12.08.2021
Image
Alberto Gomez. Foto: privat

Im Interview berichtet Alberto Gomez, geflohener Menschenrechtsanwalt aus Kolumbien, wie er und seine Familie mit dem Tode bedroht, misshandelt und zur Flucht nach Deutschland gezwungen wurden.

Eine aus­führ­li­che Lang­fas­sung des Inter­views gibt es beim Flücht­lings­rat Niedersachsen

Herr Gomez, wie vie­le Per­so­nen aus Kolum­bi­en flie­hen der­zeit nach Deutsch­land und war­um sind sie hier? 

Es gibt der­zeit rund 1.100 Per­so­nen, die in Deutsch­land Asyl bean­tragt haben. Im Ver­gleich zu den Zah­len der Geflüch­te­ten aus ande­ren Län­dern wie Syri­en oder Afgha­ni­stan sind das nicht vie­le, aber wenn man die Zah­len im his­to­ri­schen Ver­gleich betrach­tet, sind sie bemer­kens­wert. Nie­mand flieht gern aus sei­ner Hei­mat. Es ist auch nicht so, dass Kolum­bia­ner schon lan­ge auf der Suche nach einem bes­se­ren Leben nach Euro­pa kom­men. Aber man kann auf die Dau­er nicht mit Gewalt leben, mit Ver­fol­gung durch den Staat, mit täg­li­chen Mord­an­schlä­gen und Toten.

1.100

Kolumbianer*innen haben aktu­ell in Deutsch­land um Asyl gebeten.

Kön­nen Sie schil­dern, wie die Ver­fol­gung in Ihrem kon­kre­ten Fall aussah?

2018 war ich bei der Par­la­ments­wahl als Wahl­be­ob­ach­ter in der Regi­on der Atlan­tik­küs­te ein­ge­setzt und habe gese­hen, wie Wahl­be­trug began­gen wur­de. Ich habe das bei den zustän­di­gen Behör­den ange­zeigt und der Pres­se bekannt­ge­ge­ben. Das hat dazu geführt, dass ein sehr mäch­ti­ger Sena­tor mich ver­folgt. Obwohl er selbst heu­te im Gefäng­nis sitzt, ist sei­ne Nich­te nach wie vor hin­ter mir her. Und dazu bedient sie sich der Para­mi­li­tärs, die nie­mals wirk­lich demo­bi­li­siert wurden.

Außer­dem hat­te ich eine Rei­he von Regie­rungs­auf­trä­gen, die alle auf ein­mal gekün­digt wur­den, als bekannt wur­de, dass ich nicht die Wahl­kam­pa­gne des Prä­si­den­ten unter­stützt hat­te. Die Ver­fol­gung begann also auf dem Feld der Beschäf­ti­gung, man ver­such­te, uns den Lebens­un­ter­halt zu ent­zie­hen. Man sag­te mir: »Sie kön­nen nicht mehr für uns arbei­ten, denn Sie kri­ti­sie­ren den Staat, der Sie ernährt.« Und mei­ne Ant­wort war: »Das ist ein Irr­tum. Ich arbei­te für eine natio­na­le Behör­de, und die Nati­on ernährt mich, nicht Sie oder die Regie­rung.« Dar­auf­hin schick­ten sie mich erst ein­mal in einen Kel­ler und lie­ßen mich dort das Archiv aufräumen.

»Aber dann ging es los, dass wir wegen unse­rer Tätig­keit ver­folgt und vie­le von uns umge­bracht wurden.«

Alber­to Gomez

Ich hat­te als Rechts­be­ra­ter gear­bei­tet, in ver­schie­de­nen Insti­tu­tio­nen. Ich habe Tau­sen­de von Men­schen bera­ten und mein Bes­tes gege­ben, denn ich fühl­te mich nicht nur an mei­nen Ver­trag gebun­den, son­dern auch an mei­ne sozia­le Ver­pflich­tung. Und ich war nicht der ein­zi­ge, es gab vie­le von uns. Aber dann ging es los, dass wir wegen unse­rer Tätig­keit ver­folgt und vie­le von uns umge­bracht wurden.

Um wel­ches The­ma ging es, für das sogar Men­schen starben? 

Wir roll­ten Pro­zes­se um Land­strei­tig­kei­ten wie­der auf, denn wir wuss­ten, dass die Chan­cen unse­rer Kli­en­ten schlecht gewe­sen waren, wenn alle Instan­zen wie Staats­an­walt­schaf­ten, Ombuds­leu­te und Gerich­te Hand in Hand gear­bei­tet hat­ten, anstatt sich gegen­sei­tig zu kon­trol­lie­ren. Zu den wich­tigs­ten Akteu­ren in den bewaff­ne­ten Kon­flik­ten hat­ten die Groß­grund­be­sit­zer und gro­ßen Vieh­züch­ter gehört. Sie hat­ten schon immer ihren Land­be­sitz auf Kos­ten Drit­ter erwei­tert. Und in vie­len die­ser Pro­zes­se ging es dar­um, unrecht­mä­ßi­ge Ent­eig­nun­gen rück­gän­gig zu machen und das Land den ursprüng­li­chen Besit­zern oder deren Erben zurück zu geben. Das konn­te den Groß­grund­be­sit­zern natür­lich nicht recht sein.

Im Mai 2019 wur­de eine Kol­le­gin von mir ermor­det, im Juli ein zwei­ter Kol­le­ge. Im Mai muss­te ich mei­ne Kin­der aus der Schu­le abmel­den, weil ich einen Droh­an­ruf erhal­ten hat­te, und zwar an eine Tele­fon­num­mer, die aus­schließ­lich der Staats­an­walt­schaft bekannt war. Und dabei sag­te man mir, wo mei­ne Kin­der zur Schu­le gin­gen, wie sie hie­ßen und was sie anhat­ten, und am Ende hieß es: »Geben Sie Ruhe, sonst brin­gen wir Sie um.« Mei­ne Frau wur­de eben­falls bedroht und von der Poli­zei miss­han­delt. Und mit den Mor­den an Men­schen aus mei­ner Umge­bung und all­ge­mein der stei­gen­den Anzahl von Mord­an­schlä­gen wur­de die Bedro­hung auch für mich immer realer.

Wie bekannt waren Sie durch Ihre Arbeit? 

Viel­leicht hat­ten die Dro­hun­gen auch damit zu tun, dass ich 2018 eine Ent­schei­dung getrof­fen hat­te. Bis dahin hat­te ich meist im Hin­ter­grund gear­bei­tet, mein Job war die Recher­che und Zuar­beit für ande­re, die stär­ker im Ram­pen­licht stan­den. Aber 2018 über­nahm ich einen Pos­ten als »Con­se­je­ro ter­ri­to­ri­al de pla­ne­ación«. In Kolum­bi­en gibt es auf kom­mu­na­ler Ebe­ne neben der Stadt­ver­wal­tung mit dem Bür­ger­meis­ter und dem Stadt­rat auch noch ein Gre­mi­um, in dem alle zivi­len Orga­ni­sa­tio­nen des Ortes ver­tre­ten sind, von Wirt­schafts­ver­bän­den über Umwelt­grup­pen und Tier­schüt­zern bis zur Inter­es­sen­ver­tre­tung der Obdach­lo­sen. Die­ser Kom­mis­si­on durf­te ich ange­hö­ren, und man beauf­trag­te mich, die Regio­nal­pla­nung der Kom­mu­ne Bogo­tá zu überprüfen.

Die­se Tätig­keit gab mir eine bestimm­te Bekannt­heit. Des­halb war es für mich kei­ne Opti­on, als die Dro­hun­gen anfin­gen, das zu tun, was die Poli­zei vie­len ver­folg­ten Per­so­nen rät, näm­lich in einen ande­ren Lan­des­teil zu flüch­ten. Egal ob ich nach Leti­cia gehe, ins Ama­zo­nas­ge­biet oder an den Orino­co, sobald ein Ver­tre­ter der ört­li­chen Auto­ri­tä­ten mei­nen Per­so­nal­aus­weis ins Inter­net ein­gibt, weiß er, wer ich bin und wer hin­ter mir her ist.

»Und als ich am 27. Dezem­ber 2019 eine wei­te­re Dro­hung erhielt, indem Frem­de an mei­nem Wohn­ort auf dem Land auf­tauch­ten (der nur den Behör­den bekannt war) und eini­ge mei­ner Hun­de mit Mache­ten erschlu­gen, da war mir klar, dass ich das Land ver­las­sen musste.«

Alber­to Gomez

Und so ist es vie­len Men­schen ergan­gen, die nach der Kri­se von 2019 fest­stel­len muss­ten, dass es für sie unmög­lich war, in Kolum­bi­en zu blei­ben. Die meis­ten von ihnen sind Fami­li­en, die vor allem Angst um ihre Kin­der haben, oder jun­ge Men­schen. Und als ich am 27. Dezem­ber 2019 eine wei­te­re Dro­hung erhielt, indem Frem­de an mei­nem Wohn­ort auf dem Land auf­tauch­ten (der nur den Behör­den bekannt war) und eini­ge mei­ner Hun­de mit Mache­ten erschlu­gen – zum Glück befand sich mei­ne Fami­lie nicht zu Hau­se – da war mir klar, dass ich auf der Lis­te stand und das Land ver­las­sen musste.

Wie erging es ihrer Frau?

Wäh­rend der Unru­hen im Novem­ber 2019 hat mei­ne Frau von Sei­ten der Poli­zei Miss­hand­lun­gen von höchs­ter Bru­ta­li­tät erfah­ren. Sie hat erst vor kur­zem beschlos­sen, über das zu spre­chen, was ihr ange­tan wur­de. Das ist ihr nicht leicht gefal­len, vor allem im Hin­blick auf unse­re Kin­der und unse­re Fami­li­en in Kolum­bi­en. Aber man muss die Ver­bre­chen öffent­lich anpran­gern, man muss klar machen, dass es sich nicht um Ein­zel­fäl­le han­delt, dass Ver­ge­wal­ti­gun­gen zur Repres­si­on gehö­ren. In der bis­he­ri­gen Geschich­te haben die Frau­en über sol­che Gewalt­ta­ten geschwie­gen, ob sie nun in der Ehe statt­ge­fun­den haben oder in Insti­tu­tio­nen wie Schu­len oder Uni­ver­si­tä­ten, und natür­lich beson­ders, wenn sie Teil der gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Gewalt in Kolum­bi­en waren. Zum einen, weil sie damit öffent­lich stig­ma­ti­siert wer­den, zum ande­ren aber auch, weil sie sich der zusätz­li­chen Gefahr aus­set­zen, dass die Täter sie als Zeu­gin­nen besei­ti­gen wollen.

War­um nach Euro­pa? Lag es nicht nahe, in ein ande­res latein­ame­ri­ka­ni­sches Land zu flüchten?

Inner­halb des Lan­des haben wir zur­zeit sie­ben Mil­lio­nen Ver­trie­be­ne. Man kann die Zah­len auf der Sei­te der »Uni­dad de víc­ti­mas« fin­den, obwohl sie mög­li­cher­wei­se inzwi­schen gelöscht sind, weil die Regie­rung sogar die Erin­ne­rung aus­lö­schen will.

Gibt es für uns die Mög­lich­keit, in ein ande­res süd­ame­ri­ka­ni­sches Land zu flie­hen? Das tra­di­tio­nel­le Exil­land für Kolum­bia­ner war immer Vene­zue­la. Es war ein rei­ches Land mit der glei­chen Spra­che und nahe unse­rer Heimst gele­gen. Wenn man Arbeit fand, konn­te man dort gut leben. Aber in der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on, in der sich das Land befin­det, ist das kein gang­ba­rer Weg mehr.

Wir haben auch über­legt, in die USA zu gehen. Aber 2019/20 regier­te noch Donald Trump. Zudem hat­te die US-Regie­rung stets Alva­ro Uri­be unter­stützt und sei­ne Oppo­nen­ten kri­ti­siert, und es war schwer vor­stell­bar, wie man als poli­ti­scher Flücht­ling dort leben sollte.

Wie kam es, dass Sie nach Deutsch­land gekom­men sind? Allein die Spra­che ist doch eine erheb­li­che Hür­de für Sie und ande­re Geflüch­te­te aus Lateinamerika.

Als ich im Auf­nah­me­zen­trum ankam, sag­te dort der Arzt zu mir: »Hier ist alles deutsch: die Luft, der Boden und auch die Spra­che. War­um seid Ihr nicht nach Spa­ni­en gegan­gen?« Als Flücht­ling gewöhnt man sich an man­ches. Im Ver­gleich zu der Bedro­hung, der ich ent­kom­men war, war das nur eine gewöhn­li­che Dis­kri­mi­nie­rung – mit der ich in Deutsch­land aller­dings nicht gerech­net hat­te. Für mich war Deutsch­land immer das Land der Geis­tes­grö­ßen gewe­sen – in den Rechts­wis­sen­schaf­ten, der Phi­lo­so­phie, der Psy­cho­lo­gie oder der Soziologie.

In der Nähe von hier, in Han­no­ver, ist Han­nah Are­ndt auf­ge­wach­sen. Ich bewun­de­re das Grund­ge­setz, das im ers­ten Arti­kel die Men­schen­wür­de in den Mit­tel­punkt stellt. Ich bin in der Tat der Über­zeu­gung, dass demo­kra­ti­sche Wer­te und Mei­nungs­viel­falt nicht zur Dis­po­si­ti­on stehen.

»Ich bewun­de­re das Grund­ge­setz, das im ers­ten Arti­kel die Men­schen­wür­de in den Mit­tel­punkt stellt. Ich bin in der Tat der Über­zeu­gung, dass demo­kra­ti­sche Wer­te und Mei­nungs­viel­falt nicht zur Dis­po­si­ti­on stehen.«

Alber­to Gomez

Den Aus­schlag für unse­re Ent­schei­dung, nach Deutsch­land zu kom­men, gaben die Ver­bin­dun­gen mei­ner Frau, die Yoga­leh­re­rin ist, zu einer hin­du­is­ti­schen Gemein­de in Ber­lin. In der Pra­xis konn­ten uns die­se Per­so­nen aber wenig hel­fen, trotz bes­ter Absich­ten, denn die büro­kra­ti­schen Abläu­fe für die Bean­tra­gung von Asyl sind klar fest­ge­legt, und so sind wir am Ende in Nie­der­sach­sen gelandet.

Sie sind nun in Deutsch­land und haben Asyl bean­tragt. Könn­te Ihnen von den Behör­den vor­ge­hal­ten wer­den, dass sie auch inner­halb des Lan­des hät­ten Zuflucht fin­den können? 

Ich bin nir­gends im Land mehr sicher, auch in Bogo­tá nicht, denn ich bin von der Regie­rung als eine gefähr­li­che Per­son gekenn­zeich­net wor­den. Ich könn­te ja mit dem, was ich weiß und den Bewei­sen, die ich habe, vor ein Gericht zie­hen oder an die Öffent­lich­keit gehen. Dann gibt es auch Ver­tre­ter klei­ne­rer Orga­ni­sa­tio­nen, die lokal ver­folgt wer­den. Denen wird oft gesagt: »Geht doch nach Bogo­tà«. Die regio­na­le Gewalt bil­det über­all Able­ger, sie brei­tet sich aus.

Und man kann Men­schen auch sozi­al töten, wenn man sie am Leben lässt. Wenn man eine Per­son, die seit ihrer Geburt in einer klei­nen Dorf­ge­mein­schaft gelebt hat, in eine gro­ße Stadt schickt, dann raubt man ihr die sozia­len Bezie­hun­gen, ihr Arbeits­le­ben, die Kom­pe­ten­zen, die sie sich durch Erfah­rung erwor­ben hat.

Ich habe Glück gehabt, weil ich vie­le Freun­de habe, die immer wie­der Arbeit für mich gefun­den haben, von der ich leben konn­te und die ich außer­dem gern gemacht habe. Aber 95 Pro­zent der Leu­te, die bedroht wer­den, haben die­se Mög­lich­kei­ten nicht. Wenn Men­schen, die sich in ihrem Hei­mat­ort sozi­al enga­giert haben, gezwun­gen wer­den, in eine gro­ße Stadt zu zie­hen, wer­den sie mit der Gewalt kon­fron­tiert, die dort herrscht. In der Regel fin­den sie nur an der Peri­phe­rie eine Woh­nung, in den Armen­vier­teln, wo wie­der­um Gewalt und Kri­mi­na­li­tät all­ge­gen­wär­tig sind. In die­sen Vier­teln leben Ange­hö­ri­ge der Para­mi­li­tärs, der Gue­ril­la, der Dro­gen­ban­den, so dass hier Mikro-Milieus der Gewalt entstehen.

Auch wenn Kolum­bi­en dop­pelt so groß ist wie Deutsch­land, hat es nur halb so vie­le Ein­woh­ner und ist am Ende doch ein klei­nes Land. Die Mög­lich­kei­ten, einer Ver­fol­gung zu ent­kom­men, sind begrenzt, und die staat­li­che Kon­trol­le ist sehr umfassend.

Das aus­führ­li­che Inter­view, in dem Alber­to Gomez auch über die Lage und die poli­ti­schen Ver­hält­nis­se in Kolum­bi­en spricht, fin­det sich hier.

Das Inter­view führ­te Eleo­no­re von Oert­zen und wur­de vom Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen zur Ver­fü­gung gestellt. 


Alle Hintergründe