Hintergrund
»Aber dann ging es los, dass wir verfolgt und viele von uns umgebracht wurden«
Im Interview berichtet Alberto Gomez, geflohener Menschenrechtsanwalt aus Kolumbien, wie er und seine Familie mit dem Tode bedroht, misshandelt und zur Flucht nach Deutschland gezwungen wurden.
Eine ausführliche Langfassung des Interviews gibt es beim Flüchtlingsrat Niedersachsen
Herr Gomez, wie viele Personen aus Kolumbien fliehen derzeit nach Deutschland und warum sind sie hier?
Es gibt derzeit rund 1.100 Personen, die in Deutschland Asyl beantragt haben. Im Vergleich zu den Zahlen der Geflüchteten aus anderen Ländern wie Syrien oder Afghanistan sind das nicht viele, aber wenn man die Zahlen im historischen Vergleich betrachtet, sind sie bemerkenswert. Niemand flieht gern aus seiner Heimat. Es ist auch nicht so, dass Kolumbianer schon lange auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa kommen. Aber man kann auf die Dauer nicht mit Gewalt leben, mit Verfolgung durch den Staat, mit täglichen Mordanschlägen und Toten.
Können Sie schildern, wie die Verfolgung in Ihrem konkreten Fall aussah?
2018 war ich bei der Parlamentswahl als Wahlbeobachter in der Region der Atlantikküste eingesetzt und habe gesehen, wie Wahlbetrug begangen wurde. Ich habe das bei den zuständigen Behörden angezeigt und der Presse bekanntgegeben. Das hat dazu geführt, dass ein sehr mächtiger Senator mich verfolgt. Obwohl er selbst heute im Gefängnis sitzt, ist seine Nichte nach wie vor hinter mir her. Und dazu bedient sie sich der Paramilitärs, die niemals wirklich demobilisiert wurden.
Außerdem hatte ich eine Reihe von Regierungsaufträgen, die alle auf einmal gekündigt wurden, als bekannt wurde, dass ich nicht die Wahlkampagne des Präsidenten unterstützt hatte. Die Verfolgung begann also auf dem Feld der Beschäftigung, man versuchte, uns den Lebensunterhalt zu entziehen. Man sagte mir: »Sie können nicht mehr für uns arbeiten, denn Sie kritisieren den Staat, der Sie ernährt.« Und meine Antwort war: »Das ist ein Irrtum. Ich arbeite für eine nationale Behörde, und die Nation ernährt mich, nicht Sie oder die Regierung.« Daraufhin schickten sie mich erst einmal in einen Keller und ließen mich dort das Archiv aufräumen.
»Aber dann ging es los, dass wir wegen unserer Tätigkeit verfolgt und viele von uns umgebracht wurden.«
Ich hatte als Rechtsberater gearbeitet, in verschiedenen Institutionen. Ich habe Tausende von Menschen beraten und mein Bestes gegeben, denn ich fühlte mich nicht nur an meinen Vertrag gebunden, sondern auch an meine soziale Verpflichtung. Und ich war nicht der einzige, es gab viele von uns. Aber dann ging es los, dass wir wegen unserer Tätigkeit verfolgt und viele von uns umgebracht wurden.
Um welches Thema ging es, für das sogar Menschen starben?
Wir rollten Prozesse um Landstreitigkeiten wieder auf, denn wir wussten, dass die Chancen unserer Klienten schlecht gewesen waren, wenn alle Instanzen wie Staatsanwaltschaften, Ombudsleute und Gerichte Hand in Hand gearbeitet hatten, anstatt sich gegenseitig zu kontrollieren. Zu den wichtigsten Akteuren in den bewaffneten Konflikten hatten die Großgrundbesitzer und großen Viehzüchter gehört. Sie hatten schon immer ihren Landbesitz auf Kosten Dritter erweitert. Und in vielen dieser Prozesse ging es darum, unrechtmäßige Enteignungen rückgängig zu machen und das Land den ursprünglichen Besitzern oder deren Erben zurück zu geben. Das konnte den Großgrundbesitzern natürlich nicht recht sein.
Im Mai 2019 wurde eine Kollegin von mir ermordet, im Juli ein zweiter Kollege. Im Mai musste ich meine Kinder aus der Schule abmelden, weil ich einen Drohanruf erhalten hatte, und zwar an eine Telefonnummer, die ausschließlich der Staatsanwaltschaft bekannt war. Und dabei sagte man mir, wo meine Kinder zur Schule gingen, wie sie hießen und was sie anhatten, und am Ende hieß es: »Geben Sie Ruhe, sonst bringen wir Sie um.« Meine Frau wurde ebenfalls bedroht und von der Polizei misshandelt. Und mit den Morden an Menschen aus meiner Umgebung und allgemein der steigenden Anzahl von Mordanschlägen wurde die Bedrohung auch für mich immer realer.
Wie bekannt waren Sie durch Ihre Arbeit?
Vielleicht hatten die Drohungen auch damit zu tun, dass ich 2018 eine Entscheidung getroffen hatte. Bis dahin hatte ich meist im Hintergrund gearbeitet, mein Job war die Recherche und Zuarbeit für andere, die stärker im Rampenlicht standen. Aber 2018 übernahm ich einen Posten als »Consejero territorial de planeación«. In Kolumbien gibt es auf kommunaler Ebene neben der Stadtverwaltung mit dem Bürgermeister und dem Stadtrat auch noch ein Gremium, in dem alle zivilen Organisationen des Ortes vertreten sind, von Wirtschaftsverbänden über Umweltgruppen und Tierschützern bis zur Interessenvertretung der Obdachlosen. Dieser Kommission durfte ich angehören, und man beauftragte mich, die Regionalplanung der Kommune Bogotá zu überprüfen.
Diese Tätigkeit gab mir eine bestimmte Bekanntheit. Deshalb war es für mich keine Option, als die Drohungen anfingen, das zu tun, was die Polizei vielen verfolgten Personen rät, nämlich in einen anderen Landesteil zu flüchten. Egal ob ich nach Leticia gehe, ins Amazonasgebiet oder an den Orinoco, sobald ein Vertreter der örtlichen Autoritäten meinen Personalausweis ins Internet eingibt, weiß er, wer ich bin und wer hinter mir her ist.
»Und als ich am 27. Dezember 2019 eine weitere Drohung erhielt, indem Fremde an meinem Wohnort auf dem Land auftauchten (der nur den Behörden bekannt war) und einige meiner Hunde mit Macheten erschlugen, da war mir klar, dass ich das Land verlassen musste.«
Und so ist es vielen Menschen ergangen, die nach der Krise von 2019 feststellen mussten, dass es für sie unmöglich war, in Kolumbien zu bleiben. Die meisten von ihnen sind Familien, die vor allem Angst um ihre Kinder haben, oder junge Menschen. Und als ich am 27. Dezember 2019 eine weitere Drohung erhielt, indem Fremde an meinem Wohnort auf dem Land auftauchten (der nur den Behörden bekannt war) und einige meiner Hunde mit Macheten erschlugen – zum Glück befand sich meine Familie nicht zu Hause – da war mir klar, dass ich auf der Liste stand und das Land verlassen musste.
Wie erging es ihrer Frau?
Während der Unruhen im November 2019 hat meine Frau von Seiten der Polizei Misshandlungen von höchster Brutalität erfahren. Sie hat erst vor kurzem beschlossen, über das zu sprechen, was ihr angetan wurde. Das ist ihr nicht leicht gefallen, vor allem im Hinblick auf unsere Kinder und unsere Familien in Kolumbien. Aber man muss die Verbrechen öffentlich anprangern, man muss klar machen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, dass Vergewaltigungen zur Repression gehören. In der bisherigen Geschichte haben die Frauen über solche Gewalttaten geschwiegen, ob sie nun in der Ehe stattgefunden haben oder in Institutionen wie Schulen oder Universitäten, und natürlich besonders, wenn sie Teil der gesellschaftlichen und politischen Gewalt in Kolumbien waren. Zum einen, weil sie damit öffentlich stigmatisiert werden, zum anderen aber auch, weil sie sich der zusätzlichen Gefahr aussetzen, dass die Täter sie als Zeuginnen beseitigen wollen.
Warum nach Europa? Lag es nicht nahe, in ein anderes lateinamerikanisches Land zu flüchten?
Innerhalb des Landes haben wir zurzeit sieben Millionen Vertriebene. Man kann die Zahlen auf der Seite der »Unidad de víctimas« finden, obwohl sie möglicherweise inzwischen gelöscht sind, weil die Regierung sogar die Erinnerung auslöschen will.
Gibt es für uns die Möglichkeit, in ein anderes südamerikanisches Land zu fliehen? Das traditionelle Exilland für Kolumbianer war immer Venezuela. Es war ein reiches Land mit der gleichen Sprache und nahe unserer Heimst gelegen. Wenn man Arbeit fand, konnte man dort gut leben. Aber in der gegenwärtigen Situation, in der sich das Land befindet, ist das kein gangbarer Weg mehr.
Wir haben auch überlegt, in die USA zu gehen. Aber 2019/20 regierte noch Donald Trump. Zudem hatte die US-Regierung stets Alvaro Uribe unterstützt und seine Opponenten kritisiert, und es war schwer vorstellbar, wie man als politischer Flüchtling dort leben sollte.
Wie kam es, dass Sie nach Deutschland gekommen sind? Allein die Sprache ist doch eine erhebliche Hürde für Sie und andere Geflüchtete aus Lateinamerika.
Als ich im Aufnahmezentrum ankam, sagte dort der Arzt zu mir: »Hier ist alles deutsch: die Luft, der Boden und auch die Sprache. Warum seid Ihr nicht nach Spanien gegangen?« Als Flüchtling gewöhnt man sich an manches. Im Vergleich zu der Bedrohung, der ich entkommen war, war das nur eine gewöhnliche Diskriminierung – mit der ich in Deutschland allerdings nicht gerechnet hatte. Für mich war Deutschland immer das Land der Geistesgrößen gewesen – in den Rechtswissenschaften, der Philosophie, der Psychologie oder der Soziologie.
In der Nähe von hier, in Hannover, ist Hannah Arendt aufgewachsen. Ich bewundere das Grundgesetz, das im ersten Artikel die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt. Ich bin in der Tat der Überzeugung, dass demokratische Werte und Meinungsvielfalt nicht zur Disposition stehen.
»Ich bewundere das Grundgesetz, das im ersten Artikel die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt. Ich bin in der Tat der Überzeugung, dass demokratische Werte und Meinungsvielfalt nicht zur Disposition stehen.«
Den Ausschlag für unsere Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, gaben die Verbindungen meiner Frau, die Yogalehrerin ist, zu einer hinduistischen Gemeinde in Berlin. In der Praxis konnten uns diese Personen aber wenig helfen, trotz bester Absichten, denn die bürokratischen Abläufe für die Beantragung von Asyl sind klar festgelegt, und so sind wir am Ende in Niedersachsen gelandet.
Sie sind nun in Deutschland und haben Asyl beantragt. Könnte Ihnen von den Behörden vorgehalten werden, dass sie auch innerhalb des Landes hätten Zuflucht finden können?
Ich bin nirgends im Land mehr sicher, auch in Bogotá nicht, denn ich bin von der Regierung als eine gefährliche Person gekennzeichnet worden. Ich könnte ja mit dem, was ich weiß und den Beweisen, die ich habe, vor ein Gericht ziehen oder an die Öffentlichkeit gehen. Dann gibt es auch Vertreter kleinerer Organisationen, die lokal verfolgt werden. Denen wird oft gesagt: »Geht doch nach Bogotà«. Die regionale Gewalt bildet überall Ableger, sie breitet sich aus.
Und man kann Menschen auch sozial töten, wenn man sie am Leben lässt. Wenn man eine Person, die seit ihrer Geburt in einer kleinen Dorfgemeinschaft gelebt hat, in eine große Stadt schickt, dann raubt man ihr die sozialen Beziehungen, ihr Arbeitsleben, die Kompetenzen, die sie sich durch Erfahrung erworben hat.
Ich habe Glück gehabt, weil ich viele Freunde habe, die immer wieder Arbeit für mich gefunden haben, von der ich leben konnte und die ich außerdem gern gemacht habe. Aber 95 Prozent der Leute, die bedroht werden, haben diese Möglichkeiten nicht. Wenn Menschen, die sich in ihrem Heimatort sozial engagiert haben, gezwungen werden, in eine große Stadt zu ziehen, werden sie mit der Gewalt konfrontiert, die dort herrscht. In der Regel finden sie nur an der Peripherie eine Wohnung, in den Armenvierteln, wo wiederum Gewalt und Kriminalität allgegenwärtig sind. In diesen Vierteln leben Angehörige der Paramilitärs, der Guerilla, der Drogenbanden, so dass hier Mikro-Milieus der Gewalt entstehen.
Auch wenn Kolumbien doppelt so groß ist wie Deutschland, hat es nur halb so viele Einwohner und ist am Ende doch ein kleines Land. Die Möglichkeiten, einer Verfolgung zu entkommen, sind begrenzt, und die staatliche Kontrolle ist sehr umfassend.
Das Interview führte Eleonore von Oertzen und wurde vom Flüchtlingsrat Niedersachsen zur Verfügung gestellt.