ablehnende Asylbescheide von Menschen aus Afghanistan aufgehoben (95 % Aufhebungsquote), was nicht allein mit Fehlentscheidungen des BAMF, sondern auch der dramatischen humanitären Situation durch die Machtübernahme begründet ist. Mehr als ein Viertel der BAMF-Bescheide zu den weiteren »großen« Herkunftsländern Irak (27 %) und Türkei (26 %) wurden von den Gerichten für falsch befunden, beim Iran (43 %) oder Somalia (62 %) machten die Gerichte die restriktive BAMF-Linie für weitere Hauptherkunftsländer in sehr großer Zahl nicht mit.
Die Katastrophen in den Herkunftsländern führen zum Schutz, nicht die Praxis des BAMF
Solche Zahlen zeichnen das Bild einer weiterhin restriktiven Entscheidungspraxis des BAMF. Die Rekordschutzquote von 72% ist keinesfalls Ergebnis einer besonders humanitären Praxis des BAMF, im Gegenteil: Sie ist vor allem auf die desaströse humanitäre und menschenrechtliche Situation in den mit Abstand größten Herkunftsländern Syrien und Afghanistan zurückzuführen, die kaum Ablehnungen zulässt. Dass trotz einer wenig humanitären Praxis beim BAMF die Schutzquote auf ein historisches Rekordniveau gestiegen ist, belegt aufs Deutlichste die Schutzbedürftigkeit auch derjenigen Menschen, die nicht aus der Ukraine fliehen.
Fast 40.000 zunächst Abgelehnte erhielten 2022 nachträglich Schutz
Insgesamt erhielten im Jahr 2022 fast 40.000 zunächst vom BAMF abgelehnte Asylsuchende doch noch einen Schutzstatus, in den meisten Fällen durch eine Gerichtsentscheidung, aber auch, weil das BAMF die ursprüngliche Ablehnung korrigierte. In über dieser Hälfte der Fälle erhielten Menschen aus Afghanistan nachträglich Schutz, weil sie mit ihrer Klage bei Gericht oder einem Folgeasylantrag erfolgreich waren oder das BAMF mit einem Abhilfebescheid den ursprünglichen, falschen Bescheid aufhob.
500 Asylprüfungen weniger oder: Die sinnlose Bürokratie von Dublin
In 69.000 Asylverfahren, also fast einem Drittel (32 %) aller Asylerstanträge, wurde 2022 ein sogenanntes Dublin-Verfahren eingeleitet, weil Deutschland einen anderen europäischen Staat als zuständig erachtete. Dieser Wert nähert sich damit wieder annähernd dem vor-Corona-Niveau an. In die zuständigen Staaten überstellt wurden rund 4.200 Menschen, was einer Quote von 6 % in Bezug auf die eingeleiteten Dublin-Verfahren entspricht. Auf der anderen Seite gibt es auch Dublin-Überstellungen aus den europäischen Staaten an Deutschland, weil das BAMF für deren Asylanträge zuständig ist: 3.700 Menschen waren davon betroffen.
Das System Dublin ist nicht nur hoch bürokratisch und in vielen Fällen unmenschlich, es ist schlicht gescheitert.
Im Ergebnis hat Deutschland also im vergangenen Jahr durch Dublin noch nicht einmal 500 Asylanträge weniger zu prüfen gehabt. Für die europaweite Umverteilung von weniger als 500 Menschen 83.000 Verfahren (inkl. der an Deutschland gerichteten Übernahmeersuchen) zu führen, ist die völlige Ineffizienz eines Systems in Zahlen.
Das System Dublin ist nicht nur hoch bürokratisch und in vielen Fällen unmenschlich, es ist schlicht gescheitert. Beim BAMF werden große Kapazitäten dafür gebunden, die besser für qualitativ hochwertige Asylprüfungen eingesetzt wären. Aber auch die seit Jahren an der Belastungsgrenze arbeitenden Verwaltungsgerichte werden zusätzlich belastet. Durch beides werden hohe Kosten verursacht, die man besser für Integrationsprojekte oder neue und bessere Unterkünfte verwenden sollte, wenn die Menschen in der Realität ohnehin hier bleiben.
Und nicht zuletzt leiden vor allem die Betroffenen von den dadurch künstlich in die Länge gezogenen Asylverfahren. Mit durchschnittlich 22 Monaten dauert es fast zwei Jahre bis zu einer Asylentscheidung durch das BAMF, wenn der Asylantrag nach gescheitertem Dublin-Verfahren in Deutschland geprüft wird, Hauptbetroffene sind Menschen aus Afghanistan und Syrien, also Menschen, die fast zu 100 % hier bleiben, weil sie schutzbedürftig sind.
Leichter Anstieg bei den Abschiebungen
Im vergangenen Jahr wurden 13.000 Menschen aus Deutschland abgeschoben, im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von rund 1.000 oder 8 %. Mit 900 erfolgten die meisten Abschiebungen nach Georgien, gefolgt von den Westbalkanstaaten Albanien, Nordmazedonien und Serbien mit Zahlen zwischen 750 und 850 Abschiebungen. Dahinter kommen die Dublin-Staaten Spanien, Polen, Österreich und Frankreich, gefolgt von der Türkei und Moldau, mit Zahlen zwischen 550 und 650 abgeschobenen Menschen.
Da die Zahl der Abschiebungen nicht annähernd an das vor-Corona-Niveau (22.000 im Jahr 2019) heranreicht und zudem mancherorts die Flüchtlingsunterkünfte voll sind, werden in den letzten Monaten wieder Debatten über vermeintlich zu wenige Abschiebungen geführt.
Kein Widerspruch zwischen vielen Asyl-Ablehnungen und wenigen Abschiebungen
Häufig werden in diesen Debatten Zusammenhänge zur Zahl der abgelehnten Asylbewerber und zu Hunderttausenden Ausreisepflichtigen gezogen. Dass die Abschiebungszahlen gesunken sind, hat unter anderem natürlich mit der hohen Schutzquote im Asylverfahren zu tun, also dass die Menschen, die zu uns kommen, in weit überwiegender Anzahl Schutz benötigen und erst gar nicht ausreisepflichtig werden. Diejenigen, die keinen Schutzstatus vom BAMF erhalten, gehen in großer Zahl ins Klageverfahren: Gegen 88 % der »einfach« abgelehnten Asylbescheide wurde im vergangenen Jahr geklagt, besonders häufig klagten Schutzsuchende aus der Türkei (94 %) und dem Iran (92 %). Auch diese Menschen sind trotz abgelehntem Asylantrag nicht ausreisepflichtig, können und dürfen daher nicht abgeschoben werden. Und viele von ihnen – siehe oben – klagen völlig zu Recht und mit Erfolg gegen ihre Ablehnung.
Man kann also nicht ohne Weiteres die Zahl der Asyl-Ablehnungen des BAMF in Zusammenhang mit einer vermeintlich viel zu geringen Zahl an Abschiebungen bringen. Da Klageverfahren derzeit im Schnitt über zwei Jahre dauern, werden die meisten abgelehnten Asylsuchenden – im Falle einer ebenfalls negativen Klage – erst nach Abschluss des Klageverfahrens ausreisepflichtig. Somit wären im vergangenen Jahr also überwiegend die 2020 Abgelehnten ausreisepflichtig geworden, als es u.a. durch die coronabedingt deutlich geringeren Asylzugangszahlen auch die mit Abstand wenigsten negativen Asyl-Entscheidungen der letzten Jahre gab. Wenn man also diesen Zusammenhang ziehen möchte, ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass die Zahl der Abschiebungen 2022 nur geringfügig angestiegen ist.
Letztendlich können also auch auf den ersten Blick sehr klare Belege auf der Basis von unbestechlichen Zahlen bei genauerer Betrachtung mehr als äußerst fragwürdig sein. Solche Zusammenhänge können nicht bzw. bestenfalls nur sehr bedingt gezogen werden und die Antworten sind nicht so einfach, wie sie zunächst erscheinen. Geringe Abschiebungszahlen trotz vergleichsweise vieler Asyl-Ablehnungen müssen also kein Widerspruch sein.
Zwei Drittel reisen »freiwillig« aus, ein Drittel wird zwangsweise abgeschoben
Der politische Diskurs konzentriert sich zudem ausschließlich auf die Zahl der Abschiebungen, also die zwangsweise außer-Landes-Bringung. Deutlich höher liegt jedoch die Zahl der sogenannten »freiwilligen Ausreisen«, obwohl diese im Ausländerzentralregister (AZR) nur sehr mangelhaft erfasst wird. Zuverlässige Angaben gibt es nur zu den vom Bund geförderten Ausreisen: über diese Programme sind im vergangenen Jahr 7.900 Menschen aus Deutschland ausgereist, was einem Plus von 16 % entspricht. Damit stieg diese Zahle prozentual doppelt so stark wie die Zahl der Abschiebungen.
Zahlen zu Ausreisen, die von den Bundesländern gefördert werden, liegen aber weiterhin nicht vor, obwohl im AZR ein entsprechender Speichersachverhalt geschaffen wurde. Diesbezüglich geben die offiziellen Statistiken aber keinerlei Überblick, der für eine Versachlichung der Debatten aber dringend notwendig wäre.
Als Näherungswert für »freiwillige« Ausreisen kann also weiterhin nur die Zahl der Ausreisepflichtigen herangezogen werden, die bei der Ausreise von der Bundespolizei mit einer Grenzübertrittbescheinigung erfasst wurden. Das waren im vergangenen Jahr 26.500 Personen (+24 % im Vergleich zu 2021). Somit liegt diese Zahl mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der Abschiebungen. Hinzu kommt eine große Dunkelziffer an Menschen, die Deutschland verlassen müssen, die ausreisen, ohne sich bei den Behörden abzumelden. Es ist also keinesfalls so, dass eine geringe Abschiebungszahl ein Beleg für wenige Ausreisen ist – im Gegenteil.
Fehlerhafte AZR-Daten sorgen für deutlich überhöhte Zahl an Ausreisepflichtigen
Als weiterer vermeintlicher Beweis für zu wenige Abschiebungen und »Defizite bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht« wird regelmäßig die Zahl der Ausreisepflichtigen herangezogen. Laut AZR lebten Ende 2022 rund 304.000 Menschen in Deutschland, die eigentlich ausreisen müssten. Diese Zahl stieg im Vergleich zum Vorjahr (293.000) um rund 4 %. Von diesen waren 248.000 oder 82 % im Besitz einer Duldung, weil ihre Abschiebung trotz bestehender Ausreisepflicht nicht möglich war.
Wer die übrigen 56.000 Menschen ohne Duldung sein sollen, geben die Statistiken des AZR jedoch nicht her. Zwar gibt es Menschen mit einer Grenzübertrittbescheinigung, auch stellen manche Ausländerbehörden selbst ausgedachte Phantasiepapiere aus oder stempeln Duldungen als »erloschen« ab, allerdings nicht in einer solchen Größenordnung. Es ist daher davon auszugehen, dass der allergrößte Teil dieser Menschen sich gar nicht mehr in Deutschland aufhält, Stichwort: nicht erfasste Ausreisen.
Selbst nach Angaben der Bundesregierung ist die Zahl der Ausreisepflichtigen höchst ungenau und die Daten des AZR sind teilweise fehlerhaft. So befanden sich Ende letzten Jahres mehr als 21.000 Menschen im laufenden Asylverfahren unter den Ausreisepflichtigen, obwohl während eines Asylverfahrens rechtlich keine Ausreisepflicht besteht.
Auch was die knapp 250.000 Geduldeten angeht, sind die Daten des AZR häufig ungenau: Neben bspw. knapp 3.000 Menschen mit einer Duldung wegen schwerwiegender »medizinischer Gründe«, 25.000 wegen »familiärer Bindungen« oder rund 6.000 wegen einer »beruflichen Ausbildung«, gibt es 82.000 Duldungen aus »sonstigen Gründen« oder 66.000 wegen »fehlender Reisedokumente«. Was die »sonstigen Gründe« sind, ist unklar, ebenso, ob die fehlenden Reisedokumente« ursächlich für die Duldung, also die Nicht-Abschiebung sind. Dass nur rund 10 % der Geduldeten eine sogenannte »Duldung light« haben, d.h. ihnen die Verhinderung der eigenen Abschiebung vorgeworfen wird, spricht deutlich dagegen. Ebenso, dass bspw. Tausende Menschen aus Afghanistan oder dem Irak laut AZR-Daten wegen Passlosigkeit geduldet sind, Länder, in die überhaupt nicht (Afghanistan) oder nur in sehr geringem Umfang (Irak: Straftäter) abgeschoben wird – und das aus gutem Grunde und nicht etwas wegen eines »Vollzugsdefizits« oder weil Menschen nicht bei der Passbeschaffung mitwirken.
In den Debatten werden regelmäßig Ausreisepflichtige und abgelehnte Asylbewerber gleichgesetzt oder vermischt.
Nur etwas mehr als die Hälfte der Ausreisepflichtigen sind abgelehnte Asylbewerber
In den Debatten werden regelmäßig Ausreisepflichtige und abgelehnte Asylbewerber gleichgesetzt oder vermischt. Allerdings waren unter den 304.000 im AZR gespeicherten Ausreisepflichtigen nur 168.000 Menschen mit abgelehntem Asylantrag registriert, d.h. Menschen mit negativ entschiedenem Asylverfahren machen nur etwas mehr als die Hälfte der Ausreisepflichtigen aus.
Aus dem Speichersachverhalt des AZR geht aber nicht hervor, ob der abgelehnte Asylantrag denn auch ursächlich für die Ausreisepflicht ist. Dies dürfte zwar in den allermeisten Fällen so sein; allerdings kann die Asylablehnung auch schon viele Jahre zurückliegen und nichts mit der nunmehr bestehenden Ausreisepflicht zu tun haben. Auch unter diesen Ausreisepflichtigen mit abgelehntem Asylantrag befand sich mit 19.000 Menschen ohne Duldung ein nicht geringer Anteil, bei denen bezweifelt werden darf, ob sie sich überhaupt noch in Deutschland aufhalten, d.h. es dürften sich nur rund 150.000 ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber in Deutschland aufhalten.
Ein solcher Schwebezustand bedeutet für die Betroffenen teils massive Probleme beim Zugang zu Sprach- und Integrationskursen sowie zum Arbeitsmarkt und wirkt sich massiv integrationsfeindlich auf die Menschen, die trotz einer solchen Praxis zum großen Teil in Deutschland bleiben werden, aus.
4 % mehr Ausreisepflichtige, 10 % weniger Ausreisepflichtige mit abgelehntem Asylantrag
Dass die Zahl der Ausreisepflichtigen in den letzten Jahren gestiegen ist, ist trotz der teils fragwürdigen und fehlerhaften Daten, das AZR aber unbestritten. Den in den Debatten um die vermeintlichen »Grenzen der Belastbarkeit« immer wieder gestellten Forderungen, die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber zu beschleunigen, widerspricht jedoch die Tatsache, dass entgegen der gestiegenen Zahl der Ausreisepflichtigen die Zahl der Ausreisepflichtigen mit abgelehntem Asylantrag im Vergleich zum Vorjahr (187.000) um 19.000 oder 10 % gesunken ist.
Dies lässt sich dadurch erklären, dass ein Teil der Menschen aufgrund der Perspektivlosigkeit oder Angst vor Abschiebung Deutschland verlassen hat, ein Teil aber auch bspw. durch einen erfolgreichen Folgeasylantrag nunmehr einen Status erhalten hat (bspw. Menschen aus Afghanistan). Andere haben eine Berufsausbildung erfolgreich abgeschlossen und sind damit aus der zwar sicheren Ausbildungsduldung in einen Aufenthalt gekommen ist.
Denn auch das gehört zur Debatte: Selbst Menschen in Ausbildung, die künftigen Fachkräfte in den unzähligen Mangelberufen, können erst nach erfolgreichem Abschluss eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und bleiben bis dahin im Status der Duldung und damit ausreisepflichtig. Über 6.000 Auszubildende mit Ausbildungsduldung können und sollen gar nicht abgeschoben werden, sind als Ausreisepflichtige aber trotzdem Teil der Debatte um vermeintlich zu viele Ausreisepflichtige und zu wenige Abschiebungen.
Drei Viertel aller abgelehnten Asylbewerber haben einen Aufenthaltstitel
Insgesamt werden die Debatten angesichts der hohen Flüchtlingszahlen also sehr einseitig geführt und ein abgelehnter Asylantrag sehr häufig mit Ausreisepflicht und Abschiebung gleichgesetzt. Allerdings spricht die Datenlage auch hier eine andere Sprache: Ende 2022 lebten über 860.000 abgelehnte Asylsuchende in Deutschland, von denen jedoch über 75% im Besitz eines Aufenthaltstitels waren, fast ein Drittel hatte sogar einen unbefristeten Aufenthalt. Abgelehnte Asylbewerber landen also nicht zwangsläufig in der Ausreisepflicht bzw. kommen durch langjährigen Aufenthalt und gute Integration wieder aus der zwischenzeitlichen Ausreisepflicht heraus und erfüllen die Voraussetzungen auf einen Aufenthalt.
Auch diese Zahl belegt, dass viele Abschiebungen nicht scheitern, weil Betroffene den Vollzug verhindern, da für eine Aufenthaltserlaubnis in aller Regel ein gültiger Pass vorgelegt muss – den die Ausländerbehörden auch für eine Abschiebung benötigen. Diese Zahl bestätigt also auch die beschriebene nicht nachvollziehbare Zahl beim Duldungsgrund »fehlende Reisedokumente«.
Statt mehr Abschiebungen braucht es eine den Menschen zugewandte ausländerbehördliche Praxis
Insgesamt leben 55 % der Ausreisepflichtigen mit einer Duldung seit mehr als 5 Jahren in Deutschland. Auch diese lange Aufenthaltsdauer in einer Vielzahl an Fällen spricht eher dafür, dass diese Menschen aus guten Gründen nicht abgeschoben werden können und dürfen. Bspw. sind über 20 % der Geduldeten aus dem Irak und Afghanistan, aber auch rund 6.000 geduldete Syrer sind darunter.
Es bleibt zu hoffen, dass das Chancen-Aufenthaltsrecht großzügig umgesetzt wird und viele der langjährig Geduldeten davon profitieren können. Dies ist der einzig realistische Weg, um die Zahl der Ausreisepflichtigen merklich zu senken, den Menschen eine Perspektive zu geben und dadurch auch die Kommunen und die teils sehr vollen Unterkünfte zu entlasten. Erste Erfahrungen mit dem neuen Recht lassen aber Befürchtungen wahr werden, dass viele Ausländerbehörden sehr kreativ darin sind, in der Auslegung des neuen Rechts Ausschlussgründe für die Menschen zu kreieren.
Eine Debatte über zu wenige Abschiebungen sendet völlig falsche Signale und fördert eine solche Praxis noch. Letztendlich kann eine solche Debatte zwar einige weitere »Migrationsabkommen« und damit auch ein paar mehr Abschiebungen zur Folge haben. Eine wirkungsvolle Entlastung der Kommunen lässt sich dadurch allerdings nicht erreichen. Hierfür geht die Debatte an der Realität vorbei, da viele der Geduldeten sehr gute Gründe haben, weshalb ihre Abschiebung über viele Jahre nicht möglich ist.
Nur wenn die gesetzliche und ausländerbehördliche Praxis auch Ausreisepflichtigen gegenüber nicht mehr ausschließlich auf Restriktionen setzen, sondern die Realität anerkennen und Wege in eine Perspektive und einen Aufenthalt eröffnen statt diese zu verbauen, haben diese Menschen Chancen auf dem freien Wohnungsmarkt.
Zeit für menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik!
In Zeiten zunehmender Kriegs- und Krisenherde und angesichts dramatisch steigender Flüchtlingszahlen in der Welt, kann Abschreckung und die sich zunehmend verschärfende Abschottung von Deutschland und Europa keine zukunftsfähige Antwort sein. Zumal auch der gedrängte Klimawandel dazu beitragen werden, dass sich die Zahl derer, die gezwungen sein werden ihre Heimat zu verlassen, in absehbarer Zeit nicht verringern wird.
Dirk Morlok