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Abschieben um jeden Preis? Zum Stand der Afghanistan-Abschiebungen
Eigentlich sollte am Dienstagabend ein Flieger von München nach Kabul starten, um neun Männer trotz eskalierender Kämpfe nach Afghanistan abzuschieben. In letzter Minute wurde der Flug wegen eines Anschlags in Kabul abgesagt. Anstatt einen Abschiebungsstopp zu erlassen, will die Bundesregierung die Abschiebung trotzdem »zeitnah« durchführen.
Am Dienstag überschlugen sich die Ereignisse rund um den kurzfristig anberaumten Abschiebungsflug von München nach Kabul, der zunächst noch über Wien gehen sollte. Letztlich blieb der Flieger am Boden. Doch das Thema Abschiebungen nach Afghanistan ist nun auch heißes Wahlkampfthema geworden.
Was war passiert?
Am Montag wurden erste Gerüchte bekannt, dass entgegen des üblichen Rhythmus – dem zweiten Dienstag im Monat – bereits am 3. August ein neuer Abschiebungsflieger von München aus nach Kabul starten sollte. Eine weitere Besonderheit: der Flug sollte zudem mit Zwischenstopp in Wien erfolgen. PRO ASYL machte dies am Dienstagmorgen mit einer Presseerklärung bekannt und kritisierte dieses Vorgehen angesichts der dramatischen Lage in dem Land als unverantwortlich.
Seit 2016 schiebt Deutschland regelmäßig afghanische Männer in ihr Herkunftsland ab. Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen kritisierten diese Abschiebungen von Beginn an, da Afghanistan schon lange als eines der gefährlichsten Länder der Welt gilt. Mit dem NATO-Truppenabzug Ende Juni, dem Vormarsch der Taliban und der dadurch eskalierenden Lage vor Ort haben die Abschiebungen an Brisanz gewonnen. Anders als sonst beschäftigt das Thema nicht nur Menschenrechtsaktivist*innen – sondern ist zum Wahlkampfthema geworden.
EGMR stoppt Abschiebung aus Österreich nach Afghanistan
Eine Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Montagabend noch erging, stoppte am Dienstag die aus Österreich geplante Abschiebung nach Kabul (hier einsehbar) – der Stopp in Wien wurde deswegen abgesagt.
Anstatt dem Wunsch der afghanischen Regierung zu entsprechen und Abschiebungen auszusetzen, haben Deutschland und Österreich aber sogar diplomatischen Druck ausgeübt, um Abschiebungen durchzuführen.
Die Entscheidung des EGMR war eine sogenannte »Rule 39-Entscheidung«, mit der der Gerichtshof in Fällen, bei denen ansonsten eine nicht wiedergutzumachende Menschenrechtsverletzung eintritt, eine einstweilige Anordnung treffen kann. Damit ist es eine Einzelfallentscheidung, allerdings ging es in der Entscheidung generell um die Sicherheitslage in Afghanistan und nicht um etwaige besondere Umstände des Einzelfalls. Die durch die Entscheidung geäußerten Zweifel an der Abschiebung sind insofern auch für Deutschland höchst relevant. Im vorliegenden Fall hatte der EGMR konkret angeordnet, dass die Person bis zum 31. August 2021 nicht abgeschoben werden darf und mehrere Fragen an Österreich gestellt, insbesondere zur Bewertung der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan. Die Regierung in Wien hat bis zum 24. August Zeit, die Fragen zu beantworten.
Deutschland hingegen wollte trotzdem weiterhin an dem Flug festhalten und ohne Zwischenstopp fliegen.
In letzter Minute: Flug wegen Sicherheitsbedenken abgesagt
Um 21:30 Uhr sollte die Maschine starten, wurde aber anscheinend wenige Minuten vorher abgesagt. Grund hierfür: ein kurz zuvor erfolgter Anschlag im Zentrum Kabuls, bei dem 13 Menschen getötet wurden. Gegenüber ZEIT ONLINE sagte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums (BMI), es sei nicht sicher gewesen, »ob sich diese Situation bis zum nächsten Morgen bei Ankunft des Fluges beruhigt haben und die Übernahme der Abgeschobenen durch die afghanischen Behörden ohne Einschränkungen möglich sein würde«. Der Abschiebeflieger solle nun »zeitnah« neu terminiert werden.
Diplomatischer Druck statt »gute Zusammenarbeit«
Dass sich die Sprecherin des BMI gegenüber ZEIT ONLINE auch auf das »Gebot der guten Zusammenarbeit mit den afghanischen Behörden, dass in einer solchen Situation keine verschiebbaren Rückführungsmaßnahmen stattfinden« bezieht, ist allerdings schon fast unverschämt. Denn die afghanische Regierung hat die europäischen Länder, darunter auch Deutschland, bereits vor Wochen explizit dazu aufgefordert, ab dem 8. Juli 2021 wegen der eskalierenden Gewalt und der dritten Corona-Welle bis Oktober 2021 nicht mehr in das Land abzuschieben. Anstatt dem zu entsprechen und gemäß des »Gebots der guten Zusammenarbeit« Abschiebungen auszusetzen, haben Deutschland und Österreich aber sogar diplomatischen Druck ausgeübt, um Abschiebungen durchzuführen.
Andere Länder wie Norwegen, Finnland und Schweden haben entsprechend der Aufforderung Afghanistans Abschiebungen in das Land vorläufig ausgesetzt. Selbst die umstrittene Grenzschutzagentur Frontex will aktuell keine Abschiebungen in das Land durchführen. Deutschland steht mit seiner fast trotzigen Haltung, Abschiebungen nach Afghanistan auf Biegen und Brechen durchzusetzen, international zunehmend isoliert da.
Hitzige Debatte in Deutschland geht an afghanischer Realität vorbei
Hierzulande wurde das Thema durch den Abschiebungsversuch am 3. August zum Wahlkampfthema. Dabei ist schon das erste Problem, dass die offizielle Entscheidungsgrundlage, der Lagebericht des Auswärtigen Amts, die jüngsten dramatischen Entwicklungen nicht abbildet. Die im Juni fertig gestellte Aktualisierung des Lageberichts ist nur auf Stand Mai 2021.
Einen solchen Lagebericht zu erstellen, ist vom SPD-geführten Auswärtigen Amt im besten Fall peinlich, im schlimmsten Fall politisches Kalkül.
Den Zeitraum seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen – mit dem die nach wie vor andauernde erfolgreiche Offensive der Taliban begann – deckt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes damit nicht ab: Anfang Mai hatten die Taliban noch 32 Distrikte in ihrer Gewalt, mittlerweile sind es über 200 von insgesamt 388 Distrikten. Lediglich 15 davon vermochten die Regierungstruppen zurückzuerobern. PRO ASYL hat dies ausführlich hier kommentiert.
Einen solchen Bericht zu erstellen, ist vom SPD-geführten Auswärtigen Amt im besten Fall peinlich, im schlimmsten Fall politisches Kalkül. Denn so wird sich in der deutschen Politik auf einen nicht mehr aktuellen Stand der Lage im Land berufen. Dabei ist das Vorrücken der Taliban live in den Medien zu verfolgen.
Zur Straftäter-Debatte
In der öffentlichen Diskussion wird aktuell vor allem ins Feld geführt, dass nur Straftäter von den Abschiebungen betroffen wären. Das stimmt schlichtweg nicht – in der Vergangenheit wurden auch Afghanen abgeschoben, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen (die unterschiedlichen Richtlinien der Bundesländer dazu finden sich in unseren Beratungshinweisen). Dies ist jedoch aus menschenrechtlicher Sicht gar nicht der entscheidende Punkt; was zählt, ist die Sicherheitslage in Afghanistan.
Zwar kann eine Person ihren Aufenthaltstitel wegen einer Straftat verlieren (das nennt man eine Ausweisung), doch beantwortet dies nicht die Frage, ob sie auch abgeschoben werden darf. Die Abschiebung ist die zwangsweise Umsetzung der Ausreisepflicht. Bei der Abschiebung ist Deutschland verpflichtet zu prüfen, ob der Person im Herkunftsland eine Gefahr für Leib und Leben bzw. die Gefahr von Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung droht.
Das ergibt sich u.a. aus dem Folterverbot des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Folterverbot gilt als eines der wenigen Menschenrechte absolut – es darf also nicht eingeschränkt werden. Wenn die Sicherheitslage in einem Land so gefährlich ist, dass bei Abschiebung eine Art. 3 EMRK-Verletzung droht, dann spielt es keine Rolle, ob die Person zuvor eine Straftat begangen hat oder nicht. Das hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte regelmäßig in seinen Urteilen fest.
Dringender denn je: Abschiebungsstopp für Afghanistan!
Es ist das klare Gebot der Stunde, jetzt die Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen. Wenn die Bundesregierung diesen Schritt nicht unternimmt, stehen die Bundesländer in der Pflicht, entsprechende Abschiebungsstopps zu erlassen. Diese Möglichkeit eröffnet ihnen der § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG:
Wenn die Sicherheitslage in einem Land so gefährlich ist, dass bei Abschiebung eine Art. 3 EMRK-Verletzung droht, dann spielt es keine Rolle, ob die Person zuvor eine Straftat begangen hat oder nicht.
»Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.«
Erst nach einer Verlängerung um weitere drei Monate, also nach sechs Monaten, bedarf es dem Einvernehmen des BMI (§ 60a Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
PRO ASYL fordert sowohl von der Bundesregierung als auch von den Landesregierungen, Abschiebungen nach Afghanistan sofort zu stoppen!
(wj)