17.07.2023
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Vor allem die extrem rechte italienische Ministerpräsident Meloni freut sich sichtlich über das Abkommen. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Tunisian Presidency

Tunesien und die EU haben eine Absichtserklärung zur Fluchtabwehr unterzeichnet. Und mit keinem Wort die rechtswidrigen Massenabschiebungen durch tunesische Behörden und die massive Gewalt gegen Flüchtlinge und Migrant*innen erwähnt. Die EU zeigt erneut, dass sie bereit ist, wegzusehen, solange weniger Flüchtlinge in Europa ankommen.

Am Sonn­tag, den 16. Juli haben die Euro­päi­sche Uni­on und Tune­si­en eine Absichts­er­klä­rung zur Ver­hin­de­rung von »irre­gu­lä­rer Migra­ti­on« über das Mit­tel­meer unter­zeich­net. Die rechts­wid­ri­gen Mas­sen­ab­schie­bun­gen durch tune­si­sche Behör­den und die mas­si­ve Gewalt gegen Flücht­lin­ge und Migrant*innen wur­de dabei öffent­lich mit kei­nem Wort erwähnt. Mit dem Deal unter­stützt die EU das men­schen­rechts­wid­ri­ge Han­deln der tune­si­schen Regie­rung, das in den letz­ten Tagen meh­re­re Todes­op­fer gefor­dert hat, mit knapp einer Mil­li­ar­de Euro.

Altbekannte Instrumente des EU-Abschottungsregimes

Die Inhal­te des unter­zeich­ne­ten Memo­ran­dums of Under­stan­ding blei­ben recht vage: Migra­ti­on wird als eine von fünf Säu­len des Pakets genannt, für die zunächst 105 Mil­lio­nen Euro zur Ver­fü­gung gestellt wer­den. Hier setzt der Deal pri­mär auf die »Bekämp­fung der irre­gu­lä­ren Migra­ti­on«, eine ver­stärk­te »ope­ra­ti­ve Part­ner­schaft gegen Men­schen­schmug­gel und Men­schen­han­del«, die »Ver­bes­se­rung der Koor­di­nie­rung von Such- und Ret­tungs­ak­tio­nen auf See«, eine »wirk­sa­me Grenz­ver­wal­tung« sowie auf die »Ent­wick­lung eines Sys­tems zur Iden­ti­fi­zie­rung und Rück­füh­rung irre­gu­lä­rer Migrant*innen« aus Tune­si­en in ihre Her­kunfts­län­der. Von lega­len Flucht­we­gen für Schutz­su­chen­de im tune­si­schen Tran­sit ist hin­ge­gen nir­gend­wo die Rede.

Die bei­den Par­tei­en sichern sich zudem gegen­sei­ti­ge Unter­stüt­zung bei der »Rück­kehr und Rück­über­nah­me von tune­si­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen, die sich ille­gal in der EU auf­hal­ten« sowie bei deren »sozio­öko­no­mi­schen Wie­der­ein­glie­de­rung in Tune­si­en« zu. Zudem sol­len lega­le Migra­ti­ons­we­ge geför­dert wer­den, etwa durch Visa­er­leich­te­run­gen oder soge­nann­te »Talent­part­ner­schaf­ten«.

Ins­ge­samt lässt sich das Paket als ein Sam­mel­su­ri­um alt­be­kann­ter Instru­men­te des EU-Abschot­tungs­re­gimes lesen. Unter dem Deck­man­tel des Ret­tens von Men­schen­le­ben wer­den die Grenz­aus­la­ge­rung und die Ver­hin­de­rung von Flucht und Migra­ti­on vorangetrieben.

Die Euro­päi­sche Uni­on sag­te dar­über hin­aus zu, sich um eine »ange­mes­se­ne zusätz­li­che finan­zi­el­le Unter­stüt­zung ins­be­son­de­re für Anschaf­fun­gen, Aus­bil­dung und tech­ni­sche Unter­stüt­zung, die für eine wei­te­re Ver­bes­se­rung des tune­si­schen Grenz­schut­zes erfor­der­lich sind«, zu bemühen.

Tune­si­en bekräf­tigt in dem Memo­ran­dum erneut, kein Land zu sein, in dem sich Migrant*innen mit irre­gu­lä­rem Sta­tus nie­der­las­sen sol­len. Es wie­der­holt auch sei­ne in der Ver­gan­gen­heit bereits geäu­ßer­te Posi­ti­on, nur sei­ne eige­nen Gren­zen zu bewa­chen. Es wer­de kein Auf­nah­me­zen­trum für aus Euro­pa abge­scho­be­ne Migrant*innen sein. Gemeint sind damit vor allem aus euro­päi­schen Staa­ten abge­scho­be­ne Flücht­lin­ge nicht-tune­si­scher Herkunft.

Ins­ge­samt lässt sich das Paket als ein Sam­mel­su­ri­um alt­be­kann­ter Instru­men­te des EU-Abschot­tungs­re­gimes lesen. Unter dem Deck­man­tel des Ret­tens von Men­schen­le­ben wer­den die Grenz­aus­la­ge­rung und die Ver­hin­de­rung von Flucht und Migra­ti­on vor­an­ge­trie­ben. Die EU ent­le­digt sich ihrer Ver­ant­wor­tung, indem sie Dik­ta­to­ren zu Tür­ste­hern Euro­pas macht.

Bei der Unter­zeich­nung in Tunis waren neben EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en erneut auch die Regierungschef*innen der Nie­der­lan­de und Ita­li­ens anwe­send. Die rechts­extre­me ita­lie­ni­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Gior­gia Melo­ni kün­dig­te an, sie hof­fe auf wei­te­re ähn­li­che Abkom­men mit ande­ren nord­afri­ka­ni­schen Län­dern. Die deut­sche Bun­des­re­gie­rung gra­tu­lier­te in Per­son des Son­der­be­voll­mäch­tig­ten für Migra­ti­ons­ab­kom­men, Joa­chim Stamp, zu die­sem »wich­ti­gen Schritt«.

Kein Hinderungsgrund: Massenabschiebungen in die Wüste

Zeit­gleich zu der Unter­zeich­nung der Absichts­er­klä­rung »in a Team Euro­pe spi­rit« in Tunis ste­cken nach den Mas­sen­ab­schie­bun­gen durch tune­si­sche Behör­den in den letz­ten Wochen wei­ter­hin Schutz­su­chen­den bei über 40 Grad in der Wüs­te fest. Es ist unklar, um wie vie­le Men­schen es sich han­delt. Fest steht jedoch, dass nicht alle Men­schen zurück in die Städ­te gebracht wurden.

80 Schutz­su­chen­de, die von tune­si­schen Behör­den ohne Was­ser und Nah­rung in der Wüs­te aus­ge­setzt wor­den waren, wur­den nun von liby­schen Grenz­be­am­ten auf­ge­grif­fen. Unter den Men­schen befin­den sich auch Frau­en, Kin­der und Babys. Aktivist*innen von Alarm Pho­ne stan­den in den letz­ten Tagen eben­falls Kon­takt mit Men­schen, die an der tune­si­schen Gren­ze in der Wüs­te aus­ge­setzt wor­den waren. Sie geben an, von liby­schen Streif­kräf­ten miss­han­delt wor­den zu sein. In den letz­ten Tagen gab es immer wie­der Video­bot­schaf­ten von Betrof­fe­nen von der libysch-tune­si­schen Gren­ze (zum Bei­spiel hier und hier).

Der EU-Tune­si­en-Deal wird nicht zu weni­ger, son­dern zu mehr Toten füh­ren, da Flucht­rou­ten sich ver­schie­ben und noch gefähr­li­cher werden.

1.895

Men­schen ertran­ken die­ses Jahr auf der Flucht im Mit­tel­meer. Mindestens.

Die EU-Kom­mis­si­on gibt an, mit dem EU-Tune­si­en-Deal wei­te­re Tote auf dem Mit­tel­meer ver­hin­dern zu wol­len. Dass Schutz­su­chen­de statt­des­sen in der Saha­ra umkom­men, scheint sie jedoch nicht zu stören.

Laut UNHCR sind in die­sem Jahr bis­her 76.325 Men­schen mit Boo­ten in Ita­li­en ange­lan­det, im Vor­jah­res­zeit­raum waren es rund 31.900. Mehr als die Hälf­te der Men­schen, näm­lich 44.151, kamen aus Tune­si­en. Aus Liby­en leg­ten 28.842 Men­schen ab. Min­des­tens 1.895 Men­schen ertran­ken allein die­ses Jahr bei dem Ver­such, über das Mit­tel­meer nach Euro­pa zu kom­men. Die Dun­kel­zif­fer ist hoch. Zu den Men­schen, die jedes Jahr in der Saha­ra ster­ben, gibt es kei­ne belast­ba­ren Zah­len, man geht aber sogar von noch einer höhe­ren Zahl an Toten aus, als im Mittelmeer.

Mit der gemein­sa­men Absichts­er­klä­rung gibt die EU der bru­ta­len Flücht­lings­po­li­tik des auto­kra­ti­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Kaïs Saï­ed bewusst Rücken­de­ckung. Der EU-Tune­si­en-Deal wird nicht zu weni­ger, son­dern zu mehr Toten füh­ren, da Flucht­rou­ten sich ver­schie­ben und noch gefähr­li­cher wer­den. Die EU zeigt damit erneut, dass sie bereit ist, jeden men­schen­recht­li­chen Preis zu zah­len, damit weni­ger Flücht­lin­ge in Euro­pa ankommen.

(hk)