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Ein syrischer Flüchtling nach seiner Ankunft auf Lesbos im Mai dieses Jahres. Seit Jahresbeginn sind mindestens 454 Menschen in der Ägäis ertrunken. Häufig handelt es sich um Kinder, die die gefährliche Überfahrt nicht überleben. Foto: Reuters / Yannis Behrakis

Mindestens 42 Menschen sterben am 28. Oktober 2015 kurz vor der Küste von Lesbos. Die griechische Insel in der Nordägäis ist dieses Jahr nicht nur Hauptankunftsort von Schutzsuchenden in Europa, sondern auch trauriger Ort zahlreicher Schiffsunglücke. MitarbeiterInnen des PRO ASYL-Projektes Refugee Support Program Aegean berichten von den erschütternden Ereignissen.

Am 28. Okto­ber 2015 kommt es in den Gewäs­sern nörd­lich von Les­bos zum wohl bis­lang größ­ten Schiffs­un­glück auf der grie­chi­schen Sei­te der Ägä­is. 42 Men­schen ster­ben – dar­un­ter 20 Kin­der. 272 Schutz­su­chen­de wer­den geret­tet. Wie vie­le noch ver­misst wer­den, ist unklar. Die Hoff­nung, wei­te­re Über­le­ben­de zu fin­den, schwin­det. Grie­chi­sche und tür­ki­sche Fischer, loka­le Akti­vis­ten, aber auch aus­län­di­sche ehren­amt­li­che Hel­fer sind an der Ret­tungs­ak­ti­on betei­ligt. Für die Geret­te­ten gibt es kei­ner­lei staat­lich orga­ni­sier­te Not­ver­sor­gung und psy­cho­lo­gi­sche Unterstützung.

„Wie in einem Kriegsgebiet“

„Gegen 18 Uhr erfuh­ren wir von einem gro­ßen Schiffs­un­glück in der Nähe von Moly­vos“, berich­tet RSPA-Mit­ar­bei­te­rin und Anwäl­tin Natas­sa Strach­i­ni. „Man sag­te uns, das Meer sei vol­ler Leben­der und vol­ler Toter. Über­le­ben­de wür­den ins Kran­ken­haus von Myti­li­ni geschickt wer­den. Etwa andert­halb Stun­den spä­ter füll­te sich die Kli­nik mit unter­kühl­ten Klein­kin­dern und Babys, die Atem­be­schwer­den auf­zei­gen. Es herrsch­te Panik, wie in einem Kriegs­ge­biet. Ärz­te und Kran­ken­schwes­tern hat­ten kaum Mit­tel, sie zu ver­sor­gen. Sie gaben uns Anwei­sun­gen, wie wir die blau­en klei­nen Kör­per wär­men soll­ten. An den noch nas­sen Kin­dern kleb­ten Algen und Die­sel. Wir muss­ten ihre Klei­der wech­seln, sie in Decken wickeln, ihnen in der Mikro­wel­le gewärm­te Trop­fe ver­ab­rei­chen. Dann rie­ben wir stun­den­lang ihre Kör­per, die Wachs­fi­gu­ren gli­chen. Über­all das Röcheln der mit Mee­res­was­ser gefüll­ten Lun­gen. Die Kin­der sind ohne ihre Eltern ein­ge­lie­fert wor­den. Sie mur­mel­ten vor sich hin. Wir ver­stan­den nur: „Mama“. Nach zwei Stun­den ver­lo­ren wir ein klei­nes Mäd­chen. Jemand flüs­ter­te: Guck, der Arzt weint. Wir waren wie erstarrt. Drei Kin­der wur­den in die Inten­siv­sta­ti­on gebracht und muss­ten spä­ter nach Athen trans­por­tiert wer­den. Eines von ihnen starb am nächs­ten Tag dort.“

RSPA-Mit­ar­bei­ter Mos­ta­fa Dawa fuhr kurz nach dem Schiffs­un­glück zwi­schen Moly­vos und Petra hin und her und ver­such­te die über­le­ben­den Fami­li­en wie­der zusam­men­zu­füh­ren: „Die Über­le­ben­den stan­den zunächst so unter Schock, dass sie die ers­te Stun­de nach ihrer Ret­tung nicht ein­mal nach ihren Ange­hö­ri­gen such­ten. Doch es gab auch rüh­ren­de Momen­te. Als eine schwan­ge­re Frau ihren Mann schließ­lich fand, lie­fen die bei­den Lie­ben­den auf­ein­an­der zu und fie­len sich in die Arme. Der Mann leg­te sogleich sei­nen Kopf auf den Bauch sei­ner Frau und so ver­harr­ten sie innig aneinandergeklammert.“

Ein Kran­ken­haus der Soli­da­ri­tät inmit­ten des Flüchtlingsdramas

„Das Kran­ken­haus von Myti­li­ni ist der Ort, an dem sich das Ver­sa­gen der euro­päi­schen Poli­tik gegen­über dem Flücht­lings­dra­ma auf Les­bos am deut­lichs­ten abzeich­net“, so RSPA-Mit­ar­bei­ter Muba­rak Shah. „Es ist der Ort, an dem man die Aus­wir­kun­gen der geschlos­se­nen Gren­zen Euro­pas sowie der unmensch­li­chen Lebens­be­din­gun­gen im Hot Spot Myti­li­ni an den tra­gi­schen Schick­sa­len ein­zel­ner Men­schen able­sen kann: Opfer von Schiff­un­glü­cken, Poli­zei­ge­walt, Unter­küh­lung, Hun­ger und Durst im Jahr 2015 in Euro­pa. Es ist aber auch ein Kran­ken­haus der Soli­da­ri­tät. Es ist bemer­kens­wert, wie das Per­so­nal reagiert.“

Ein kürz­lich ver­öf­fent­lich­ter Dan­kes­brief des Refu­gee Sup­port Pro­gram Aege­an ist nur ein klei­nes Zei­chen der Aner­ken­nung und des Dan­kes für das beacht­li­che Enga­ge­ment des Per­so­nals im Kran­ken­haus. In uner­müd­li­chem Ein­satz leis­ten Ärz­tIn­nen, Kran­ken­pfle­ger und Hel­fe­rIn­nen Beein­dru­cken­des unter schwers­ten Bedingungen.

345.000 errei­chen Euro­pa über die Insel Lesbos

Über 600.000 Flücht­lin­ge gelan­gen in den ers­ten zehn Mona­ten die­ses Jah­res nach Grie­chen­land, so UNHCR. Dies ent­spricht über 80 Pro­zent der Ankünf­te in Euro­pa. Über 345.000 erreich­ten über Les­bos die EU. Im Okto­ber ver­dop­pel­ten sich die Ankünf­te auf der Insel gegen­über August auf 125.000 – trotz der schlech­ten Wet­ter­be­din­gun­gen, berich­tet das Inter­na­tio­nal Res­cue Team in sei­ner Pres­se­er­klä­rung vom 30. Okto­ber 2015.

Der ört­li­che Fried­hof ist voll

Nach Anga­ben von Amnes­ty Inter­na­tio­nal (Pres­se­er­klä­rung vom 2. Novem­ber 2015) sind in den ers­ten zehn Mona­ten die­sen Jah­res schon mehr als 454 Men­schen in der Ägä­is ertrun­ken. Die meis­ten Opfer der See­gren­ze sind klei­ne Kin­der. Auf Les­bos kann zur­zeit für 30 Ver­stor­be­ne kein Begräb­nis orga­ni­siert wer­den. Der ört­li­che Fried­hof ist voll. Stän­dig wer­den leb­lo­se Kör­per an die Strän­de gespült.

Auch für die hoch­trau­ma­ti­sier­ten Über­le­ben­den von Schiffs­un­glü­cken gäbe es kei­nen Schutz, so Ele­ni Veli­va­sa­ki, eben­falls Anwäl­tin bei RSPA. Sie wür­den wie alle ande­ren nach Moria geschickt, um regis­triert zu wer­den. „In meh­re­ren Fäl­len muss­ten sich Paa­re, die ihre Kin­der ver­lo­ren hat­ten, von der Küs­ten­wa­che regis­trie­ren las­sen. Erst danach konn­ten sie ins Kran­ken­haus gehen, um nach ihren Kin­der zu suchen. Denn Aus­nah­men gibt es auch für die Ange­hö­ri­gen der Ertrun­ke­nen nicht. Immer­hin gibt es dies­mal ein geson­der­tes Schnell­ver­fah­ren. Doch das ist eine Ausnahme.“

Noch weni­ge Stun­den vor dem gro­ßen Schiff­un­glück, saßen am Lager­feu­er vor dem Haft­la­ger Moria die Über­le­ben­den eines ande­ren Schiffs­un­glücks. Die Fami­li­en­vä­ter hat­ten kei­nen Platz mehr in den UNHCR-Con­tai­nern gefun­den. „Der 7‑Jährige Jun­ge, der ver­stor­ben war, hat­te in der Tür­kei am Abend zuvor sei­ne Eltern noch ange­fleht, nicht ins Boot zu stei­gen. ‚Wir wer­den ertrin­ken’, hat­te er vol­ler Angst gesagt“, erin­nert sich ein Mitreisender.

Uner­müd­li­cher Ein­satz von Ehren­amt­li­chen – schwe­re Vor­wür­fe an die Politik

Ehren­amt­li­che Hel­fer, die in Les­bos aktiv sind, erho­ben schwe­re Vor­wür­fe gegen euro­päi­sche Poli­ti­ke­rIn­nen und inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen, die dem Ster­ben an den Gren­zen taten­los zusä­hen. Oscar Camps von der spa­ni­schen Orga­ni­sa­ti­on ehren­amt­li­cher See­ret­ter PROAKTIVA kri­ti­sier­te, dass die euro­päi­sche Grenz­agen­tur Fron­tex voll­kom­men unge­eig­net für die Ret­tung von Men­schen­le­ben auf See sei: „Das sind nur Poli­zis­ten der Mee­re, die nicht wis­sen wie man Men­schen­le­ben ret­tet”, so der ehren­amt­li­che Ret­ter nur einen Tag nach der Kata­stro­phe gegen­über der Zei­tung El Mun­do. „Ich muss­te mich ent­schei­den, wen ich ret­te: Die Mut­ter, die ertrinkt, die Kin­der, die nicht schwim­men kön­nen, den Vater, an den sich sei­ne gan­ze Fami­lie klam­mert. Ges­tern ret­te­ten wir 242 Leben, aber mehr als 50 Men­schen star­ben. Ich sah sie ster­ben. Es war schreck­lich. Wir sind psy­chisch und kör­per­lich zer­stört. Und ich schä­me mich für Europa.”

„Hot Spot“ Les­bos: »Ein Ort der Schan­de« (05.11.15)

„Hot Spot Cen­ter“ in Grie­chen­land: Ver­zweif­lung im Elend­sla­ger Moria (29.10.15)

Tran­sit­zo­ne Athen: Soli­da­ri­tät ersetzt staat­li­che Struk­tu­ren  (20.10.15)

„Da wei­ter­ma­chen, wo alle ande­ren auf­hö­ren“ – RSPA-Mit­ar­bei­te­rIn­nen berich­ten (01.10.15)