24.04.2023
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Zeichnung: Marén Gröschel

Derya* ist eine junge Frau aus dem Nordirak. Als sie mit ihrem Mann im Oktober 2021 Deutschland erreicht, ist sie schwanger, geschwächt und traumatisiert. Sieben Wochen nach ihrer Ankunft verliert sie ihr Kind. Deryas Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die mangelnde Identifizierung und Versorgung vulnerabler Menschen im deutschen Aufnahmesystem.

Die 22-jäh­ri­ge Derya* kommt im Herbst 2021 zusam­men mit ihrem Mann Rojhan* in Nord­rhein-West­fa­len an. Von ihren Erleb­nis­sen haben die bei­den PRO ASYL im Inter­view** berich­tet. Sie sind vor per­sön­li­chen Atta­cken aus dem Nord­irak geflüch­tet. In NRW lebt Deryas Tan­te mit ihrer Fami­lie. Seit Jah­ren pfle­gen die Frau­en ein inten­si­ves Ver­hält­nis per Han­dy, und Derya sucht nun, in Deutsch­land, die Nähe der ver­trau­ten Ver­wand­ten. Die Flucht gelang ihnen über das bela­rus­sisch-pol­ni­sche Grenz­ge­biet. Bis sie es nach Deutsch­land schaff­ten, muss­ten sie prü­geln­de, kor­rup­te Sol­da­ten erle­ben und einen anstren­gen­den Fuß­marsch durch den nächt­li­chen Wald ohne Essen und Trin­ken durch­ste­hen, anschlie­ßend eine rund 13-stün­di­ge Fahrt in einem über­füll­ten, dunk­len Trans­por­ter, in dem sie Angst hat­ten, zu ersti­cken. Als sie ankom­men, ist die schwan­ge­re Derya am Ende ihrer Kräf­te und in gro­ßer Sor­ge um ihr Kind. Die Ankunft in Deutsch­land ist hin­ge­gen nicht das gute Ende einer Flucht, son­dern eine Fort­set­zung der Zumutungen.

Ankunft im System

»Wir waren zuerst drei, vier Stun­den bei der Asyl­stel­le, wegen der Daten und Fin­ger­ab­drü­cke. Mein Mann hat gleich gesagt: Mei­ner Frau geht’s nicht gut, sie fühlt sich sehr schwach und elend, sie muss behan­delt wer­den. Sie ist schwan­ger und ver­liert ein biss­chen Blut. Da kam jemand zu uns. Ob das eine Ärz­tin war, weiß ich nicht. Wir spra­chen in einer Ecke des War­te­raums. Ich konn­te mich nicht gut aus­drü­cken, weil der Dol­met­scher ein Mann war und weil er zwar Kur­disch sprach, aber nicht unse­ren Dia­lekt. Er hat irgend­wann gesagt, ihr wer­det wei­ter­ge­lei­tet nach Bie­le­feld, dort wirst du behandelt.«

So schil­dert Derya den ers­ten Behör­den­kon­takt. Derya und Rojhan wer­den vor­läu­fig in der Erst­auf­nah­me in Nord­rhein-West­fa­len unter­ge­bracht. Für eine Woche, heißt es, am Ende sind es neun Tage. Zwi­schen­durch führt ein – irr­tüm­lich als posi­tiv erkann­ter – Coro­na­test zu einer drei­tä­gi­gen Zim­mer-Iso­la­ti­on. Derya, die unter star­ker Übel­keit lei­det, erbricht das Fer­tig­es­sen, das ihr in Sty­ro­por-Ver­pa­ckung gebracht wird, isst und trinkt danach kaum. Eine ärzt­li­che Unter­su­chung bleibt in die­sen ers­ten Tagen aus. »In Bie­le­feld habe ich kei­nen Arzt gese­hen. Nie­mand hat gefragt, wie es mir geht.«

Derya ist zu die­sem Zeit­punkt einem Bun­des­land noch nicht ver­bind­lich »zuge­wie­sen« – mit der Fol­ge, dass sich offen­bar nie­mand dafür ver­ant­wort­lich fühlt, fest­zu­stel­len, ob sie akut Unter­stüt­zung braucht. Dabei sind die Bun­des­län­der ver­pflich­tet, bei der Auf­nah­me von Geflüch­te­ten »beson­de­re Bedürf­nis­se« zu erken­nen und zu berück­sich­ti­gen. Dies gibt EU-Auf­nah­me­richt­li­nie (2013/33/EU) in Arti­kel 22ff. vor. Schwan­ge­re Frau­en gel­ten nach Arti­kel 21 der Richt­li­nie eben­so als »Per­so­nen mit beson­de­ren Bedürf­nis­sen« wie trau­ma­ti­sier­te oder von Gewalt betrof­fe­ne Men­schen und ande­re. Doch in der Pra­xis fin­det häu­fig kei­ne sys­te­ma­ti­sche Erfas­sung der beson­de­ren Bedürf­nis­se Geflüch­te­ter statt.

Dage­gen küm­mert sich Deryas Tan­te rund um die Uhr. Sie reist an und holt ihre Ver­wand­ten stun­den­wei­se in ihre klei­ne Woh­nung, spricht immer wie­der mit den Behör­den. Sie bit­tet dar­um, man möge ihre Nich­te und deren Mann in der Nähe unter­brin­gen. Die Tan­te zeigt ihren deut­schen Pass vor, sagt, sie kön­ne über­set­zen und sich um die Nich­te küm­mern, die schwan­ger, krank und nerv­lich am Ende sei. Aber so funk­tio­niert die »Ver­tei­lung« von Asyl­su­chen­den auf die Bun­des­län­der nicht. Ein Lan­des­be­diens­te­ter gibt die Daten ins Com­pu­ter­pro­gramm »EASY« ein. Dort sind das Her­kunfts­land und die aktu­el­len Auf­nah­me­quo­ten der Län­der wich­tig. Die Wün­sche der Betrof­fe­nen dage­gen, der aktu­el­le Auf­ent­halts­ort, Ver­sor­gung oder ver­wandt­schaft­li­che Bezü­ge spie­len kei­ne Rol­le. Per Com­pu­ter­klick wer­den Derya und ihr Mann dem Land Hes­sen zuge­wie­sen. Die bei­den sol­len in einen Bus nach Gie­ßen steigen.

Aber so funk­tio­niert die »Ver­tei­lung« von Asyl­su­chen­den auf die Bun­des­län­der nicht. […] Die Wün­sche der Betrof­fe­nen dage­gen, der aktu­el­le Auf­ent­halts­ort, Ver­sor­gung oder ver­wandt­schaft­li­che Bezü­ge spie­len kei­ne Rolle.

Die Aufnahmeeinrichtung ist ein Schock

Die hes­si­sche Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung in Gie­ßen ist im Herbst 2021 völ­lig über­füllt. Derya und Rojhan sind scho­ckiert:  »In unse­rem Schlaf­saal waren noch zwei Fami­li­en mit Kin­dern. Das Licht funk­tio­nier­te nicht, es gab kei­ne Stüh­le, es stank wegen der vie­len Leu­te in dem Raum, wir beka­men anfangs nicht ein­mal ein Kopf­kis­sen. »Das kommt noch«, sag­te man uns. Da haben wir unse­re Jacken zusam­men­ge­rollt und dar­auf geschlafen.«

Auch in Gie­ßen bit­ten Derya und Rojhan umge­hend um Hil­fe: »… Wir [haben] der Sozi­al­be­ra­te­rin gleich gesagt, dass ich schwan­ger bin und es mir gar nicht gut geht. Sie sag­te, erst ein­mal neh­men wir alle Daten auf, Sie bekom­men einen Aus­weis, es dau­ert, bit­te war­ten Sie. Es gebe einen medi­zi­ni­schen Dienst auf dem Gelän­de, irgend­wann wür­de dort mein Name und ein Ter­min ausgehängt.«

Das Asyl­ge­setz sieht eine Gesund­heits­un­ter­su­chung von Asyl­su­chen­den vor – Ziel­rich­tung dabei ist aber weni­ger die Für­sor­ge für die geflüch­te­ten Men­schen als viel­mehr die öffent­li­che Infek­ti­ons­kon­trol­le. In § 62 Abs. 1 AsylG heißt es:

»Aus­län­der, die in einer Auf­nah­me­ein­rich­tung oder Gemein­schafts­un­ter­kunft zu woh­nen haben, sind ver­pflich­tet, eine ärzt­li­che Unter­su­chung auf über­trag­ba­re Krank­hei­ten ein­schließ­lich einer Rönt­gen­auf­nah­me der Atmungs­or­ga­ne zu dulden.«

Ein Anspruch auf Kran­ken­be­hand­lung besteht nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz, ins­be­son­de­re auch auf Vor­sor­ge­un­ter­su­chun­gen für Schwan­ge­re. Das Schutz­kon­zept der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung des Lan­des Hes­sen legt aus­drück­lich fest: »Frau­en, ins­be­son­de­re Schwan­ge­re und Allein­rei­sen­de, mit und ohne Kin­der, wer­den in der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung beson­ders geschützt« und zählt diver­se Maß­nah­men von sepa­rier­ter Unter­brin­gung, sen­si­bi­li­sier­ten Ansprech­part­ne­rin­nen und ande­re Ange­bo­te auf (S.6). Für die Iden­ti­fi­zie­rung kom­me der »medi­zi­ni­schen Unter­su­chungs- und Ver­sor­gungs­pas­sa­ge« beson­de­re Bedeu­tung zu: »Im Rah­men der Erst­un­ter­su­chung iden­ti­fi­ziert das medi­zi­ni­sche Per­so­nal schutz­be­dürf­ti­ge Per­so­nen, erkennt not­wen­di­ge indi­vi­du­el­le Bedar­fe und stellt eine bedarfs­ge­rech­te Unter­stüt­zung sicher.« (S.12)  Der deut­li­che Hin­weis von Derya nach ihrer Ankunft reich­te aller­dings nicht aus, um schnel­le medi­zi­ni­sche Hil­fe zu erhalten.

Am Mit­tag des zwei­ten Tages in Gie­ßen bricht Derya zusam­men. Sie wird mit einem Ret­tungs­wa­gen ins Kran­ken­haus gebracht. Es ist der 12. Tag ihres Auf­ent­halts in Deutsch­land. Bis zu die­sem Zeit­punkt hat kei­ne medi­zi­ni­sche Erst­un­ter­su­chung, geschwei­ge denn eine beson­de­re Erken­nung und Behand­lung ihrer Vul­nerabi­li­tät stattgefunden.

»Nur hinter dem Zaun behandeln sie uns schlecht«

Rojhan beschreibt, wie sie sich in der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung füh­len: »Außer­halb der Camps sind die Men­schen anders. Nur hin­ter dem Zaun behan­deln sie uns schlecht.«  Das Kran­ken­haus ist im Ver­gleich zur Auf­nah­me­ein­rich­tung eine Wohl­tat für Derya: »Im Kran­ken­haus fühl­te ich mich fast wie eine VIP. Ich lag in einem rich­ti­gen Bett, ich wur­de dort auch sehr gut behan­delt. Da hab ich gedacht, okay, hier bin ich end­lich in Deutschland.« 

 Die Uni­kli­nik dia­gnos­ti­ziert unter ande­rem eine bak­te­ri­el­le Infek­ti­on und eine Post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung.  Fünf Tage bleibt sie im Kran­ken­haus, dann wird Derya ent­las­sen und muss zurück in die Auf­nah­me­ein­rich­tung. Mit Mühe gelingt es Rojhan, aus dem kata­stro­pha­len Schlaf­saal her­aus »ver­legt« zu wer­den: Das klei­ne Zim­mer für Rojhan und Derya ist nicht abschließ­bar. Es liegt im vier­ten Stock, einen Auf­zug gibt es nicht.

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Zeich­nung: Marén Gröschel

Die Fehlgeburt

Weni­ge Wochen nach ihrer Rück­kehr aus dem Kran­ken­haus erlei­det Derya in der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung unter dra­ma­ti­schen Umstän­den eine Fehlgeburt.

»… dann [ist] die Frucht­bla­se geplatzt. Das war furcht­bar. Ich hat­te mei­ne Tan­te am Tele­fon, sie schrie, ich sol­le mich hin­le­gen, nicht auf­ste­hen, auf den Kran­ken­wa­gen war­ten. Mein Mann ist run­ter aus unse­rem Zim­mer aus dem vier­ten Stock, um Hil­fe zu holen. Aber der Secu­ri­ty-Mann sag­te erst, er dür­fe kei­nen Not­arzt­wa­gen rufen. Er hat dann erst sei­nen Chef gefragt und dann den medi­zi­ni­schen Dienst geru­fen. Sie kamen zu zweit. Ich lag auf dem Bett und hat­te star­ke Schmer­zen, Blut und Was­ser lief an mir her­un­ter. Sie haben zu mir gesagt: Gehen Sie die Trep­pen run­ter, sie müs­sen erst zur Unter­su­chung zu uns. Mei­ne Tan­te sag­te immer­zu, bleib lie­gen. Ich schrie die Leu­te an: Ich kann nicht gehen, ich kann nicht, ich spü­re das Baby schon.« 

Deryas Tan­te weiß, dass Schwan­ge­ren bei vor­zei­ti­gem Bla­sen­sprung drin­gend zu einem Trans­port im Lie­gen gera­ten wird, doch ihre ver­zwei­fel­ten Ver­su­che, über das Tele­fon Ein­fluss zu neh­men, schei­tern. Auch die Bit­te Rojhans um eine Tra­ge ist vergeblich.

»Mein Mann hat mich dann gestützt und wir sind vier Stock­wer­ke run­ter, ich habe geblu­tet und konn­te kaum lau­fen, das hal­be Haus hat zuge­se­hen. Unten soll­te ich in ein Auto ein­stei­gen, obwohl ich die Bei­ne vor Schmer­zen nicht schlie­ßen konn­te, so wur­de ich dann zum medi­zi­ni­schen Dienst gefah­ren. Erst dort haben sie mich unter­sucht und dann den Not­arzt­wa­gen gerufen. 

Im Kran­ken­haus kam ich sofort in den OP. Danach haben sie mir das tote Baby auf den Bauch gelegt. Es war ein gro­ßer Schock. Mein Mann hat geweint am Tele­fon. Erst nach vier Stun­den durf­te er zu mir kom­men. Es war ein Jun­ge. Er hat schon alles gehabt, Kopf, Hän­de, Füße, Ohren.«

Nach der Fehlgeburt: Zurück ins Lager

Derya und Rojhan dür­fen nach dem Tod ihres Kin­des die Tan­te in NRW besu­chen und ent­flie­hen so für eini­ge Tage der Auf­nah­me­ein­rich­tung. Dann müs­sen sie zurück. Bei PRO ASYL mel­det sich eine loka­le Unter­stüt­ze­rin von Derya. Eine Rechts­an­wäl­tin wird beauf­tragt. Sie stellt wegen der Vor­komm­nis­se bei der Fehl­ge­burt eine Straf­an­zei­ge, das Ermitt­lungs­ver­fah­ren ist der­zeit noch anhän­gig. Der Insti­tu­ti­on ein kon­kre­tes medi­zi­ni­sches Fehl­ver­hal­ten nach­zu­wei­sen, ist schwie­rig.  Die Rechts­an­wäl­tin über­nimmt auch die Betreu­ung im Asylverfahren.

»Ich war mehr­mals beim medi­zi­ni­schen Dienst, die Ärz­tin habe ich kein ein­zi­ges Mal zu Gesicht bekommen.«

Derya*

Ein paar Mal geht Derya dann noch zum medi­zi­ni­schen Dienst, um dort die vom Kran­ken­haus ver­schrie­be­nen Medi­ka­men­te zu erhal­ten. Dort herrscht Corona-Vorsorge:

»Das Gebäu­de des medi­zi­ni­schen Diens­tes war abge­zäunt. Wenn ich einen Ter­min hat­te, muss­te ich immer lan­ge war­ten und frie­ren, es war ja Dezem­ber. Es gab kei­ne Stüh­le, nichts zu sit­zen. Auch nach der Fehl­ge­burt gab es kei­ne Aus­nah­me. Ein­mal stand ich früh von sechs bis neun, zehn Uhr mor­gens drau­ßen am Zaun in der Käl­te (…) dann hab ich mich auf den Bord­stein gehockt. Wenn wir dann drin­nen waren, saß vor­ne eine Über­set­ze­rin (…) Sie hör­te sich an, was wir zu sagen hat­ten, dann ging sie zur Ärz­tin und hat die Sachen bespro­chen. Sie kam wie­der und sag­te immer, wir kön­nen dich hier nicht behan­deln. Dann hat sie die Papie­re für das Kran­ken­haus fer­tig­ge­macht. Ich war mehr­mals beim medi­zi­ni­schen Dienst, die Ärz­tin habe ich kein ein­zi­ges Mal zu Gesicht bekommen.«

Nichts wün­schen sich Derya und Rojhan mehr als den Umzug in eine geschütz­te, pri­va­te Woh­nung in der Nähe ihrer Tan­te. Aber ein län­der­über­grei­fen­der Umzugs­an­trag ist nach der erfolg­ten EASY-Ver­tei­lung kaum aus­sichts­reich. Wenig spä­ter wird das Paar inner­halb des Bun­des­lan­des »wei­ter­ver­teilt«: Die Behör­de weist ihnen eine Sam­mel­un­ter­kunft in einem klei­nen Indus­trie­ge­biet in Hes­sen zu. Außer den ande­ren Geflüch­te­ten im Haus gibt es dort nichts. Das Orts­zen­trum ist eine kos­ten­pflich­ti­ge Bus­rei­se entfernt.

Die Depression

Der Ver­lust ihres Kin­des ver­stärkt Deryas kör­per­li­che und psy­chi­sche Pro­ble­me erheb­lich. Sie lei­det unter Sui­zid­ge­dan­ken,  ver­lässt prak­tisch den gan­zen Tag ihr Zim­mer nicht. Rojhan erle­digt Ein­käu­fe und Haus­halt, küm­mert sich im All­tag aufopferungs­voll um sei­ne Frau, trägt aber selbst eini­ge kör­per­li­che und see­li­sche Belas­tun­gen. Zen­tra­ler Halt ist ein­mal mehr die 130 km ent­fernt leben­de Tan­te. Sie dol­metscht am Tele­fon, über­setzt Doku­men­te, spricht mit Behör­den und orga­ni­siert, wo mög­lich, Unter­stüt­zung. Ver­su­che, in der neu­en Umge­bung Ärz­te und psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Hil­fe zu fin­den, schei­tern, weil die ört­li­chen Pra­xen kei­ne Neu­auf­nah­men täti­gen wol­len. Die Tan­te orga­ni­siert dar­auf­hin eine fach­ärzt­li­che und psych­ia­tri­sche Behand­lung an ihrem eige­nen Wohn­ort. Sie holt die bei­den immer wie­der in ihre klei­ne Woh­nung, um in weni­gen Stun­den oder Tagen alles Nöti­ge zu orga­ni­sie­ren. Lang­sam gehen für die­ses Arran­ge­ment aber das Geld und die Kraft aus.

Deryas Psych­ia­te­rin sieht einen Umzug als drin­gend indi­ziert an und befürch­tet sogar, dass sich ihr Zustand ande­ren­falls ver­schlech­tert. Das Gut­ach­ten, das die Ärz­tin schreibt, ist schließ­lich die Grund­la­ge für einen Umver­tei­lungs­an­trag, den PRO ASYL mit einer Stel­lung­nah­me und in Koope­ra­ti­on mit einer dia­ko­ni­schen Bera­tungs­stel­le in NRW unter­stützt – mit Erfolg: Die Behör­den stim­men dem Umzug von Derya und Rojhan von Hes­sen nach NRW zu.

Der Ver­lust ihres Kin­des ver­stärkt Deryas kör­per­li­che und psy­chi­sche Pro­ble­me erheb­lich. Sie lei­det unter Sui­zid­ge­dan­ken, ver­lässt prak­tisch den gan­zen Tag ihr Zim­mer nicht.

Seit die bei­den in Deutsch­land anka­men, sind ein­ein­halb Jah­re ver­gan­gen. Nun wol­len sie end­lich zur Ruhe kom­men, um ihre trau­ma­ti­schen Erleb­nis­se von der Flucht und in Deutsch­land, zusätz­lich zu den Ereig­nis­sen im Irak, zu ver­ar­bei­ten. Inzwi­schen haben sie einen Deutsch­kurs begon­nen. Derya befin­det sich wei­ter­hin in psych­ia­tri­scher Behandlung.

Recht auf Gesundheit. Schutz vor Gewalt.

Die Geschich­te von Derya zeigt, dass auch offen­kun­dig schutz­be­dürf­ti­ge Men­schen durch die Ras­ter der Auf­nah­me­pro­ze­dur im Asyl­ver­fah­ren fal­len. Die Auf­nah­me­be­din­gun­gen, die sie vor­fand, sind weder mit der Auf­nah­me­richt­li­nie noch dem Men­schen­recht auf Gesund­heit und auch nicht mit dem in der Istan­bul Kon­ven­ti­on ver­bürg­ten Schutz von gewalt­be­trof­fe­nen Frau­en in Ein­klang zu brin­gen. Aus Sicht von PRO ASYL sind gesetz­li­che und prak­ti­sche Ände­run­gen notwendig:

Trotz aus­drück­li­cher Hin­wei­se blieb Derya nach ihrer Ankunft tage­lang ohne eine medi­zi­ni­sche Betreu­ung. Die beson­de­re Vul­nerabi­li­tät der schwan­ge­ren Frau wur­de bei der Ankunft weder wirk­lich erkannt noch ange­mes­sen berück­sich­tigt. Die Eska­la­ti­on der Situa­ti­on bis zum Zusam­men­bruch und wei­ter bis hin zur Fehl­ge­burt – sie hät­te viel­leicht ver­hin­dert wer­den können.

Trotz unter­schied­li­cher Modell­pro­jek­te und Ansät­ze bei der Berück­sich­ti­gung von Vul­nerabi­li­tä­ten gibt es in den meis­ten Bun­des­län­dern kei­ne wirk­sa­men, sys­te­ma­ti­schen Identifizierungsverfahren.

Not­wen­dig ist die akti­ve Abfra­ge und Klä­rung von beson­de­ren Bedar­fen – mög­lichst früh­zei­tig. Dazu gehört eine medi­zi­ni­sche Erst­un­ter­su­chung im Inter­es­se der Patient*in, eine sys­te­ma­ti­sche Abfra­ge psy­cho­so­zia­ler Schwie­rig­kei­ten und die anschlie­ßen­de Sicher­stel­lung des Zugangs der betrof­fe­nen Per­son zu der not­wen­di­gen Fach­be­ra­tung und Behandlung.

Bei der »EASY«-Verteilung Asyl­su­chen­der über ganz Deutsch­land wird für gewöhn­lich kei­ne Rück­sicht auf per­sön­li­che Bin­dun­gen oder Infra­struk­tur genom­men, die Rege­lung ver­hin­dert Selbst­be­stim­mung und unter­gräbt die Selbst­hil­fe­kräf­te – wie in Deryas Fall die prak­ti­sche und psy­cho­so­zia­le Unter­stüt­zung durch die andern­orts leben­de Tan­te. Die wenigs­ten Geflüch­te­ten haben die Chan­ce, mit Gut­ach­ten und Unter­stüt­zung erfolg­reich eine behörd­li­che »Umver­tei­lung« zu erwirken.

Die Auf­nah­me der ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten 2022 dage­gen hat gezeigt, dass die Auf­nah­me durch Ver­wand­te und Bekann­te bzw. in pri­va­ten Woh­nun­gen bei Ankom­men und Inte­gra­ti­on hilf­reich sein kön­nen und auf eine Wohn­ort­zu­wei­sung ver­zich­tet wer­den kann. Auch ande­ren Geflüch­te­ten soll­te die­se Mög­lich­keit offen ste­hen. Zumin­dest muss bei der Ver­tei­lung Rück­sicht auf pri­va­te Belan­ge und spe­zi­fi­sche Bedürf­nis­se genom­men werden.

Laut der All­ge­mei­nen Erklä­rung der Men­schen­rech­te gehö­ren dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er Zugang und gesun­de Lebens­be­din­gun­gen zum Men­schen­recht auf Gesund­heit. Das »Woh­nen« in Mas­sen­un­ter­künf­ten ist für Men­schen belas­tend und macht auf Dau­er krank. Dar­auf hat PRO ASYL gemein­sam mit Ärz­te der Welt am Welt­tag der Gesund­heit hin­ge­wie­sen. Auch Derya erleb­te die über­füll­te Auf­nah­me­ein­rich­tung als gro­ße Belas­tung und unsi­che­ren Ort. Das Euro­pa­rats­gre­mi­um GREVIO, das die Ein­hal­tung der Istan­bul Kon­ven­ti­on über­wacht, hat 2022 kri­ti­siert, die Unter­brin­gung vie­ler asyl­su­chen­der Frau­en in Deutsch­land sei »nicht dazu geeig­net, ihnen ein Gefühl der Sicher­heit zu ver­mit­teln«. PRO ASYL hat gemein­sam mit Flücht­lings­rä­ten bereits 2021 im Schat­ten­be­richt zur Istan­bul Kon­ven­ti­on ana­ly­siert, dass die Unter­brin­gung in Sam­mel­un­ter­künf­ten dem Gewalt­schutz von Frau­en zuwi­der läuft. Um das Men­schen­recht auf Gesund­heit und den Schutz vor Gewalt zu gewähr­leis­ten, müs­sen Bund und Län­der dafür sor­gen, dass geflüch­te­te Men­schen in Woh­nun­gen statt in Sam­mel­un­ter­künf­ten leben kön­nen.

In Deutsch­land sind Asyl­su­chen­de nicht kran­ken­ver­si­chert und kön­nen nicht eigen­stän­dig einen Fach­arzt auf­su­chen, son­dern sind auf die Zustim­mung der Sozi­al­be­hör­den oder – wie Derya – auf den medi­zi­ni­schen Dienst und sei­ne Ver­sor­gung in der Auf­nah­me­ein­rich­tung ange­wie­sen. Im Hin­ter­grund steht das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz, das die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung Geflüch­te­ter frag­wür­dig beschränkt und an behörd­li­che Ent­schei­dun­gen und Abläu­fe bin­det. Die Bun­des­re­gie­rung muss das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz abschaf­fen und für alle Bedürf­ti­gen den glei­chen Zugang zu not­wen­di­gen Gesund­heits­leis­tun­gen sicherstellen.

Am Ende sind die dra­ma­ti­schen Erfah­run­gen von Derya, die ihr Kind in der Auf­nah­me­ein­rich­tung ver­lor, nicht, oder jeden­falls nicht nur, eine Fol­ge indi­vi­du­el­len Fehl­ver­hal­tens, son­dern einer Auf­nah­me­struk­tur, die sich aus den poli­ti­schen Debat­ten über Kos­ten, Las­ten­ver­tei­lung und Abschre­ckung speist und nicht aus dem Bemü­hen um das Wohl­erge­hen schutz­su­chen­der Men­schen. PRO ASYL for­dert ein grund­le­gen­des Umden­ken bei der Aufnahmepolitik.

ak

*Name bzw. Datum zum Schutz der Betrof­fe­nen geändert

** Wir haben im Zuge der Recher­che zur Flucht­si­tua­ti­on ent­lang der bela­rus­si­schen EU-Außen­gren­ze mit Derya und Rojhan gespro­chen. Die Zita­te in die­sem Text stam­men aus dem Bericht der Betroffenen.