23.12.2021
Image
Warten in der Kälte: Geflüchtete in der Nähe der polnisch-belarussischen Grenze im Dezember. Foto: picture alliance / AA / Sefa Karacan

Während wir uns in Deutschland auf ruhige Weihnachtsfeiertage im Kreise der Familie vorbereiten, stecken an den europäischen Außengrenzen immer noch Geflüchtete fest und harren bei Minusgraden in den Wäldern an der polnisch-belarussischen Grenze aus. Für diese Menschen braucht es schnelle Lösungen!

Im Koali­ti­ons­ver­trag hat die neue Bun­des­re­gie­rung sich klar zu ihrer huma­ni­tä­ren Ver­ant­wor­tung und dem Flücht­lings­schutz bekannt – aber gegen die fort­lau­fen­de huma­ni­tä­re Kata­stro­phe an den euro­päi­schen Außen­gren­zen wird nichts unter­nom­men. Taten­los sehen Deutsch­land und die ande­ren EU-Staa­ten dabei zu, wie Schutz­su­chen­de seit Wochen ver­zwei­felt an der Gren­ze zwi­schen Polen und Bela­rus fest­sit­zen und von Grenz­be­am­ten des EU-Mit­glieds­staa­tes immer wie­der ille­gal zurück­ge­wie­sen wer­den. Min­des­tens 17 Men­schen sind dort schon ums Leben gekom­men, das Nach­rich­ten­ma­ga­zin Der Spie­gel hat kürz­lich ihre Geschich­ten und die Todes­um­stän­de dokumentiert.

Die Gewalt an den Außen­gren­zen, die feh­len­de Rechts­staat­lich­keit und ihre töd­li­chen Fol­gen wer­den dabei von deut­schen und euro­päi­schen Politiker*innen tole­riert, es wird sogar kri­tik­los Soli­da­ri­tät bekun­det. Auch von der deut­schen Bun­des­re­gie­rung – so hat Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz Mit­te Dezem­ber ein »soli­da­ri­sches Vor­ge­hen gemein­sam mit Polen« ange­kün­digt.

Menschenverachtendes Pingpong-Spiel

Unter­des­sen geht das men­schen­ver­ach­ten­de Ping­pong-Spiel an den Gren­zen wei­ter: Die bela­rus­si­sche Regie­rung lässt die schutz­su­chen­den Men­schen, dar­un­ter Fami­li­en mit Kin­dern und alte Men­schen, auf die pol­ni­sche Sei­te brin­gen und sie im Grenz­ge­biet unter lebens­ge­fähr­li­chen Umstän­den, bei eisi­gen Tem­pe­ra­tu­ren im Wald aus­har­ren. Die pol­ni­schen Grenz­schüt­zer trei­ben sie dann wie­der zurück – wo auf der ande­ren Sei­te erneut die bela­rus­si­schen Trup­pen war­ten. Die­ses Pro­ze­de­re wie­der­holt sich wie­der und wie­der – und immer wie­der auch mit töd­li­chen Fol­gen für Flüchtlinge.

Dass Men­schen an Euro­pas Gren­ze als direk­te Kon­se­quenz von ille­ga­len Push­backs ster­ben und es kei­nen öffent­li­chen Auf­schrei, ja sogar poli­ti­sche Unter­stüt­zung dafür gibt, hät­te man sich noch vor weni­gen Jah­ren  kaum aus­ma­len kön­nen. Und jetzt set­zen Bela­rus und die EU auf eine unter­stütz­te »Rück­rei­se« der betrof­fe­nen Men­schen – de fac­to also auf von Euro­pa bezahl­te Abschie­bun­gen. Völ­lig igno­riert wird dabei, dass etli­che Betrof­fe­ne aus Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­ten wie Afgha­ni­stan, Syri­en oder dem Irak stam­men und schlicht­weg nicht dort­hin zurück­keh­ren können.

Eben­so kommt in der Debat­te nicht vor, dass vie­le der Schutz­su­chen­den fami­liä­re oder ande­re Ver­bin­dun­gen nach Deutsch­land  haben und dem­zu­fol­ge eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung für sie besteht. Wir erhal­ten immer mehr Hil­fe­ru­fe von ver­zwei­fel­ten Ange­hö­ri­gen; der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen hat zwei bei­spiel­haf­te Ein­zel­fäl­le dokumentiert:

Fall 1: 71-jähriger Syrer wird Zeuge vom Tod seiner Begleiterin

Mus­ta­fa B.* ist Ende Sep­tem­ber nach Bela­rus ein­ge­reist. In sei­nem Hei­mat­land Syri­en droht ihm Haft. Sein Sohn lebt in Lüne­burg. Der 71-jäh­ri­ge ist, wie so vie­le, als poli­ti­scher Flücht­ling mit einem Tou­ris­ten­vi­sum nach Bela­rus gereist. Man sag­te ihm, von dort wer­de er leicht nach Euro­pa wei­ter­rei­sen können.

Bereits weni­ge Tage nach sei­ner Ein­rei­se fand er sich gemein­sam mit einer syri­schen Frau und einem jün­ge­ren syri­schen Mann, die er bei­de auf der Flucht ken­nen­lern­te, in der pol­nisch-bela­rus­si­schen mili­tä­ri­schen Grenz­zo­ne mit­ten im Wald wie­der. Die pol­ni­schen Grenz­be­am­ten dräng­ten die Schutz­su­chen­den in die Hän­de der bela­rus­si­schen Grenz­schüt­zer, die dann wie­der­um die Schutz­su­chen­den an der Rück­rei­se nach Bela­rus hin­der­ten. Die bela­rus­si­sche Armee rief ihnen zu: »Ent­we­der gehen Sie nach Polen oder Sie wer­den im Wald sterben.«

Als Mus­ta­fa und der mit­rei­sen­de Syrer nach medi­zi­ni­scher Not­hil­fe für die Frau bei den bela­rus­si­schen Sicher­heits­kräf­ten frag­ten, wur­den sie ernied­rigt, aus­ge­lacht und gewalt­sam zurückgedrängt.

Die Frau, mit der Mus­ta­fa reis­te, war stark ent­kräf­tet. Von Tag zu Tag bau­te sie wei­ter ab. Als Mus­ta­fa und der mit­rei­sen­de Syrer nach medi­zi­ni­scher Not­hil­fe für die Frau bei den bela­rus­si­schen Sicher­heits­kräf­ten frag­ten, wur­den sie ernied­rigt, aus­ge­lacht und gewalt­sam zurück­ge­drängt. Schließ­lich starb die Frau auf­grund der ver­wei­ger­ten medi­zi­ni­schen Not­ver­sor­gung und Ein­sper­rung im Grenzgebiet.

Im Zuge des Abtrans­ports der ver­stor­be­nen Frau gelang­te Mus­ta­fa wie­der nach Minsk. Nach den schwe­ren und trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen sitzt er dort nun fest und war­tet dar­auf, dass die Bun­des­re­gie­rung ihm die Mög­lich­keit gibt, zu sei­nem Sohn nach Nie­der­sach­sen zu zie­hen. Sei­ne Hab­se­lig­kei­ten und Doku­men­te ver­lor er im Cha­os im Wald. Sein gesund­heit­li­cher Zustand ist mitt­ler­wei­le sehr kritisch.

Fall 2: 57-jährige Frau mit Alzheimer ist in Lagerhalle eingesperrt

Was­si­la A.* muss­te bereits mehr­fach inner­halb Syri­ens flüch­ten, und als sich schließ­lich die Gele­gen­heit bot, nach  Bela­rus zu gelan­gen, ergriff sie die­se Chan­ce. Man sag­te ihr, sie kön­ne von Minsk aus nach Deutsch­land wei­ter­rei­sen, um zu ihren in Deutsch­land leben­den zwei Kin­dern zu kom­men. Was­si­la lei­det an Alz­hei­mer-Demenz, einer unheil­ba­ren Stö­rung des Gehirns. Sie ist zuneh­mend ver­gess­lich, ver­wirrt und ori­en­tie­rungs­los und ist in einer der für gestran­de­te Geflüch­te­te errich­te­ten Lager­hal­le mit cir­ca zwei­tau­send wei­te­ren Schutz­su­chen­den in Bela­rus eingesperrt. 

Sie ist nach ihrer Nie­ren­trans­plan­ta­ti­on lebens­lang auf Medi­ka­men­te und regel­mä­ßi­ge Unter­su­chun­gen ange­wie­sen, ohne die sie nicht über­le­ben wür­de. Die Ver­sor­gung in der Lager­hal­le ist jedoch kata­stro­phal. Die bela­rus­si­schen Sicher­heits­kräf­te fuh­ren sie zu einem Kran­ken­haus, in dem ihr Medi­ka­men­te für ledig­lich 20 Tage gege­ben wur­den. Ob sie ein zwei­tes Mal Medi­ka­men­te bekom­men wird, wur­de ihr bis­her nicht bestä­tigt. Viel­mehr wird ihr von den Sicher­heits­kräf­ten ein Trans­port zurück zu der pol­nisch-bela­rus­si­schen Grenz­zo­ne ange­bo­ten, wo tau­sen­de von Men­schen im Wald in der Käl­te aus­har­ren in der Hoff­nung, in der EU  Schutz zu finden.

Der voll­jäh­ri­ge Sohn und die voll­jäh­ri­ge Toch­ter von Was­si­la leben bereits seit meh­re­ren Jah­ren in Deutsch­land und sind die wich­tigs­ten – und ein­zi­gen! – Bezugs­per­so­nen, die sie durch die Alz­hei­mer-Demenz-Zeit beglei­ten kön­nen. Nun machen sie sich gro­ße Sor­gen, ob ihre Mut­ter die not­wen­di­gen Medi­ka­men­te erhält – denn jeder wei­te­re Tag in die­ser Lager­hal­le ist mit einem gro­ßen Risi­ko ver­bun­den und könn­te sie das Leben kosten.

Zusätz­lich droht das bela­rus­si­sche Per­so­nal in der Lager­hal­le den Schutz­su­chen­den, dass sie ent­we­der abge­scho­ben oder ins Grenz­ge­biet gebracht wür­den. Die Men­schen wer­den so gezielt in Panik versetzt.

Schnelle politische Entscheidung nötig

Es braucht jetzt eine rasche, poli­ti­sche Ent­schei­dung für eine Auf­nah­me der Geflüch­te­ten an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze und zwar noch in die­sem Jahr – bevor wei­te­re Tote zu bekla­gen sind. Die neue Bun­des­re­gie­rung muss dabei klar Par­tei für die schutz­su­chen­den Men­schen ergrei­fen und darf die Ver­ant­wor­tung Polens an den men­schen­ver­ach­ten­den und rechts­wid­ri­gen Prak­ti­ken nicht län­ger kleinreden!