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»Mein Körper ist hier, aber meine Seele ist bei meiner Familie in Afghanistan«
Ahmed Hussain hat in Kabul als Journalist gearbeitet und immer wieder Morddrohungen von den Taliban bekommen. Er ist nach Deutschland geflohen und wurde als Flüchtling anerkannt, doch seine Familie ist noch in Afghanistan. Begegnung mit einem Mann, der sich für Frauenrechte, Demokratie und eine freie Presse einsetzt – und deshalb in Todesangst lebt
Ich treffe Ahmed Hussain, der eigentlich anders heißt, an einem Donnerstagnachmittag im Juli in einer norddeutschen Kleinstadt. Hier lebt er, hier sind wir in einer Beratungsstelle verabredet. In Jeans und Hemd kommt der schlanke Mann mit den dunklen Haaren auf mich zu. Vor über zwei Jahren hat er Afghanistan verlassen. Die Taliban hatten gedroht, ihn zu ermorden. Wieder. Und wieder. Und wieder. Hussain floh nach Deutschland und wurde schnell als Flüchtling anerkannt, er bekam Asyl. Doch auf seine Familie, die eigentlich zu ihm kommen darf – so ist es gesetzlich geregelt – wartet er noch immer. 26 Monate ist er bereits von ihnen getrennt.
Er hat sich vorbereitet, hat Notizen mitgebracht. »Machtmissbrauch« steht auf seinem Zettel, »Kultur der Straflosigkeit«, und dass die Afghanen nicht nur unter den Taliban leiden, sondern auch »Opfer der Korruption durch Regierungsbeamte« werden. Den Abzug von NATO und Bundeswehr bedauert er. »Afghanistan allein zu lassen ist ein Fehler. So wird das Land wieder zu einem Zufluchtsort für den Terrorismus.«
»Afghanistan allein zu lassen ist ein Fehler. So wird das Land wieder zu einem Zufluchtsort für den Terrorismus.«
In unserem Gespräch soll es um ihn gehen, aber schnell stellt sich heraus, dass er lieber über seine Familie spricht, als über sich – und dass es ihm leichter fällt, über Politik zu reden, als über Persönliches. Denn wenn er an seine Familie denkt, kommt die Angst hoch. Seit dem Abzug der westlichen Truppen und dem stetigen Vorrücken der Taliban wird diese Angst von Tag zu Tag größer. Immer mehr Dörfer fallen in die Hände der Taliban, mittlerweile sind fast siebzig Prozent des Landes unter ihrer Kontrolle. Seine Frau und die fünf Kinder leben in Kabul, das bisher noch in Regierungshand ist. Wie lange das so bleibt, weiß niemand.
Als Journalist berichtete er für die Deutsche Welle
Der heute 38-jährige Familienvater wurde in einem Dorf in der Provinz Ghazni als Sohn von Bauern groß; schon als Kind half er bei der Feldarbeit. Seine Mutter starb, als er zwei Jahre alt war, Geschwister hat er keine – eine Besonderheit in seiner Heimat. Er wuchs alleine mit seinem Vater auf, und manchmal, so erzählt er, vermisste er als Kind eine große Familie. Doch Freunde seines Vaters waren öfter zu Besuch, und ein Highlight für den jungen Ahmed war es, mit den Männern im Wohnzimmer vor dem großen Radio zu sitzen. Das stand normalerweise oben in einem Schrank, wo er als Kind nicht rankam. Das Radio faszinierte ihn schon früh. Aufmerksam verfolgte er mit seinem Vater und dessen Freunden afghanische, iranische oder tadschikische Nachrichten, aber sie hörten auch BBC und die Deutsche Welle. Dass die einmal sein späterer Arbeitgeber sein würde, ahnte Ahmed Hussain da noch nicht.
Nachdem in der Schule sein Interesse an Politik geweckt worden war, entschied er sich, Journalismus zu studieren. Hussain arbeitete bei verschiedenen überregionalen und internationalen Radiosendern. Seit 2010 war er für die Deutsche Welle in Kabul tätig und schrieb für die Zeitung 8 Soubh, die als Sprachrohr für die afghanische Menschenrechtskommission und die Zivilgesellschaft gilt. Offen kritisierte Hussain die Taliban und ihr Verständnis des Islam und bezeichnete die Macht der religiösen Führungspersonen als gefährlich. Aber auch auf der anderen Seite machte er sich Feinde, etwa wenn er verkündete, die Korruption von Regierungsbeamten sei mitursächlich für die erneute Vorherrschaft des Terrorismus und das Scheitern der militärischen Interventionen der internationalen Koalition.
Amina, sein Sohn und die vier Töchter warten nun schon seit seiner Anerkennung als Flüchtling im November 2019 darauf, wieder mit ihm zusammen sein zu können. Doch bisher haben sie von den deutschen Behörden nicht einmal einen Termin zur Beantragung des Visums bekommen.
Manchmal gab es Streit zwischen Ahmed Hussain und seiner Frau, wenn es um seine Arbeit ging. »Warum wählst du nicht einen anderen Beruf?«, fragte sie ihn. »Lass doch den Journalismus, zu gefährlich!« Doch das wollte Hussain nicht. Weil er es wichtig findet, über Themen wie Frauenrechte zu schreiben. Deren Missachtung macht ihn wütend. Stolz zeigt er einen seiner Artikel zu häuslicher Gewalt in Afghanistan. »Ich liebe meine Arbeit, ich liebe den Journalismus«, erklärt er, und wo sonst viel Ruhe in seiner Stimme liegt, schwingt plötzlich ein Quäntchen Leidenschaft mit. »Das ist mein Leben. Das kann ich nicht einfach lassen.«
Erinnerungen an glückliche Zeiten, an Gäste und Geselligkeit
Seine spätere Ehefrau Amina lernte Ahmed Hussain bereits als Kind in seinem Dorf kennen. »Da gab es einen Platz mit einem Brunnen und einem kleinen Bach. Das war unser Treffpunkt, als wir Jugendliche waren«, erzählt er. Nachdem er sich ein halbes Jahr lang mit Amina getroffen hatte, ging er zu seinem Vater und verkündete ihm: »Die möchte ich heiraten.« Und so kam es. Trotz der unterschiedlichen Lebensrealitäten – Amina hatte nur wenige Jahre die Möglichkeit zur Schule zu gehen und studierte nicht – zogen sie gemeinsam nach Kabul und bekamen fünf Kinder. Die Zeit beschreibt Ahmed Hussain als glücklich. »Wir hatten nicht überdurchschnittlich viel Geld, aber ein gutes Auskommen, oft Gäste zum Essen und Gespräche bei uns zu Hause. Ich habe das Leben damals sehr genossen.« Doch die vergleichsweise unbeschwerte Zeit währte nicht lange.
Im Mai 2019 wurden aus den vagen Drohungen der Taliban konkrete Morddrohungen, die sich häuften. Hussain wurde klar, dass er Afghanistan möglichst schnell verlassen musste. Er erkundigte sich bei Freunden im Exil, ob es möglich sei, die Familie mitzunehmen. Sie rieten ihm entschieden ab – zu gefährlich sei die Flucht für Frauen und Kinder. Heute ist er unsicher, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, alleine zu kommen. Amina, sein Sohn und die vier Töchter warten nun schon seit seiner Anerkennung als Flüchtling im November 2019 darauf, wieder mit ihm zusammen sein zu können. Geplant war ein schneller Nachzug nach Europa, doch bisher haben sie von den deutschen Behörden nicht einmal einen Termin zur Beantragung des Visums bekommen – was bloß der allererste Schritt im langwierigen und bürokratischen Verfahren des Familiennachzugs ist.
»Durstig nach Bildung«
Seine Familie lebt seit seiner Flucht im Verborgenen, da auch sie bedroht worden war. Die lange Trennung stellt ihre Beziehung auf eine harte Probe. Ahmed Hussain versucht täglich, mit seiner Frau und den Kindern zu sprechen, aber aufgrund schlechter Mobilfunk- und Internetnetze ist dies häufig nicht möglich. Amina ist verzweifelt, ihr Optimismus ist verflogen. Auch seine Kinder – die Älteste ist 18, der Jüngste acht – sind erschöpft. Seit mehr als zwei Jahren leben sie versteckt, können nicht zur Schule, zum Sport oder gar auf den Markt, immer müssen sie zu Hause sein. »Sie sind frustriert und traurig und fühlen sich eingesperrt«, sagt ihr Vater.
Seine älteste Tochter hat ihm erzählt, dass einige ihrer Klassenkameradinnen jetzt an die Uni gingen, während sie, die immer gute Noten hatte, zu Hause sitzt und wartet. Ob es ihn schmerzt, das zu hören, ist schwer zu sagen. Während des gesamten Gesprächs wirkt Hussain ruhig und professionell, lässt sich seine Gefühle kaum anmerken. Er habe »alles dafür getan«, um den Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen, sagt er. Dass sie Englisch lernen und eine Privatschule besuchen konnten, hat viel Geld gekostet. Und dann war da die Angst als ständiger Begleiter: Terroristen griffen Schulen und Ausbildungskurse an und töteten Hunderte von Schülern. »Unter solchen Umständen versuchten meine Frau und ich, unseren Kindern Bildungschancen zu ermöglichen«, sagt Hussain. Und ergänzt: »Meine Töchter haben Bildungsträume«. Mina wolle Medizin studieren, Sarah BWL. »Sie werden der deutschen Gesellschaft etwas zurückgeben, wenn sie kommen dürfen.«
Er ist sich bewusst, welche Chancen seine Kinder in Deutschland hätten. »Als jemand, der im Krieg geboren wurde und 35 Jahre im Krieg verbracht hat, kenne ich den Wert von Bildung und Alphabetisierung«, sagt er mit Nachdruck. »Ich ging zur Schule, als das bedeutete, mit dem Leben zu spielen. Mehrmals griffen die Krieger meine Schule an und wir rannten davon. Ich weiß, wie wertvoll moderne Bildung ist.« Als die Taliban 1998 die Kontrolle über die Region übernahmen, in der er lebte, verboten sie den Unterricht in Physik, Mathematik und Biologie. »Meine Familie hat Durst«, sagt er. »Sie ist nicht durstig nach Wasser, sondern nach Bildung.«
Tagsüber lernt er deutsch, nachts kommen die Albträume
Auf die Frage, was er seinen Kindern in Deutschland zeigen will, antwortet er, dass es natürlich schöne Parks und eindrucksvolle Gebäude gebe, aber es doch eigentlich nur zähle, dass sie überhaupt wieder etwas anschauen könnten. Draußen sein und sich frei bewegen zu können ohne ständig Angst haben zu müssen – für Ahmed Hussain ist das endlich möglich. Aber ein unbeschwertes Leben führen kann er nicht, solange seine Liebsten nicht bei ihm sind. »Mein Körper ist hier, aber meine Seele ist in Afghanistan bei meiner Familie«, sagt er.
Nachts liegt er häufig wach, dann kreisen seine Gedanken. Was, wenn die Taliban plötzlich vor der Tür seiner Familie stehen? Die Vorstellung, wie seine Frau und die Kinder ihnen hilflos ausgeliefert wären, raubt ihm den Schlaf. Wenn er doch irgendwann einschläft, kommen die Albträume – dann holen ihn die Erinnerungen an jene Tage ein, als die Taliban das Parlament attackierten und er als Journalist vor Ort war, um zu fotografieren. »Da waren Tote, überall viel Blut. Diese Bilder steigen immer wieder in mir hoch«, sagt er leise.
Tagsüber kann er das so gut es geht verdrängen. Trotz der extremen Lage, in der sich seine Familie befindet, wirkt er gefasst. Es helfe ja nicht weiter, die Nerven zu verlieren, sagt er. Und versucht, sich weiterhin aufs Deutschlernen zu konzentrieren. Seine Wortwahl ist bedacht, seine Ausdrucksweise erstaunlich explizit. Vor kurzem hat er eine Zusage für ein Praktikum bei der Deutschen Welle, seinem früheren Arbeitgeber, erhalten.
Und dann sagt Ahmed Hussain so einen Satz, bei dem deutlich wird, wie gut seine Deutschkenntnisse schon sind – und sich erahnen lässt, wie schwer der neue Alltag besonders zu Beginn für ihn war: »Leben in einem neuen Land, das ist wie einen Baum zu entwurzeln.« Bei dem Versuch, neue Wurzeln zu schlagen, helfen ihm besonders zwei Menschen: Adelheid und Eike. Zu den beiden Mittsiebzigern aus seinem neuen Wohnort verbindet ihn eine enge Freundschaft. Sie sprechen über Politik, lesen gemeinsam den Spiegel oder witzeln über die akribische Mülltrennung in Deutschland. Auch wenn zwischen ihnen ein großer Altersunterschied liegt, fühlt er sich ihnen nah. »So langsam fühle ich mich zuhause hier, auch wegen der beiden«, sagt Hussain. Er macht eine Pause, dann fällt ihm noch etwas ein. »Auf meinem Übungsbuch steht ‚Deutsch als Fremdsprache‘. Aber ich lerne vor allem mit Eike und Adelheid. Und da müsste es eigentlich heißen ‚Deutsch als Freundsprache‘.«
»Denn wenn die Taliban Kabul erreichen und meine Familie finden, habe ich keine Familie mehr.«
Schwanken zwischen Hoffnung und Todesangst
Die Hoffnung, seine Familie bald wiederzusehen, hat Ahmed Hussain nicht verloren. Wenn ein Telefonat doch mal klappt und die Leitung einigermaßen stabil ist, malen sie sich aus, wie ihr gemeinsames Leben in Deutschland aussehen könnte. Seine Kinder fragen, welche Farbe die Schuluniform hat – und sind ein wenig irritiert davon, dass es keine gibt. Gemeinsam überlegen sie, welche Ausbildungen oder Studienfächer sie wählen könnten, welche Berufe sie ergreifen würden und wie sich ein Leben ohne Bedrohung anfühlt.
In solchen Momenten fasst Ahmed Hussain neuen Mut und hofft, dass seine Familie – unterstützt von PRO ASYL – bald einen Termin für die Beantragung des Visums bekommt. An schlechten Tagen aber überwiegt die Angst. Dann, sagt Hussain, fühlt sich das Vorrücken der Taliban für ihn an wie das Warten auf den Tod. »Denn wenn die Taliban Kabul erreichen und meine Familie finden, habe ich keine Familie mehr.«
Annika Hesselmann & Elisa Rheinheimer
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