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Erst stirbt das Recht, dann der Mensch: 30 Jahre nach Grundgesetzänderung & Solingen
Am 26. Mai 1993 beschneidet der Bundestag das Asylrecht im Grundgesetz. Nur drei Tage später brennt in Solingen das Haus von Familie Genç. Beide Ereignisse können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Ein Kommentar von Heiko Kauffmann, Mitgründer und viele Jahre lang Sprecher von PRO ASYL.
Nur wenige Ereignisse in der jüngeren Geschichte unseres Landes haben Gesellschaft und Politik so aufgewühlt und tief gespalten. Wenn auch heute noch nach Gründen und Erklärungen für das Entstehen der AfD, für die Verbreitung von rassistischem und rechtsextremistischem Gedankengut und für das Versagen der Politik und der deutschen Behörden im Zusammenhang mit der Aufklärung der NSU-Mordserie sowie rechter Gewalt in Halle, Hanau und anderenorts gesucht wird, dann müssen diese Daten, der 26. Mai 1993 mit der Zerstörung des Asyl-Grundrechts und der 29. Mai 1993 mit den fünf Toten und 14 Verletzten des Solinger Anschlags in eine objektive Aufarbeitung und ehrliche Analyse mit einbezogen werden.
Lange vor diesen Ereignissen hatte PRO ASYL vor dem »Buhlen um rechts« und der Gefahr gewarnt, dass die Änderung beim Grundrecht auf Asyl in der rechten Szene als »Signal für eine ethnische Säuberung Deutschlands« nach dem Slogan »Deutschland den Deutschen« begrüßt und verstanden werden würde.
Hetze führt zu Gewalt
Längst hatte die Mehrheit der 1993 noch großen Volksparteien CDU und SPD – spätestens nach der Einigung auf den fatalen »Asylkompromiss« vom Dezember 1992 – dem permanenten Trommelfeuer politischer und medialer Stimmungsmache gegen Flüchtlinge nachgegeben. Selten wird der Zusammenhang zwischen institutionellem Rassismus und individueller Gewaltanwendung aber so deutlich wie beim Mord- und Brandanschlag in Solingen; kaum ein Ereignis zeigt auf, wie dünn der Firnis der Zivilisation – zwischen Rechtsstaatlichkeit und Barbarei – noch immer ist: dann nämlich, wenn universell gültige Menschenrechte für eine bestimmte Gruppe von Menschen in einer Gesellschaft geschwächt oder außer Kraft gesetzt werden.
Seit der Gründung von PRO ASYL hatten wir uns mit Flüchtlingsräten und ‑initiativen, mit Kirchen, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und großen Teilen der Zivilgesellschaft für die Rechte von Flüchtlingen und den Erhalt des unversehrten Grundrechts auf Asyl in Art.16 GG und gegen das Einpeitschen und die Hetze rechter Medien und Politiker*innen sowie gegen den zunehmenden Rassismus in der Gesellschaft eingesetzt. Welch‘ langen Weg wir noch vor uns haben würden, wurde uns unmittelbar nach dem 26. Mai, diesem aufwühlenden Tag der Zerstörung des Asyl-Grundrechts in Bonn, an dem wir noch Grundgesetz-Fibeln und ‑Flyer zu Tausenden auf der Demonstration verteilt hatten, schmerzhaft bewusst.
Nach dem Beschluss: Eskalation statt Beruhigung
Auch nach dem verhängnisvollen Beschluss des Bundestages: kein Ende der Hetze, kein Ende der Gewalt, keine »Beruhigung« der Lage, wie von der Politik versprochen, stattdessen: die Eskalation des Terrors. Nur drei Tage nach dem Bonner Beschluss im nahegelegenen Solingen.
Mit der Instrumentalisierung des Asylrechts zulasten von Flüchtlingen und der Zerschlagung des Art. 16 GG sandte die Politik ein fatales Signal an die rechte Szene aus. Der Zusammenhang zwischen medialer Mobilisierung, politischen Entscheidungen und rechtsradikaler Gewalt wurde (und wird auch heute noch) immer weitgehend verdrängt oder beschönigt. Dabei machen der Diskurs und die erbitterte Auseinandersetzung um den Erhalt bzw. die Abschaffung des Asyl-Grundrechts die lange Traditionslinie und Kontinuität politischer und medialer Hetze und Rhetorik, die den Nährboden für Rassismus bilden können, deutlich.
»Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.« (Friedrich Schiller)
Deshalb ist – im Hinblick auf Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, aber auch im Hinblick auf die NSU-Morde oder die Taten von Halle und Hanau nicht nur nach individuellen Gründen und Ursachen von Gewalt und Verantwortung zu fragen, sondern immer auch nach den staatlichen Anteilen daran. Diese politische Verantwortung an der Entstehung und Verbreitung von Rassismus und Gewalt in der Gesellschaft ist weder politisch noch juristisch aufgearbeitet und wird auch heute noch von der Politik weitgehend ausgeblendet.
»Diese politische Verantwortung an der Entstehung und Verbreitung von Rassismus und Gewalt in der Gesellschaft ist weder politisch noch juristisch aufgearbeitet und wird auch heute noch von der Politik weitgehend ausgeblendet.«
Kein Satz bringt diesen Zusammenhang klarer und unmittelbarer zum Ausdruck als die Worte, die ich am Pfingstmontag 1993 auf dem Weg zum Haus der Familie Genç an der Unteren Wernerstraße in Solingen entlang einer Mauer aufgesprüht fand und die sich – mit dem Brandgeruch und dem Bild der Ruine des Hauses der Familie – für immer in mein Gedächtnis eingebrannt haben: ERST STIRBT DAS RECHT – DANN DER MENSCH!
Die Ereignisse aus dem Mai 1993 als ständige Mahnung
Die Folgen der Politik institutioneller Feindseligkeit und Ausgrenzung von Geflüchteten wirken bis heute nach. Wir finden sie nicht nur in verbrecherischen Morden und Anschlägen und in Diskriminierungen und alltäglichen Rassismus-Erfahrungen von Geflüchteten: Die Folgen dieser aktiv betriebenen und geduldeten Herabsetzung von Menschen zeigen sich ebenso in der permanenten »Auslagerung« und Abschiebung von Flüchtlingen oder im Verdrängen und der beschämenden, demaskierenden Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit gegenüber dem tausendfachen Leiden und Sterben von Menschen im Mittelmeer und an den Außengrenzen Europas.
Auch die seit Jahrzehnten national und auf europäischer Ebene vorangetriebenen Pläne, Beschlüsse und Praktiken der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes vor die Tore Europas – wie jüngst Faesers skandalöser Vorstoß – liegen in der Kontinuität dieser rassistisch unterfütterten Politik.
Die Entscheidung des Bundestages vom 26. Mai 1993 und drei Tage später, an Pfingsten 1993, der Mord- und Brandanschlag von Solingen, wirken bis heute nach: als Menetekel, »Zeichen an der Wand« und ständige Mahnung. Menschenrechte und Menschenwürde gelten für alle!
Die Zivilgesellschaft ist heute stärker denn je gefordert, gegen Rassismus, gegen alle prä- faschistischen Tendenzen einzuschreiten und sich mit aller Kraft für eine offene, freie und solidarische Gesellschaft einzusetzen. Menschenrechte und Humanität sind unteilbar und nicht verhandelbar.
Heiko Kauffmann, Mai 2023