05.08.2021
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Abschiebung nach Afghanistan vom Flughafen Hannover im Juli 2021. Foto: Michael Trammer

Eigentlich sollte am Dienstagabend ein Flieger von München nach Kabul starten, um neun Männer trotz eskalierender Kämpfe nach Afghanistan abzuschieben. In letzter Minute wurde der Flug wegen eines Anschlags in Kabul abgesagt. Anstatt einen Abschiebungsstopp zu erlassen, will die Bundesregierung die Abschiebung trotzdem »zeitnah« durchführen.

Am Diens­tag über­schlu­gen sich die Ereig­nis­se rund um den kurz­fris­tig anbe­raum­ten Abschie­bungs­flug von Mün­chen nach Kabul, der zunächst noch über Wien gehen soll­te. Letzt­lich blieb der Flie­ger am Boden. Doch das The­ma Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan ist nun auch hei­ßes Wahl­kampf­the­ma geworden.

Was war passiert?

Am Mon­tag wur­den ers­te Gerüch­te bekannt, dass ent­ge­gen des übli­chen Rhyth­mus – dem zwei­ten Diens­tag im Monat – bereits am 3. August ein neu­er Abschie­bungs­flie­ger von Mün­chen aus nach Kabul star­ten soll­te. Eine wei­te­re Beson­der­heit: der Flug soll­te zudem mit Zwi­schen­stopp in Wien erfol­gen. PRO ASYL mach­te dies am Diens­tag­mor­gen mit einer Pres­se­er­klä­rung bekannt und kri­ti­sier­te die­ses Vor­ge­hen ange­sichts der dra­ma­ti­schen Lage in dem Land als unverantwortlich.

Seit 2016 schiebt Deutsch­land regel­mä­ßig afgha­ni­sche Män­ner in ihr Her­kunfts­land ab. Men­schen­rechts- und Flücht­lings­or­ga­ni­sa­tio­nen kri­ti­sier­ten die­se Abschie­bun­gen von Beginn an, da Afgha­ni­stan schon lan­ge als eines der gefähr­lichs­ten Län­der der Welt gilt. Mit dem NATO-Trup­pen­ab­zug Ende Juni, dem Vor­marsch der Tali­ban und der dadurch eska­lie­ren­den Lage vor Ort haben die Abschie­bun­gen an Bri­sanz gewon­nen. Anders als sonst beschäf­tigt das The­ma nicht nur Menschenrechtsaktivist*innen – son­dern ist zum Wahl­kampf­the­ma geworden.

EGMR stoppt Abschiebung aus Österreich nach Afghanistan

Eine Eil­ent­schei­dung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te, die Mon­tag­abend noch erging, stopp­te am Diens­tag die aus Öster­reich geplan­te Abschie­bung nach Kabul (hier ein­seh­bar) – der Stopp in Wien wur­de des­we­gen abgesagt.

Anstatt dem Wunsch der afgha­ni­schen Regie­rung zu ent­spre­chen und Abschie­bun­gen aus­zu­set­zen, haben Deutsch­land und Öster­reich aber sogar diplo­ma­ti­schen Druck aus­ge­übt, um Abschie­bun­gen durchzuführen.

Die Ent­schei­dung des EGMR war eine soge­nann­te »Rule 39-Ent­schei­dung«, mit der der Gerichts­hof in Fäl­len, bei denen ansons­ten eine nicht wie­der­gut­zu­ma­chen­de Men­schen­rechts­ver­let­zung ein­tritt, eine einst­wei­li­ge Anord­nung tref­fen kann. Damit ist es eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung, aller­dings ging es in der Ent­schei­dung gene­rell um die Sicher­heits­la­ge in Afgha­ni­stan und nicht um etwa­ige beson­de­re Umstän­de des Ein­zel­falls. Die durch die Ent­schei­dung geäu­ßer­ten Zwei­fel an der Abschie­bung sind inso­fern auch für Deutsch­land höchst rele­vant. Im vor­lie­gen­den Fall hat­te der EGMR kon­kret ange­ord­net, dass die Per­son bis zum 31. August 2021 nicht abge­scho­ben wer­den darf und meh­re­re Fra­gen an Öster­reich gestellt, ins­be­son­de­re zur Bewer­tung der aktu­el­len Sicher­heits­la­ge in Afgha­ni­stan. Die Regie­rung in Wien hat bis zum 24. August Zeit, die Fra­gen zu beantworten.

Deutsch­land hin­ge­gen woll­te trotz­dem wei­ter­hin an dem Flug fest­hal­ten und ohne Zwi­schen­stopp fliegen.

In letzter Minute: Flug wegen Sicherheitsbedenken abgesagt

Um 21:30 Uhr soll­te die Maschi­ne star­ten, wur­de aber anschei­nend weni­ge Minu­ten vor­her abge­sagt. Grund hier­für: ein kurz zuvor erfolg­ter Anschlag im Zen­trum Kabuls, bei dem 13 Men­schen getö­tet wur­den. Gegen­über ZEIT ONLINE sag­te eine Spre­che­rin des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums (BMI), es sei nicht sicher gewe­sen, »ob sich die­se Situa­ti­on bis zum nächs­ten Mor­gen bei Ankunft des Flu­ges beru­higt haben und die Über­nah­me der Abge­scho­be­nen durch die afgha­ni­schen Behör­den ohne Ein­schrän­kun­gen mög­lich sein wür­de«. Der Abschie­be­flie­ger sol­le nun »zeit­nah« neu ter­mi­niert werden.

Diplomatischer Druck statt »gute Zusammenarbeit«

Dass sich die Spre­che­rin des BMI gegen­über ZEIT ONLINE auch auf das »Gebot der guten Zusam­men­ar­beit mit den afgha­ni­schen Behör­den, dass in einer sol­chen Situa­ti­on kei­ne ver­schieb­ba­ren Rück­füh­rungs­maß­nah­men statt­fin­den« bezieht, ist aller­dings schon fast unver­schämt. Denn die afgha­ni­sche Regie­rung hat die euro­päi­schen Län­der, dar­un­ter auch Deutsch­land, bereits vor Wochen expli­zit dazu auf­ge­for­dert, ab dem 8. Juli 2021 wegen der eska­lie­ren­den Gewalt und der drit­ten Coro­na-Wel­le bis Okto­ber 2021 nicht mehr in das Land abzu­schie­ben. Anstatt dem zu ent­spre­chen und gemäß des »Gebots der guten Zusam­men­ar­beit« Abschie­bun­gen aus­zu­set­zen, haben Deutsch­land und Öster­reich aber sogar diplo­ma­ti­schen Druck aus­ge­übt, um Abschie­bun­gen durchzuführen.

Ande­re Län­der wie Nor­we­gen, Finn­land und Schwe­den haben ent­spre­chend der Auf­for­de­rung Afgha­ni­stans Abschie­bun­gen in das Land vor­läu­fig aus­ge­setzt. Selbst die umstrit­te­ne Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex will aktu­ell kei­ne Abschie­bun­gen in das Land durch­füh­ren. Deutsch­land steht mit sei­ner fast trot­zi­gen Hal­tung, Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan auf Bie­gen und Bre­chen durch­zu­set­zen, inter­na­tio­nal zuneh­mend iso­liert da.

Hitzige Debatte in Deutschland geht an afghanischer Realität vorbei

Hier­zu­lan­de wur­de das The­ma durch den Abschie­bungs­ver­such am 3. August zum Wahl­kampf­the­ma. Dabei ist schon das ers­te Pro­blem, dass die offi­zi­el­le Ent­schei­dungs­grund­la­ge, der Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amts, die jüngs­ten dra­ma­ti­schen Ent­wick­lun­gen nicht abbil­det. Die im Juni fer­tig gestell­te Aktua­li­sie­rung des Lage­be­richts ist nur auf Stand Mai 2021.

Einen sol­chen Lage­be­richt zu erstel­len, ist vom SPD-geführ­ten Aus­wär­ti­gen Amt im bes­ten Fall pein­lich, im schlimms­ten Fall poli­ti­sches Kalkül.

Über 200

Distrik­te von ins­ge­samt 388 sind mitt­ler­wei­le in der Hand der Taliban

Den Zeit­raum seit Beginn des Abzugs der NATO-Trup­pen – mit dem die nach wie vor andau­ern­de erfolg­rei­che Offen­si­ve der Tali­ban begann – deckt der Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes damit nicht ab: Anfang Mai hat­ten die Tali­ban noch 32 Distrik­te in ihrer Gewalt, mitt­ler­wei­le sind es über 200 von ins­ge­samt 388 Distrik­ten. Ledig­lich 15 davon ver­moch­ten die Regie­rungs­trup­pen zurück­zu­er­obern. PRO ASYL hat dies aus­führ­lich hier kom­men­tiert.

Einen sol­chen Bericht zu erstel­len, ist vom SPD-geführ­ten Aus­wär­ti­gen Amt im bes­ten Fall pein­lich, im schlimms­ten Fall poli­ti­sches Kal­kül. Denn so wird sich in der deut­schen Poli­tik auf einen nicht mehr aktu­el­len Stand der Lage im Land beru­fen. Dabei ist das Vor­rü­cken der Tali­ban live in den Medi­en zu verfolgen.

Zur Straftäter-Debatte

In der öffent­li­chen Dis­kus­si­on wird aktu­ell vor allem ins Feld geführt, dass nur Straf­tä­ter von den Abschie­bun­gen betrof­fen wären. Das stimmt schlicht­weg nicht – in der Ver­gan­gen­heit wur­den auch Afgha­nen abge­scho­ben, die sich nichts haben zuschul­den kom­men las­sen (die unter­schied­li­chen Richt­li­ni­en der Bun­des­län­der dazu fin­den sich in unse­ren Bera­tungs­hin­wei­sen). Dies ist jedoch aus men­schen­recht­li­cher Sicht gar nicht der ent­schei­den­de Punkt; was zählt, ist die Sicher­heits­la­ge in Afghanistan.

Zwar kann eine Per­son ihren Auf­ent­halts­ti­tel wegen einer Straf­tat ver­lie­ren (das nennt man eine Aus­wei­sung), doch beant­wor­tet dies nicht die Fra­ge, ob sie auch abge­scho­ben wer­den darf. Die Abschie­bung ist die zwangs­wei­se Umset­zung der Aus­rei­se­pflicht. Bei der Abschie­bung ist Deutsch­land ver­pflich­tet zu prü­fen, ob der Per­son im Her­kunfts­land eine Gefahr für Leib und Leben bzw. die Gefahr von Fol­ter oder unmensch­li­cher und ernied­ri­gen­der Behand­lung droht.

Das ergibt sich u.a. aus dem Fol­ter­ver­bot des Art. 3 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK). Das Fol­ter­ver­bot gilt als eines der weni­gen Men­schen­rech­te abso­lut – es darf also nicht ein­ge­schränkt wer­den. Wenn die Sicher­heits­la­ge in einem Land so gefähr­lich ist, dass bei Abschie­bung eine Art. 3 EMRK-Ver­let­zung droht, dann spielt es kei­ne Rol­le, ob die Per­son zuvor eine Straf­tat began­gen hat oder nicht. Das hält der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te regel­mä­ßig in sei­nen Urtei­len fest.

Dringender denn je: Abschiebungsstopp für Afghanistan!

Es ist das kla­re Gebot der Stun­de, jetzt die Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan aus­zu­set­zen. Wenn die Bun­des­re­gie­rung die­sen Schritt nicht unter­nimmt, ste­hen die Bun­des­län­der in der Pflicht, ent­spre­chen­de Abschie­bungs­stopps zu erlas­sen. Die­se Mög­lich­keit eröff­net ihnen der § 60a Abs. 1 Satz 1 Auf­enthG:

Wenn die Sicher­heits­la­ge in einem Land so gefähr­lich ist, dass bei Abschie­bung eine Art. 3 EMRK-Ver­let­zung droht, dann spielt es kei­ne Rol­le, ob die Per­son zuvor eine Straf­tat began­gen hat oder nicht.

»Die obers­te Lan­des­be­hör­de kann aus völ­ker­recht­li­chen oder huma­ni­tä­ren Grün­den oder zur Wah­rung poli­ti­scher Inter­es­sen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land anord­nen, dass die Abschie­bung von Aus­län­dern aus bestimm­ten Staa­ten oder von in sons­ti­ger Wei­se bestimm­ten Aus­län­der­grup­pen all­ge­mein oder in bestimm­te Staa­ten für längs­tens drei Mona­te aus­ge­setzt wird

Erst nach einer Ver­län­ge­rung um wei­te­re drei Mona­te, also nach sechs Mona­ten, bedarf es dem Ein­ver­neh­men des BMI (§ 60a Abs. 1 Satz 2 AufenthG).

PRO ASYL for­dert sowohl von der Bun­des­re­gie­rung als auch von den Lan­des­re­gie­run­gen, Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan sofort zu stoppen!

(wj)