24.08.2023
Image
Banner mit klarem Statement in der Prager Innenstadt. Foto: Marc Speer

Tschechien ist das drittgrößte EU-Aufnahmeland ukrainischer Flüchtlinge. Die Stimmung ihnen gegenüber ist außerordentlich positiv und viele Ukrainer*innen haben bereits einen Job gefunden. Denjenigen, die sich nicht selbst versorgen können, droht nun jedoch die Obdachlosigkeit.

Der­zeit leben etwa 330.000 ukrai­ni­sche Kriegs­flücht­lin­ge mit tem­po­rä­rem Schutz­sta­tus in der Tsche­chi­schen Repu­blik. Damit befin­det sich das Land auf dem drit­ten Platz der Auf­nah­me­staa­ten hin­ter Deutsch­land und Polen, wo gegen­wär­tig jeweils etwa eine Mil­li­on geflüch­te­te Ukrainer*innen leben. Gemes­sen an der Bevöl­ke­rungs­grö­ße leben in Tsche­chi­en sogar mit Abstand die meis­ten ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten: Seit Beginn des Krie­ges ist die tsche­chi­sche Bevöl­ke­rung um gan­ze drei Pro­zent gewach­sen. Beson­ders deut­lich wird dies in Prag, wo etwa 80.000 Geflüch­te­te aus der Ukrai­ne leben.

Es gibt meh­re­re Grün­de dafür, dass sich vie­le Ukrainer*innen dazu ent­schie­den haben, nach Tsche­chi­en zu flüch­ten: Ers­tens leb­ten bereits vor Aus­bruch des Krie­ges etwa 200.000 Ukrainer*innen in Tsche­chi­en, die ihre Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen und Freun­de aus der Ukrai­ne zumin­dest in der Anfangs­zeit unter­stüt­zen konn­ten. Zwei­tens fällt es Ukrainer*innen in der Regel rela­tiv leicht, Tsche­chisch zu ler­nen, da es sich eben­falls um eine sla­wi­sche Spra­che han­delt. Drit­tens gibt es in Tsche­chi­en eine star­ke pro-ukrai­ni­sche Stim­mung, die viel aus­ge­präg­ter ist als bei­spiels­wei­se in der Slo­wa­kei. Hin­zu kommt vier­tens, dass Ukrainer*innen in Tsche­chi­en ver­hält­nis­mä­ßig gute Chan­cen haben, einen Arbeits­platz zu finden.

Auch etwas mehr als 1.000 nicht-ukrai­ni­sche Dritt­staats­an­ge­hö­ri­ge haben in Tsche­chi­en einen tem­po­rä­ren Schutz­sta­tus zuge­spro­chen bekom­men. Vor­aus­set­zung dafür ist, dass sie vor Kriegs­aus­bruch mit einer dau­er­haf­ten Auf­ent­halts­er­laub­nis in der Ukrai­ne gelebt haben und eine Rück­kehr in das Her­kunfts­land auf­grund einer dro­hen­den Gefahr unmög­lich ist.

Viele Ukrainer*innen haben Tschechien bereits wieder verlassen

In der Tsche­chi­schen Repu­blik galt der vor­über­ge­hen­de Schutz zunächst für ein Jahr und konn­te danach ver­län­gert wer­den. Dazu muss­te im Lau­fe des März 2023 online ein Ter­min für eine erneu­te per­sön­li­che Vor­spra­che ver­ein­bart wer­den. Im Zuge des­sen stell­te sich her­aus, dass vie­le der über 500.000 Ukrainer*innen, die bis dato in Tsche­chi­en tem­po­rä­ren Schutz erhal­ten hat­ten, das Land offen­sicht­lich bereits wie­der ver­las­sen hat­ten. Die Zahl der Neu­re­gis­trie­run­gen liegt der­zeit lan­des­weit nur noch bei etwa 10.000 pro Monat.

10.000

Neu­re­gis­trie­rung von Ukrainer*innen pro Monat

Ganz anders stell­te sich die Situa­ti­on kurz nach Kriegs­be­ginn im Febru­ar 2022 dar, als täg­lich bis zu 17.000 Ankünf­te regis­triert wur­den. In den ver­schie­de­nen Lan­des­tei­len wur­den regio­na­le Hilfs­zen­tren eröff­net, die nach wie vor geöff­net sind. Dort wer­den die Anträ­ge auf tem­po­rä­ren Schutz ent­ge­gen­ge­nom­men und direkt bear­bei­tet, die Antragsteller*innen bekom­men also in der Regel unver­züg­lich eine Auf­ent­halts­er­laub­nis aus­ge­hän­digt. Wei­ter­hin besteht in den Hilfs­zen­tren die Mög­lich­keit, eine Kran­ken­ver­si­che­rung abzu­schlie­ßen und im Bedarfs­fall finan­zi­el­le Unter­stüt­zung zu bean­tra­gen. Falls not­wen­dig, erfolgt zudem die Wei­ter­lei­tung in eine Sam­mel­un­ter­kunft. Anders als in Deutsch­land ist es durch die­sen prag­ma­ti­schen Ansatz mög­lich, die wesent­li­chen büro­kra­ti­schen Not­wen­dig­kei­ten direkt nach der Ankunft inner­halb kür­zes­ter Zeit und an nur einem Ort zu erledigen.

 Registrierung in Prag nur mit Mietvertrag

In dem Regis­trie­rungs­zen­trum in Prag kön­nen sich jedoch nur Ukrainer*innen regis­trie­ren, die bereits einen Miet­ver­trag für eine Woh­nung in der Stadt vor­le­gen kön­nen. Alle ande­ren wer­den bereits am Ein­gang mit dem Hin­weis weg­ge­schickt, dass sie sich in einem ande­ren Lan­des­teil regis­trie­ren las­sen müs­sen. Damit soll der Zuzug nach Prag begrenzt wer­den, des­sen Bevöl­ke­rung durch die aus der Ukrai­ne geflüch­te­ten Men­schen in nur einem Jahr um fast 10 Pro­zent gewach­sen ist.

Verweigerung der Freizügigkeit

Eine wei­te­re Ein­schrän­kung betrifft die­je­ni­gen Geflüch­te­ten, die bereits in einem ande­ren EU-Staat um Schutz ersucht haben. Denn in den Regis­trie­rungs­zen­tren fin­det zunächst ein Daten­ab­gleich mit der »Euro­päi­schen Regis­trie­rungs­platt­form« statt. Stellt sich dabei her­aus, dass bereits in einem ande­ren EU-Staat vor­über­ge­hen­der Schutz bean­tragt oder gewährt wur­de, ist eine erneu­te Antrag­stel­lung in Tsche­chi­en nicht mög­lich. In der Pra­xis bedeu­tet dies, dass die Betrof­fe­nen von den Regis­trie­rungs­zen­tren ein­fach weg­ge­schickt wer­den und nicht ein­mal ein Doku­ment erhal­ten, aus dem her­vor­geht, dass ihnen die Ertei­lung vor­über­ge­hen­den Schut­zes ver­wei­gert wur­de. Dies ist ein wesent­li­cher Grund dafür, dass es bis­her kaum Kla­gen gegen die Ein­schrän­kung der frei­en Wahl des Auf­nah­me­staa­tes gibt, auf die sich geflüch­te­te Ukrainer*innen in der EU eigent­lich beru­fen kön­nen. Hin­zu kommt, dass Per­so­nen, denen der tem­po­rä­re Schutz ver­wei­gert wur­de, in Tsche­chi­en zumin­dest gedul­det wer­den. Damit gehen zwar wesent­lich weni­ger Rech­te ein­her als mit dem tem­po­rä­ren Schutz, aber da de fac­to weder eine Abschie­bung in die Ukrai­ne noch in einen ande­ren EU-Staat zu befürch­ten steht, sind nur weni­ge bereit, den lan­gen und müh­sa­men Weg einer Kla­ge auf sich zu nehmen.

Image
Auf­nah­me aus dem Regis­trie­rungs­zen­trum in Prag. Foto: Marc Speer

Nach 150 Tagen droht der Rauswurf aus der Sammelunterkunft 

Laut einer Umfra­ge leb­ten im März 2023

  • 40 Pro­zent der ukrai­ni­schen Flücht­lin­ge in Tsche­chi­en in selbst ange­mie­te­ten Wohnungen.
  • 29 Pro­zent in Pri­vat­un­ter­künf­ten, die von der tsche­chi­schen Bevöl­ke­rung zur Ver­fü­gung gestellt wur­den, wovon wie­der­um sechs Pro­zent den Wohn­raum gemein­sam mit Tschech*innen bewohnten.
  • 23 Pro­zent in Sammelunterkünften.
  • 4 Pro­zent bei der ukrai­ni­schen Community.

Aus der Ukrai­ne geflüch­te­te Rom*nja wer­den bei der Ver­ga­be von Unter­künf­ten nicht sel­ten  dis­kri­mi­niert. In Brünn bei­spiels­wei­se boten die Behör­den im Früh­jahr letz­ten Jah­res als ein­zi­ge Unter­brin­gungs­mög­lich­keit ein ehe­ma­li­ges Abschie­be­ge­fäng­nis an. Auch wenn die Betrof­fe­nen dort nicht inhaf­tiert wor­den wären, lehn­ten vie­le eine der­art stig­ma­ti­sie­ren­de Behand­lung ab und muss­ten in der Fol­ge vor dem Bahn­hof kampieren.

Bis vor kur­zem leb­ten laut offi­zi­el­len Anga­ben noch 70.000 Ukrainer*innen in Sam­mel­un­ter­künf­ten. Zum 1. Juli 2023 sind jedoch Geset­zes­än­de­run­gen in Kraft getre­ten, nach denen eine kos­ten­lo­se Unter­brin­gung in einer Sam­mel­un­ter­kunft nur noch für maxi­mal 150 Tage mög­lich ist. Danach müs­sen die Unter­brin­gungs­kos­ten von den ukrai­ni­schen Flücht­lin­gen selbst getra­gen wer­den. Aus­ge­nom­men sind ledig­lich beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Grup­pen wie Min­der­jäh­ri­ge, Men­schen mit Behin­de­run­gen, Per­so­nen über 65 Jah­re und Erwach­se­ne, die ein Kind unter sechs Jah­ren betreu­en, wobei dies jedoch nur für eine Betreu­ungs­per­son gilt.

Einführung eines Registers für die private Aufnahme

Ände­run­gen gibt es auch beim Zuschuss für die pri­va­te Unter­brin­gung von ukrai­ni­schen Flücht­lin­gen: Bis­her wur­de der Zuschuss direkt an die Wohnungseigentümer*innen aus­ge­zahlt, wobei für jede auf­ge­nom­me­ne Per­son ein Pau­schal­be­trag von 125 Euro pro Monat, maxi­mal jedoch 500 Euro pro Monat aus­ge­zahlt wurden.

Seit dem 1. Juli 2023 wird die­se Unter­stüt­zung direkt an ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten aus­be­zahlt, die dafür einen Miet­ver­trag und Kon­to­aus­zü­ge vor­le­gen müs­sen. Außer­dem sieht die Neu­re­ge­lung vor, dass der/die Wohnungseigentümer*in die Woh­nung in einem spe­zi­el­len Regis­ter ein­tra­gen lässt. Nur dann kann der vol­le Wohn­kos­ten­zu­schuss in Höhe von nun­mehr 125 Euro pro Monat und Per­son (bei mehr als fünf Per­so­nen maxi­mal 625 Euro pro Monat) aus­ge­zahlt wer­den. Ist die Woh­nung nicht regis­triert, wer­den nur 80 Pro­zent der genann­ten Sät­ze aus­be­zahlt, wobei nur »rich­ti­ge« Woh­nun­gen und kei­ne Wohn­heim­plät­ze regis­triert wer­den können.

130 Euro monatlich für den Lebensunterhalt 

Zusätz­lich dazu erhal­ten bedürf­ti­ge Ukrainer*innen eine monat­li­che Bei­hil­fe zur Deckung des Lebens­un­ter­halts. Seit dem 1. Juli 2023 wer­den für Kin­der 145 Euro monat­lich aus­be­zahlt, Erwach­se­ne erhal­ten in den ers­ten fünf Mona­ten nach Zuer­ken­nung des tem­po­rä­ren Schut­zes einen monat­li­chen Satz in Höhe von 200 Euro. Ab dem sechs­ten Monat redu­ziert sich die­ser auf 130 Euro. Aus­nah­men sind für beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Grup­pen vor­ge­se­hen und Kin­der zwi­schen sechs und zehn Jah­ren bzw. Men­schen mit Behin­de­rung erhal­ten einen erhöh­ten Satz. In der Pra­xis bedeu­tet dies, dass eine allein­er­zie­hen­de Frau mit zwei Kin­dern über zehn Jah­ren nach einem hal­ben Jahr Auf­ent­halt in Tsche­chi­en knapp 800 Euro für Lebens­un­ter­halt und Mie­te erhält. Wei­te­re Leis­tun­gen, wie etwa Kin­der­geld, wer­den nicht ausbezahlt.

Neu ist auch, dass seit dem 1. Juli 2023 das gesam­te Arbeits­ein­kom­men sowie sons­ti­ge Erspar­nis­se auch auf den Miet­zu­schuss ange­rech­net wer­den, d.h. der aus­ge­zahl­te Gesamt­be­trag redu­ziert sich ent­spre­chend. Tsche­chi­sche NGOs befürch­ten daher, dass vor allem Ukrainer*innen mit schlecht bezahl­ten Jobs sich die Mie­te nicht mehr leis­ten kön­nen und in infor­mel­le Arbeits­ver­hält­nis­se gedrängt werden.

Über die Hälfte der Geflüchteten arbeitet

In Tsche­chi­en sind der­zeit rund 60 Pro­zent der erwerbs­fä­hi­gen ukrai­ni­schen Flücht­lin­ge erwerbs­tä­tig. Damit ist die Beschäf­ti­gungs­quo­te in Tsche­chi­en deut­lich höher als bei­spiels­wei­se in Deutsch­land, wo die­se bei gera­de ein­mal 18 Pro­zent liegt. Im Ver­gleich zu ande­ren ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten (mit Aus­nah­me Polens) besu­chen rela­tiv vie­le ukrai­ni­sche Kin­der eine tsche­chi­sche Schu­le oder einen tsche­chi­schen Kin­der­gar­ten, was ins­be­son­de­re für Allein­er­zie­hen­de oft eine zwin­gen­de Vor­aus­set­zung für die Auf­nah­me einer Erwerbs­tä­tig­keit ist. Anfang die­ses Jah­res waren nach offi­zi­el­len Anga­ben mehr als 50.000 min­der­jäh­ri­ge Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne in tsche­chi­schen Bil­dungs­ein­rich­tun­gen eingeschrieben.

60 %

der ukrai­ni­schen Flücht­lin­ge in Tsche­chi­en erwerbstätig

Aller­dings sind die von Ukrainer*innen in Tsche­chi­en aus­ge­üb­ten Jobs oft weit­aus unsi­che­rer und wesent­lich schlech­ter bezahlt als die von Tschech*innen: Inner­halb eines Zeit­raums von drei Mona­ten wech­selt oder ver­liert jede*r drit­te beschäf­tig­te Ukrainer*in den Arbeits­platz. Und etwa die Hälf­te der geflüch­te­ten Ukrainer*innen ver­rich­tet trotz ihrer über­durch­schnitt­lich hohen Qua­li­fi­ka­ti­on ledig­lich Hilfs­ar­bei­ten. Grün­de hier­für sind ins­be­son­de­re unzu­rei­chen­de Sprach­kennt­nis­se und die Nicht­an­er­ken­nung von Abschlüs­sen und Zeug­nis­sen. Dies hat zur Fol­ge, dass etwa drei Vier­tel der beschäf­tig­ten Ukrainer*innen für einen Stun­den­lohn von weni­ger als 6,30 Euro arbei­ten. Dies trägt maß­geb­lich dazu bei, dass über 50 Pro­zent der ukrai­ni­schen Haus­hal­te in Tsche­chi­en von Ein­kom­mens­ar­mut betrof­fen sind. In der tsche­chi­schen Bevöl­ke­rung sind es dage­gen nur 10 Prozent.

Erfolgsmodell mit Fragezeichen

Ein­ein­halb Jah­re nach Aus­bruch des Krie­ges in der Ukrai­ne zeigt sich, dass die Inte­gra­ti­on der ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten in der Tsche­chi­schen Repu­blik ins­ge­samt rela­tiv gut gelun­gen ist. Aus­schlag­ge­bend dafür sind zum einen die Offen­heit der Gesell­schaft gegen­über den ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten und zum ande­ren die Auf­nah­me­fä­hig­keit des Arbeits­mark­tes. Aller­dings sind die Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se oft pre­kär, was in Kom­bi­na­ti­on mit den kürz­lich ver­schärf­ten Unter­brin­gungs­be­din­gun­gen dazu führt, dass vie­le Geflüch­te­te nun von Obdach­lo­sig­keit bedroht sind. Dar­un­ter sind beson­ders vie­le Rom*nja, die bereits vor der Geset­zes­ver­schär­fung mas­siv dis­kri­mi­niert wur­den. Es ist daher wich­tig, die Situa­ti­on in Tsche­chi­en wei­ter­hin auf­merk­sam zu verfolgen.

Marc Speer (bordermonitoring.eu) 

Marc Speer berich­tet im Rah­men eines gemein­sa­men Pro­jekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situa­ti­on von Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne in Osteuropa.