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An der polnischen Grenze: »Eine Politik, die Menschen einfach sterben lässt«
An der Grenze zwischen Belarus und Polen spielen sich Szenen ab, die undenkbar sein sollten für Europa im 21. Jahrhundert. Die dort gestrandeten Flüchtlinge, die bei Minusgraden ums Überleben kämpfen, sind verzweifelt, traumatisiert, am Ende ihrer Kräfte – ebenso wie Helfer*innen. Ein Interview mit der polnischen Rechtsanwältin Marta Górczyńska.
Die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze spitzt sich von Tag zu Tag zu. Sehen Sie Anzeichen für Deeskalation, gibt es in Polen Politiker*innen, die zu Mäßigung und Menschlichkeit aufrufen?
Leider nein. Es ist eine humanitäre Katastrophe auf allen Ebenen, die sich hier mitten in Europa abspielt. Der Politik geht es ausschließlich darum, die Grenzen zu schützen; niemand erwähnt auch nur humanitäre Hilfe, die die Flüchtlinge so dringend benötigen. Es wird von Tag zu Tag kälter, die Temperaturen sinken auf den Gefrierpunkt. Die Menschen haben kein Dach über dem Kopf, nichts zu essen, keine warme Kleidung. Frauen erleben dort draußen Fehlgeburten. Polen verwehrt den Schutzsuchenden trotz Aufforderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte jedwede medizinische und humanitäre Hilfe. Menschen sterben. Nicht weil wir keine Möglichkeiten hätten, sie zu retten. Sondern weil wir, weil Europa, sie sterben lässt. Es ist ein Albtraum.
Polen hat den Ausnahmezustand jüngst um 60 Tage verlängert. Was bedeutet das?
Das Militär darf die »rote Zone« betreten, also die drei Kilometer Sperrgebiet entlang der Grenze. Sonst niemand, weder Ärzt*innen noch Journalist*innen oder Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen. Das ist dramatisch, in mehrfacher Hinsicht. Erstens haben wir so kaum journalistische Informationen und Bilder darüber, was sich im Dschungel dort abspielt. Es ist nicht einfach nur ein Wald, in dem die Schutzsuchenden ausharren, sondern tatsächlich ein Dschungel: Der älteste Urwald Europas, ein Gebiet, das von Sümpfen und Flussläufen durchzogen ist. Dort leben Bisons, und nachts heulen die Wölfe. Dramatisch ist es aber in erster Linie, weil die Geflüchteten kaum versorgt werden. Die Einzigen, die neben den Sicherheitskräften Zugang zu ihnen haben, ist die lokale Bevölkerung. Die tut, was sie kann, aber die Menschen, die dort leben, sind mit dieser Verantwortung völlig überlastet.
Erzählen Sie uns davon.
Einfache Bürgerinnen und Bürger werden zu Lebensretter*innen, die aber weder Erfahrung mit solchen Situationen haben noch die richtige Ausrüstung. Sie bringen Schlafsäcke, Tee in Thermoskannen und heiße Suppe zu den Geflüchteten in den Wald. Doch es ist gar nicht so leicht, sie zu erreichen – wegen der Sumpflandschaft, aber auch, weil sich viele aus Angst vor den polnischen Sicherheitskräften verstecken. Oft kommen nicht einmal die Krankenwagen, wenn man sie ruft. Und wer hat schon eine Trage zuhause? Die Einheimischen haben neulich notdürftig mit einer Hängematte jemanden transportiert. Sie haben ein 2‑jähriges Kind aus dem Sumpf gezogen, das fast ertrunken wäre. Von einem 14-jährigen Jungen erzählt, der dort alleine herumirrt, weil die polnischen Sicherheitskräfte seinen Vater nach Belarus zurückgeschickt und ihn vergessen haben. Am Anfang haben die Einheimischen die polnischen Behörden informiert, wenn sie auf Flüchtlinge gestoßen sind, weil sie davon ausgingen, dass diese dann in Flüchtlingseinrichtungen gebracht und versorgt werden. Aber dann haben sie festgestellt, dass die polnischen Sicherheitskräfte die Menschen stattdessen in Militär-Lastwagen packen und zurück nach Belarus bringen.
Wenn jemand um Asyl bittet, darf er das zwar offiziell nach wie vor tun. Das Problem ist aber, dass das Asylgesuch in der Praxis von den Grenzschützer*innen oft »überhört« wird.
Solche Push-backs sind nach Europa- und Völkerrecht illegal. Doch nun hat die polnische Regierung diese Push-backs defacto per Gesetz legalisiert.
Ja, Mitte Oktober hat das polnische Parlament einer Gesetzesänderung zugestimmt, laut der Grenzschutzkommandeure die Migrant*innen nun sofort des Landes verweisen dürfen. Zudem kann ihnen die Wiedereinreise nach Polen und in den Schengen-Raum für eine Dauer von sechs Monaten bis drei Jahren verboten werden. Wenn jemand um Asyl bittet, darf er das zwar offiziell nach wie vor tun. Das Problem ist aber, dass das Asylgesuch in der Praxis von den Grenzschützer*innen oft »überhört« wird und die Menschen dennoch abgewiesen werden. Wir wissen von einem Fall, da hat jemand in Anwesenheit eines Anwalts, eines Journalisten und eines Grenzschützers um Asyl gebeten – doch das wurde einfach ignoriert, der Mann zurück nach Belarus gezwungen. Selbst aus den polnischen Krankenhäusern, wo nur wenige Schutzsuchende landen, wird nach Belarus abgeschoben.
Werden denn überhaupt Flüchtlinge in Polen registriert?
Einige Menschen schon, aber es ist völlig undurchsichtig, nach welchen Kriterien hier vorgegangen wird. Am Anfang dachten wir, vielleicht nimmt Polen Familien auf oder besonders schutzbedürftige Menschen. Aber auch das hat sich als falsch herausgestellt. Es herrscht pure Willkür. Das Recht spielt keine Rolle mehr. Es ist ein bisschen wie Russisches Roulette: Manchmal erlauben die polnischen Behörden den Menschen, einen Asylantrag zu stellen, und manchmal nicht.
Wie ist die Lage in den polnischen Flüchtlingsheimen?
Die sind völlig überfüllt, weil unsere Regierung weder mehr Personal bereitstellt noch mehr Platz geschaffen hat. Wer dort landet, ist zwar erstmal in Sicherheit, aber es gibt zu wenig zu essen und die Menschen haben weniger Platz als in einer Gefängniszelle. Und die meisten Schutzsuchenden schaffen es erst gar nicht soweit, sondern werden zurückgeschickt. Sie haben Striemen, Wunden, Blutergüsse von den Schlägen der belarussischen Sicherheitskräfte und den Pushbacks durch Polen. Die belarussischen Soldat*innen zwingen sie über die Stacheldrahtzäune an der Grenze nach Polen oder durch einzelne, in die Zäune eingerissene Löcher, und die polnischen Soldaten zwingen sie über genau dieselben Wege wieder zurück nach Belarus.
Und die EU sagt dazu…
Gar nichts! Es ist unfassbar. Aus Brüssel hört man scharfe Töne in Richtung Lukaschenko, aber keine in Richtung der polnischen Regierung, trotz der eklatanten Verletzung des geltenden Rechts. So kann es doch nicht weitergehen! Die EU muss sich endlich dafür einsetzen, dass Journalist*innen, medizinisches Personal und NGOs Zugang zum Sperrgebiet erhalten. Das Rote Kreuz und ähnliche Organisationen haben geschultes Personal und wissen mit solchen Situationen umzugehen. Die Polinnen und Polen an der Grenze können nicht mehr. Sie sind traumatisiert, ebenso wie die Aktivist*innen unserer Organisation. Auch ich selbst bin fix und fertig, in meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht erlebt. Selbst einige polnische Grenzsoldaten weinen und betrinken sich, weil sie den psychischen Druck nicht mehr aushalten. Einer erzählte, dass er ein Kind auf die andere Seite der Grenze zurückgedrängt habe – so lautete schließlich der Befehl – und nun Albträume hat.
Sachsens Ministerpräsident Kretschmer hat gesagt: »Wir brauchen Zäune und wir brauchen auch Mauern … Niemand hat Interesse an Mauern, aber jetzt geht es darum, dass die Europäische Union ihre Wahrhaftigkeit beweist.« Was erwarten Sie von Deutschland?
Ich erwarte, dass sich Deutschland nicht hinter die polnische Regierung stellt, die das Recht bricht, sondern an die Seite der Migrant*innen. Aber ich höre die ganze Zeit, dass deutsche Politiker*innen die polnischen Sicherheitskräfte loben und ihnen Unterstützung zusichern und gegen Lukaschenko austeilen. Klar ist er dafür verantwortlich zu machen, aber es geht hier um ein paar tausend Flüchtlinge! Einige von ihnen haben Verwandte in Deutschland.
»Ich erwarte, dass sich Deutschland nicht hinter die polnische Regierung stellt, die das Recht bricht, sondern an die Seite der Migrant*innen.«
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Unter den Flüchtlingen an der Grenze ist zum Beispiel eine Syrerin, deren Eltern in Deutschland Asyl erhalten haben. Sie ist krank und hat sich ohne das Wissen ihrer Eltern auf den Weg nach Belarus gemacht, um von dort aus weiter nach Deutschland zu kommen. Im Morast des Dschungels hat sie ihre Schuhe verloren und ist tagelang bei Minusgraden im Wald herumgelaufen. Dann hat sie einen schweren epileptischen Anfall bekommen. Sie zählt zu den wenigen, die immerhin in ein polnisches Krankenhaus gekommen sind. Sie wurde in einem extrem kritischen Zustand eingeliefert. Ihre Eltern sind von Deutschland nach Polen gekommen, durften sie aber wegen der Corona-Regeln zunächst noch nicht einmal sehen, und dann nur eine Viertelstunde lang. Das erste Mal seit Jahren, dass sie ihre Tochter wiedergesehen haben – die voller Schläuche in einem Krankenhausbett liegt. Und noch immer besteht das Risiko, dass sie nach Belarus zurückgeschickt wird. Bitte, Deutschland, lockert die bürokratischen Hürden und nehmt solche Menschen auf!
Welche Möglichkeiten haben Sie bei der Helsinki Foundation for Human Rights, aktiv zu werden, was können Sie jetzt tun?
Wir, ein Team aus Anwält*innen, Mitarbeiter*innen der Flüchtlingshilfe und Menschenrechtsaktivist*innen, unterstützen, wo wir können. Wir vertreten Asylsuchende rechtlich, und momentan sind wir auch Ansprechpartner für die polnischen Bürger*innen, die an der Grenze wohnen und dort helfen. Wir und andere Hilfsorganisationen sammeln Geld- und Sachspenden und fahren dann mit Schlafsäcken, warmen Jacken, Schuhen und so weiter so weit an die Grenze, wie es uns erlaubt ist. Dort übergeben wir die Sachen an die lokale Bevölkerung, die sie weiterverteilt an die Schutzsuchenden. Es mangelt nicht an Hilfsgütern – das Problem ist, dass die auch bei den Migrant*innen ankommen müssen. Weil alles improvisiert werden muss und es wie gesagt keinerlei professionelle Unterstützung vonseiten des Staates, der EU oder erfahrener Hilfsorganisationen gibt, ist das schwierig. Wie kann es sein, dass die Regierung uns damit alleine lässt?
Viele Leute, die schon lange dort leben, fühlen sich an dunkelste Zeiten erinnert. Früher haben sie in der Region jüdische Menschen bei sich versteckt. Jetzt verstecken sie Flüchtlinge in ihren Häusern, trauen sich aber nicht, das den Nachbar*innen zu sagen, weil die Rechtslage so unübersichtlich geworden ist, dass sie fürchten müssen, dafür hinter Gitter zu kommen.
Man merkt Ihnen die Hilfslosigkeit und Erschöpfung an…
Und ich bin nicht die Einzige, der es so geht. Der Urwald an der Grenze war ein Paradies, zahlreiche Städter*innen sind dorthin gezogen, weil es so schön ist. Jetzt ist es die Hölle. Aber inmitten dieser Hölle gibt es Menschlichkeit und Hilfe. Nur die wird politisch kriminalisiert. Viele Leute, die schon lange dort leben, fühlen sich an dunkelste Zeiten erinnert. Früher haben sie in der Region jüdische Menschen bei sich versteckt. Jetzt verstecken sie Flüchtlinge in ihren Häusern, trauen sich aber nicht, das den Nachbar*innen zu sagen, weil die Rechtslage so unübersichtlich geworden ist, dass sie fürchten müssen, dafür hinter Gitter zu kommen. Denn es gibt ja nicht nur diejenigen, die helfen, sondern auch rechte Nationalist*innen, die die Flüchtlingshelfer*innen als Verräter*innen beschimpfen und den Behörden melden. Neulich haben polnische Menschenrechtler*innen einen irakischen Flüchtling ein Stück im Auto mitgenommen. Dafür droht ihnen jetzt acht Jahre Gefängnis wegen angeblichem Menschenschmuggel. In Polen! Mitten in Europa! Im 21. Jahrhundert! Das sind Zustände, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Wir sind im Krieg. Es fühlt sich an wie ein verdammter Krieg.
(er)
Marta Górczyńska ist Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt Asyl in Warschau. Sie arbeitet für die Helsinki Foundation for Human Rights, mit der PRO ASYL über den Europäischen Flüchtlingsrat ECRE verbunden ist.